Detlev Eilhardt

Sie hatte andere Pläne

Knöpfte den Mantel zu. Der Wind zog von Westen in kleinen Böen über das graue Wasser, die Sonne wetteiferte mit den Wolken um die Vorherrschaft. Fielen die Strahlen einmal überraschend in ihr Gesicht, hob sie den Kopf, um die Wärme zu genießen. Ohne Lächeln. Schüttelte vielleicht ein wenig den Kopf, um die schwarzen Locken nach hinten zu werfen oder benutzte die rechte Hand, um eine Strähne hinter das Ohr zu klemmen. Das tat sie auch immer, wenn er mit ihr sprach. Ihre Gesichter waren sich selten frontal zugewandt, meist sprach er in Richtung ihres rechten Ohres. Über den See flog keine Möwe – es war sehr still. Eine kleine Gruppe brauner Enten saß auf dem Floß, größtenteils die Schnäbel unter die Flügel geschoben. Starr, statisch. Um diese Jahreszeit waren auch keine Segelboote mehr unterwegs; es war zu kalt.

Barbara wollte lediglich über ihre Zukunft sprechen – über ihre gemeinsame. Im Verlauf des Gespräches zog sie immer weiter die Handbremse, wollte in andere Fahrwasser, aber Helmut verbog ihre Sätze, als habe er auf diese Gelegenheit gewartet. Jede Frage, jede Antwort steuerte er zielgerichtet auf die Summe seiner Erkenntnisse. Das die Beziehung für beendet anzusehen sei und sie die Schuld trage. Dabei sprach er es nicht einmal aus. Niemals kam dieses Wort Schuld über seine Lippen oder sie hatte es nie gehört. War zu beschäftigt mit ihren Gedanken. Außerdem sprach Helmut oft sehr leise. Er habe das einmal in einem Buch gelesen. Anleitung to be a better human. Was immer er damit verband – ihre Freunde hatten manchmal darauf hingewiesen, daß sie ihn schlecht verstünden – er rede so leise. Das galt als Schwäche. Helmut argumentierte dann immer, es läge an ihnen, sie seien eine laute Welt, man müsse nicht immer so schreien, es sei eine Unhöflichkeit, so laut zu reden. Verstört oder betroffen wurde das Gespräch dann beendet, verlegen griffen die Finger nach dem Glas, nach der Zigarette. Helmut ärgerte sich dann oft, warum er wieder belehrend wirkte, aber vertrat er nicht einfach genau so vehement seine Ansicht wie die anderen? Sie mochte diese Stimmung nicht, in der er die Gesellschaft stürzte. Sie mochte ihn dann nicht einmal ansehen, denn sein Lächeln wirkte verkrampft, obwohl er damit eine andere Stimmung auszudrücken beabsichtigte.

Seit einem Jahr bemühte sich Barbara nicht mehr, seine Art zu verstehen. Seine Art, wie er die Welt sah. Obwohl seine Sichtweise nicht einmal sehr von der allgemeinen abwich, aber in seiner Ausführung strich er oft Nebensächlichkeiten hervor, denen zuzuhören ermüdete. Oder hatte er einfach zu oft die gleichen Sätze benutzt. Sätze, die nach Zeitung, nach Lehrbuch klangen und manchmal sah sie seinen Zeigefinger wie einen Taktstock. Obwohl er niemals die Finger belehrend erhob oder verwendete.

Am Ufer gegenüber reflektierten die weißen Unterseiten der Pappelblätter die Sonne, flirrend und flimmernd ragten die Bäume aus dem fahlen Schilf. Zwischen den Steinen hatte sich Seegras verfangen, braun und faul riechend. Barbara lehnte sich gegen die schorfige Rinde einer alten Linde, wendete ihr Gesicht zur Sonne und erinnerte sich an Helmut, wie sie hier letzten Winter standen. Sie an ihn gelehnt und er sprach von den Dingen, die ihn berührten. Da flossen seine Worte blumig über die Lippen, er wurde nie müde, die Dinge von allen Seiten zu erläutern, es langweilte ihn niemals, er vergaß niemals einen Aspekt. Sie genoß jedes seiner Worte, wie ein Gesang über die Zukunft, über seine, über ihre oder die gemeinsame. So leicht nachzuvollziehen, so ohne Schwierigkeiten, als gäbe es keine Steine oder einen täglichen Alltag, den es zu bewältigen galt. Eine rosa Brille, in der sie beide wie strahlende Sterne für immer durch die Welt segelten. Barbara sah seine Augen, wie sie in der Ferne nach der Wahrheit suchten, doch die Wirklichkeit machte ihm Angst.

Sie erinnert sich nicht einmal mehr an die Zeit, als es sich in eine Umkehrung verwandelte – plötzlich keine Zusammenhänge, Mißverständnisse, Zweifel, Vergleiche und Fragen. Was tat er Zuhause, wenn sie nicht bei ihm weilte, wenn sie anrief und nach seiner momentanen Tätigkeit fragte. Er male, spiele Gitarre, lese oder schaue zum Fenster hinaus, von dem aus er die Flucht der Wolken über die Berge verfolge.

Verfolgen. Beide auf dem Weg in die Vorstellungskraft eigener Welten – jeder in die Seine – ein kurzer Blick in die Phantasie des anderen. Gab es ein Verständnis, ein Verstehen, ein Erkennen, ein gemeinsamer, deckungsgleicher Grundriß, oder fransten die egoistischen Ufer so weit aus, daß keine Basis mehr erkennbar blieb.

Barbara sog den Rauch der Zigarette widerlich tief in ihre Lunge, um dem unterschwelligen Unbehagen eine Berechtigung zu geben. Was er immer verabscheute, ohne es auszusprechen, aber sie las es in seinen Augen, seiner Zaghaftigkeit, sie nach dem Rauchen zu küssen. Es war vorbei. Sie hatten gelernt – von einander – die Lehrstunden abgeleistet. So wie der See sich leerte, nur noch ein paar schwarze Blesshühner auf seiner Oberfläche zurückließ – ein paar Narben des Sommers. Ein paar Erinnerungen, Steine im Brett – eine Ente hob ab vom Floß, flog knapp über ihren Kopf und eine Feder wirbelte durch den Wind, verfing sich in ihren schwarzen Locken. Es bleibt immer etwas zurück.

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Detlev Eilhardt).
Der Beitrag wurde von Detlev Eilhardt auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Detlev Eilhardt als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Nicht ohne Leoni von Heiger Ostertag



Ein Tag im Februar des Jahres 2006. Der EDV- Fachmann Klaus Gruschki kann kaum ausdrücken, was er empfindet, als er seine neugeborene Tochter Leoni im Arm hält. Seine Frau Michaela und er sind die glücklichsten Menschen der kleinen, süddeutschen Provinzstadt und voller Vertrauen in die gemeinsame Zukunft. Doch die Beziehung und das Glück zerbrechen. Auf einmal ist Klaus allein und Michaela mit Leoni verschwunden. Erst nach langer Suche und mit großen Mühen gelingt es dem Vater, Mutter und Kind wieder zu finden und den Kontakt zu Leoni neu herzustellen. Dann entzieht ein bürokratischer Akt dem Vater die gemeinsame Sorge fürs Kind. Gruschki weiß sich nicht anders zu helfen, als seinerseits mit der Tochter heimlich unterzutauchen. Nach einer dramatischen Flucht wird er in Österreich verhaftet und Leoni ihm gewaltsam entrissen. Er kommt in Haft und wird als Kindesentführer stigmatisiert. Doch Klaus Gruschki gibt den Kampf um sein Kind und um Michaela nicht auf …

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Zwischenmenschliches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Detlev Eilhardt

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Bruder von Detlev Eilhardt (Abschied)
Tod mit etwas Humor aufbereitet. von Norbert Wittke (Zwischenmenschliches)
Regen in Posen von Rainer Tiemann (Wie das Leben so spielt)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen