Volker Winkler

Nachtgedanken

Da sitze ich – auf dem Boden meines Flurs. Ich weine. Ich weiß nicht genau, warum ich weine, doch es fühlt sich gut an, wie ein Liegestuhl nach einer langen Wanderung, wie die Dunkelheit nach einem ausgiebigen Sonnenbad. Manchmal muß man weinen. Es ist auf seine Art reinigend, wohltuend und doch traurig.
Ich habe gar keinen Grund traurig zu sein: Ich habe ein Dach über dem Kopf, einen Job, ein Auto, etwas Geld – und das über alle Maßen schönste, was man auf dieser Welt besitzen kann: Die Liebe meiner Freundin, meiner Verlobten Claudia. Sie ist das wundervollste, was mir je widerfahren ist, so wundervoll, daß ich darüber fast vergessen habe, wie ich mich als Single fühlte. Wie sehr mich die Einsamkeit zernagte, das Gefühl mit niemandem reden zu können, immer in der Furcht, Dinge zu erleben, die passieren und nur in meinem Geist weiterleben. Man kann versuchen, sie zu erzählen, Ereignisse zu schildern, Gefühle zu beschreiben, doch es wird nie einen Menschen geben, der weiß, wie die Luft an jenem Tag schmeckte und wie der kleine Pinscher mich fast in die Flucht geschlagen hätte. Niemand weiß um das heißprickelnde Gefühl beim „Genuß“ der 50°C warmen Limonade, die vier Stunden Zeit hatte, sich in meinem Auto aufzuheizen, das seinerseits in der brüllenden Mittagssonne zum Ofen geworden war. Niemand lacht mit mir bei dem Gedanken an meinen Ärger über den nicht funktionierenden Fotoapparat. Sein Ausfallen wird zur Geschichte, erzählt, um vergessen zu werden.
All diese Gefühle schwirren in meinem Kopf, jetzt, da der Fernseher das Bild ausblendet und mit einem leisen Klacken in den Standby-Modus schaltet. Es ist still, dunkel. Ich höre das kaum wahrnehmbare Rascheln meiner Kaninchen, dem Symbol meiner einsamsten Stunden, gemacht, um meinen Geist in Melancholie zu tauchen.
Doch ich weine längst. Ob eines Dramas? Einer Liebesgeschichte? Eines tragödienhaften Filmhöhepunktes? Nein! Einzig die Situation einer Serienheldin hat mich in diese traurig-schöne Situation gelenkt. Ich sehe sie vor mir. Die Tränen rollen über ihre Wangen. Ein Mann sitzt neben ihr. Sie haßt ihn, sagt sie. Und doch  möchte sie in seine Arme sinken und ihr nasses Antlitz an seine starke Brust schmiegen. Aber sie kann nicht, unfähig, in einer Beziehung, in zärtlichem Kontakt aufzugehen, unfähig, sich aus der zerstörerisch über ihr schwelenden Einsamkeit in die heilsame Berührung der energiespendenden Zweisamkeit fallen zu lassen.
Claudia schläft schon. Meine Sehnsucht nach einer Berührung ist fast unerträglich. Ich brauche sie, jetzt und hier, um in einer Umarmung das Glück wieder zu fassen. Der Fernseher ist aus. Doch das Schicksal dieser Frau, obgleich es so verschieden von meinen Erlebnissen und doch gleich zu sein scheint, obgleich ihr Charakter reiner Fiktion entstammt, berührt mich doch so tief, daß eine Träne wie ein Symbol der Narbe auf meiner inzwischen verheilten Seele über mein Gesicht rollt.
Es ist wichtig, hin und wieder traurig zu sein. Wichtig, wie das Schwarz, um Weiß zu sehen, wie Härte, um Güte schätzen zu lernen. Es ist wichtig, um das Glück des Lebens zu erfahren, das Glück, das man erst erkennt, wenn es entschwunden scheint, wie der Wert des Wassers erst in der Wüste in ungeahnte Höhen steigt.
Was nützt ein Barrel Channel Nr. 5 oder Hunderttausende Gallonen Rohöl. Wie Reichtum und Macht verlieren sie ihren Wert, wenn Liebe und Verständnis dem Glauben gewichen sind, irgendetwas könne sie ersetzen. Es ist schmeichelnd, mächtig zu sein, freilich beruhigend, einen siebenstelligen Betrag auf dem Kontoauszug zu bewundern und zweifellos befriedigend, immer die erste Geige zu spielen, und seien es auch die schrägsten Töne, welche die Aufmerksamkeit anderer erregen.
Steht man jedoch in der Wüste des immateriellen Lebens, zählt nur das Wasser der Seele – Die Liebe!

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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