Conny Kirsten

Die Schritte

 

Er stand am Fenster und hörte Schritte auf der Treppe. Sofort ging er in sein Zimmer, welches im Keller lag. Er war 10 Jahre alt und hatte einen Kanister in der Hand, in der rechten, wenn er sich so recht zurückerinnerte und in der linken ein Feuerzeug. Und ohne das Wissen seiner Familie hatte er beschlossen seine Mutter zu töten. Er konnte nicht mehr, denn er war am Ende seines gesunden Kinderverstandes angelangt. Aber ein Kind war er schon lange nicht mehr. Er fühlte sich als falsch programmierte Maschine, stets einsatzbereit und gebrauchsfertig, nur noch funktionierend. Doch als ihre Schritte sich seiner Tür näherten, verließ ihn plötzlich der Mut.

Warum hatte er sie eigentlich nicht getötet? Was hatte ihn in letzter Sekunde davon abgehalten? Etwas hatte resigniert, wie immer schon. Seine Maschinerie war zu gut geölt, um einfach auszutilten. Er stellte den Kanister hinter sein Bett und seine Hände zitterten ein wenig.

"So fühlt sich ein Mörder," dachte er noch. Seltsam, dabei wollte er doch nur ein bisschen Frieden.

Schritte erklangen vor seiner Tür, die Klinke wurde heruntergedrückt und seine Mutter stand im Türrahmen, wie immer eine aparte Erscheinung, eigentlich. Redegewandt, gute Kleidung und ausgezeichnete Erziehung, Ihre Familie hatte Geld. Sie schaute ihn an und runzelte die Stirn. "Ist irgendetwas?", wenn sie das wenigstens fragen würde! Doch nein, nichts, absolut nichts wurde gefragt, nichts bemerkt, wie nie etwas bemerkt werden würde, nie etwas bemerkt worden war.

"Hat dein Vater den Schlüssel zum Schrank?," ihre Stimme war eisig. "Ja," murmelte er resigniert. "Scheiße..." Sie drehte sich um und rannte die Treppe hoch. Er hörte ihre Schritte durch die Decke. Es waren hastige Schritte, er konnte sich vorstellen, wie ihre suchenden Hände Sachen durchwühlten, immer zittrigere Hände auf der alles vergessenden Suche.

Sie zitterten auf jeden Fall mehr als seine. Er, der töten wollte, töten, damit alle wieder leben konnten, der täglichen Hölle entkommen konnten.

Er hörte jetzt, wie sie Möbel verrückte, dann kamen ihre Schritte wieder zur Treppe, liefen hastig hinunter und  führten zielstrebig nach nebenan zum Werkzeugraum. Er hörte sie suchen. Dann ein triumphierender Aufschrei. Schritte, die die Treppe hinaufrannten, nach oben ins Wohnzimmer zurückliefen.
Ein lautes splitterndes Krachen durchzog das Haus. Ein Klirren ertönte. Danach Stille. Absolute Stille.

Er saß wie erstarrt auf seinem Kinderbett. Seine Augen waren weit aufgerissen, seinen Atem, den er so lange angehalten hatte, stieß er krampfhaft aus. Dann ließ er sich nach hinten aufs Bett fallen. Er starrte an die Decke. Dort über ihm im Wohnzimmer lag jetzt seine Mutter auf dem Sofa. In ihrer Hand hielt sie eine Flasche. Ihre Augen waren wohl geschlossen. Sie hatte die Welt wieder ausgeschlossen. Auch ihren Sohn.

"Mutter", flüsterte er leise.

Irgendwann später, viel später würde er ein Lied von Joy Division hören und sich an diesen Augenblick erinnern, an die vielen Augenblicke, die alle so einsam waren wie dieser.

"Isolation".

 

 

 

 

Diese kleine Geschichte beruht leider nicht auf Fiktion, diesen verzweifelten Jungen gab es tatsächlich. Er hatte Jahre gebraucht, um leben zu wollen, leben zu können, um nicht mehr um die Liebe zu trauern, die seine Mutter ihm nie geben konnte. Heute geht es ihm gut. Ihr nicht.Conny Kirsten, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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