Claudia Lichtenwald

Systemabsturz

Der Tag an dem seine Festplatte kaputtging war der krönende Abschluß einer
Zeit, in der alles für ihn schief zu laufen schien. Es war ein düsterer
Freitag Abend, als sie völlig unerwartet abstürzte, der Bildschirm schwarz
blieb und alle seine Versuche, sie dazu zu bewegen wieder ordnungsgemäß zu
arbeiten, fehl schlugen. So saß er in seiner Wohnung bis zum Morgengrauen
und wartete auf Hilfe, und in dieser Zeit, fügten seine unbeholfenen
Reparaturbemühungen seiner Festplatte noch mehr Schaden zu. Natürlich war
dies nicht beabsichtigt. Aber er war nun mal kein Fachmann. Bisher hatte er
nie derartige Sorgen gehabt, und er hatte nicht damit gerechnet, dass dies
einmal der Fall sein würde.
Das Problem war, dass sein ganzes System ohne die auf der Festplatte
gespeicherten Informationen den Dienst versagte. Das noch größere Problem
aber bestand darin, daß er ohne dieses System völlig aufgeschmissen war.
Nichts lief mehr, nur weil eine kleine Festplatte streikte.
Viele Experten versuchten daraufhin ihm zu helfen, untersuchten das corpus
delicti, stellten ihm unzählige Fragen, beratschlagten sich untereinander.
Wilde Spekulationen wurden aufgestellt, manche von ihnen grotesk anmutend,
manche realistisch klingend. Doch kein Experte fand die Wurzel des Übels und
somit die Lösung des Problems, da nur er die ganze Geschichte kannte. Und
er, auf diesem Gebiet unwissend wie er war, war sich dessen nicht einmal
bewußt.
Als er seine Festplatte damals bekam, war alles noch in Ordnung. Brandneu,
frisch aus der Fabrik lief sie einwandfrei, denn sie gehörte keineswegs zu
den wenigen Exemplaren, die schon fehlerhaft das Werk verließen. Ihre
enorme Speicherkapazität lud geradezu dazu ein, neue, komlexere Programme
aufzuspielen und ihre Leistungsfähigkeit noch zu erweitern. Unzählige
dieser Programme gab es, zu viele für einen Laien, um die geeigneten
herauszufinden.
Eltern und Freunde erboten selbstlos ihre Hilfe, Lehrer, Bekannte, Nachbarn
und Kollegen. Doch was er damals noch nicht wußte war, dass sie alle selbst
wenig kompetent waren. Hätte er einen Blick auf ihre eignen Festplatten
werfen können, hätte er festgestellt, daß voller kleiner und großer Fehler
waren, Fehler, die sich im Laufe der Zeit angesammelt und multipliziert
hatten.
Fehler die sie nacheinander auch auf seine jungfräuliche Festplatte
übertrugen, nicht aus bösem Willen, aber es geschah. Und aufgrund seiner
mangelnden Erfahrung fiel es ihm nicht auf. Auch die Fehlinformationen, die
der tägliche Gebrauch mit sich brachte schlichen sich unbemerkt ein.
Die Zeit verging, bald konnte er sich ein Leben ohne die winzige Festplatte,
die ihm von Tag zu Tag vertrauter wurde, nicht mehr vorstellen. Sie besaß
die erstaunliche Fähigkeit, Fehler soweit zu überlesen, daß man ihre
Existenz nicht bemerkte, aber sie konnte die Fehler nicht entfernen. So
häufte sich Fehler auf Fehler, und den kleinen Aussetzern und
Ungereimtheiten, die daraus entstanden, maß er keine größere Bedeutung zu.
Doch bald entwickelte er eine weitere schadhafte Gewohnheit, die
ursprünglich aus dem Wunsch heraus entstand, die Festplatte noch zu
erweitern, flexibler und abwechslungsreicher zu gestalten.
Im Internet erstand er teure Programmdateien von dubiosen Anbietern und
spielte sie auf seine Festplatte auf. Immer regelmäßiger tat er dies, und
als schließlich versteckte Viren von der Platte Besitz ergriffen hatte, war
ein Punkt erreicht, an dem seine Festplatte Fehler nicht mehr überlesen
konnte, so zahlreich waren sie geworden.
Völlig durcheinander war die Festplatte geraten, völlig unfähig weiterhin
ihre Arbeit zu tun.
Sie funktioniert bis heute nicht störungsfrei, und es bleibt zu hoffen, daß
er an einen Menschen gerät, der sowohl die Fehler findet, als auch neue,
heilsame Dateien installiert.
Leider sind solche Menschen rar, denn viele von ihnen (man nennt sie auch
Psychologen) haben eigene Fehler auf ihrer Festplatte, von denen sie selbst
nichts wissen.


März 2002

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