Uta Maria Wutte

Die Holzstiege zum See

Therese versperrt die hölzerne Eingangstüre
zu ihrem Haus am See. Sie steckt den Schlüssel bedächtig in ihre Manteltasche.
Langsam dreht sich die alte Frau um und hinkt, schwer auf einen Gehstock
gestützt, den vereisten Steinplattenweg entlang, der durch den Garten mit altem
Baumbewuchs zum See führt.
Die Hüfte der alten Frau
schmerzt, aber sie achtet nicht darauf. Gedankenverloren geht sie unter kahlen
Kastanienbäumen weiter. Therese bleibt stehen und sieht eine Weile dem Spiel der
Schneeflocken zu. Ein eisig kalter Wind umfängt sie und lässt ihre knöchernen
Finger erstarren. Sie hasst den Winter, sie hat ihn schon ihr ganzes Leben lang
gehasst. Die Kälte, die sich langsam jedes Körperteiles bemächtigt, die schwer
auf dem Gemüt lastet und alles ringsum erstarren lässt, den Schnee, der die
Natur zudeckt, um oberflächlich Ruhe und Frieden vorzugaukeln.
Auf ihren Stock gestützt, wandern
die Gedanken der alten Frau zurück. Sie glaubt im Schneegestöber das Lachen
ihrer zwei Kinder zu hören, die im Schnee tollen und sich nicht einigen können,
einen Schneemann oder eine Schneefrau zu bauen. Therese kann ihren Mann durch
den Garten stapfen sehen, und im Nu ist eine richtige Schneefamilie entstanden
und alle betrachten stolz ihr Werk.
Therese lächelt, ihre Augen
strahlen noch immer Wärme aus, auch wenn ihr Blick sehnsuchtsvoll in die Ferne
gerichtet ist. Silke und Thomas, ihre Kinder lieben den Winter seit jeher. Als
sie klein waren, konnten die zwei stundenlang, warm eingepackt in dicke Schianzüge,
im Schnee spielen, während für Therese der Winter das lange Warten auf den
Frühling bedeutete. Nichts konnte sie glücklicher machen, als die ersten warmen
Sonnenstrahlen, die den Schnee schmelzen lassen und das Aroma wohltuend
duftender Frühlingsblumen.
 
Schwerfällig geht Therese den Weg
weiter. Eine alte, morsche Holzstiege führt zum Ufer des Sees hinunter. Die
Bretter sind vereist, stellenweise ausgebrochen und Therese hätte sie schon
längst auswechseln lassen sollen.
 „ Wozu?“, denkt sie verbittert. „Kaum jemand
benutzt diese wurmstichige Holzstiege noch.“
Die alte Frau ergreift mit ihren
klammen Fingern das Holzgeländer und beginnt vorsichtig die Bretterstufen
hinunterzusteigen.
Wie oft waren sie früher diese
Stiege hinuntergeeilt, mitunter nur jede zweite Stufe nehmend, den Holzsteg
entlanggelaufen und übermütig in das herrlich kühle Wasser des Sees gesprungen.
Silke und Thomas genossen so jeden Sommer ihrer Kindheit am See und Phillip,
ihr Mann, liebte es, sich nach der Arbeit im Wasser abzukühlen.
Therese setzt sich unter
Schmerzen ächzend auf eine Stufe und betrachtet die Umgebung. Der Wind zaust
ihr ergrautes, aber noch immer dichtes Haar. Sie zieht ihren alten Mantel enger
um sich, doch die Kälte lässt sich nicht vertreiben. Still und verlassen liegt
eine große, glitzernde Eisfläche vor ihr.
Sie hatte diese Stiege  mit Phillip selbst entworfen und sie fertigten
sie in vielen Arbeitsstunden auch zusammen an. Jedes einzelne Brett schnitten
sie zu, hobelten, verschraubten und befestigten es. Das Seegrundstück hatten
sie von einem Erbe gekauft, als Therese ihr erstes Kind Thomas erwartete.
Einige Jahre brauchten die zwei, um die alte Villa wieder herzurichten. Es
dauerte unzählige Arbeitsstunden, aber nach und nach entstand ein schmuckes
Anwesen, wo sich die kleine Familie wohlfühlen konnte. Diese Bretterstiege bedeutete
das Ende ihrer Bemühungen. Ein eigener Zugang zum See, einen Luxus, für den all
die Mühen sich lohnen sollten.
Hatte all die Arbeit sich
wirklich gelohnt? Therese streicht fast behutsam mit ihren kalten Fingern über
das Holz. Wie gerne hätte sie Phillip danach gefragt. Ihre Einsamkeit wird ihr
wieder schmerzlich bewusst und sie schiebt die Gedanken an ihren längst
verstorbenen Mann beiseite.
 
Silke war schon immer sehr
musikalisch gewesen, doch war ihr Wunsch Klavier spielen zu lernen etwas
überraschend für ihre Eltern. Therese musste ihren Mann erst überreden, aber
sie setzte sich, was die Kinder betraf, wie immer durch und so wurde das
Mädchen in der Stadt zum Klavierunterricht 
angemeldet. Für Therese war es eine Abwechslung einmal in der Woche in den
kleinen Ort zu fahren, und sie freute sich ebenso auf die Unterrichtsstunden
wie Silke.
Anfangs saß Therese mit ihrer
Tochter wartend im Musikzimmer und beide lauschten dem Klavierspiel anderer
Kinder. Sie wohnte den Übungseinheiten bei und der Musiklehrer zeigte ihr,
worauf Therese beim Üben ihrer Tochter zu Hause achten sollte.
 
Ein flüchtiges Lächeln huscht
über das Gesicht der alten Frau, und ihr ist, als könnte ihr die Kälte plötzlich
nichts mehr anhaben. Ihre Hüfte beginnt unerträglich zu schmerzen, aber Therese
achtet nicht darauf.
  
Bernd war ihr von Anfang an
sympathisch gewesen. Seine beruhigende, warmherzige Art gefiel ihr, seine
Geduld mit den ungeübten, musikalischen Versuchen der Schüler hatte etwas
Rührendes an sich. Oft beobachtete sie seine Hände, die fast zärtlich die
Tasten streicheln zu schienen, wenn er seinen Schülern etwas vorspielte und
manchmal vergaß er dann, dass die Kinder staunend zuhörten.
„Frau Selden, setzen sie sich zu
uns, “ meinte Bernd eines Tages und lächelte Therese an.
 Sie stand erstaunt auf und setzte sich neben
Bernd an das Klavier. Der Klavierlehrer begann ihr zu erklären, wie Silke ihre
Fingerübungen spielen sollte, zeigte ihr, wie sie die Hände des Kindes stützen konnte,
worauf sie achten musste.
Sein Unterarm berührte sachte den
ihren, und erschreckt zuckte Therese zusammen, suchte jedoch sofort wieder
seine Nähe. So flüchtig diese Berührung auch gewesen war, Therese spürte seine
feinen Härchen den ganzen Nachmittag auf ihrer Haut prickeln und war verwirrt
festzustellen, dass diese Erinnerung in ihr Gefühle auslösten, die der ersten
zaghaften  Verliebtheit eines Teenagers
entsprachen. Klopfenden Herzens dachte sie oft an Bernd und schalt sich selbst
töricht. Sie schob die Gedanken an ihn beiseite und widmete sich wieder ihrer
eigenen Arbeit.
 Freundlich, mit einem warmen Händedruck
begrüßte der Klavierlehrer Therese die darauf folgende Woche. Sein freundliches
Lächeln, die Klarheit seiner strahlenden Augen nahmen die junge Frau sofort
wieder gefangen.
„Ihre Tochter ist sehr begabt, “
meinte Bernd nach der Klavierstunde.
Er musterte  Therese eine Weile. Bernd war einen Kopf
größer als sie und sein schlanker, drahtiger Körper machte einen durchtrainierten
Eindruck. Therese musste an ihre Fettpölsterchen denken, aber sie konnte sie
gut unter geschickt ausgewählter Kleidung verstecken. Aber es würde ihr nicht
schaden, ein Wenig abzunehmen. Ansonsten war sie mit ihrem äußeren
Erscheinungsbild zufrieden. Lange braune Haare umrahmten ein hübsches,
fröhliches Gesicht. Sie verwendete nur wenig Make up, um ihre großen, blauen
Augen etwas hervorzuheben.
„Eigentlich kann ich das nicht
beurteilen, aber ich finde Silke macht sehr große Fortschritte, “ erwiderte
Therese und lächelte.
“Ja, sie ist sehr fleißig. Man
merkt, dass ihr das Üben Spaß macht. Übrigens…, “ Bernd  streckte ihr seine Hand hin.
 “…ich heiße Bernd.“
Therese ergriff sie.
„ Ich heiße Therese, aber alle
nennen mich Tess.“
Bernd nickte und behielt Thereses
Hand eine Spur zu lange in der seinen.
Klopfenden Herzens und bestens
gelaunt verließ sie das Musikzimmer.
„Bernd ist nett, oder?“, fragte
Silke ihre Mutter.
Sie nickte.
„Bernd ist mehr als nur nett, “dachte
sie und fühlte sich beschwingt wie eine Feder.
 
Die greise Frau steht
schwerfällig auf. Ihre grauen Haare flattern im eiskalten Wind. Eine Träne
macht sich ungewollt selbstständig und wandert über ihre geröteten Wangen.
Ärgerlich wischt Therese sie mit einer heftigen Bewegung fort. Wenn man noch
jung ist, weiß man nichts von der Einsamkeit des Alters. Doch diese furchtbare
Einsamkeit macht das Abschied nehmen leichter. Auf ihren Stock gestützt, die
andere Hand am kalten Geländer, steigt Therese die Holzustufen weiter hinab zum
See.
 
Tess freute sich jedes Mal mehr
auf die Klavierstunden, als Silke selbst, obwohl das Mädchen stets mit
Begeisterung bei der Sache war. Bernd nahm sich nach dem Unterricht oft noch
die Zeit mit Therese zu plaudern. Auch wenn ihre Gespräche sich um nichts Wichtiges
drehten, genoss Tess die ungezwungene Atmosphäre und die Gesellschaft Bernds.
„Ich freue mich auf den Frühling,
“ meinte Therese.
„Ja, diese Kälte ist einfach
schon unerträglich, “ schmunzelte Bernd.
„Na, Silke! Hast du Lust bei
unserem Karwochenkonzert mitzumachen? Normalerweise laden wir Schüler des
ersten Jahrgangs dazu nicht ein, aber bei dir könnten wir eine Ausnahme machen.
Natürlich nur, wenn deine Mutter nichts dagegen hat.“
Bernd streichelte dem Mädchen
aufmunternd über die Wange, und Therese war es, als hätte er die ihre berührt.
Fragend blickte Silke zu Therese.
„Bitte, Mom! Ich darf doch, oder?“, bettelte sie.
„Wenn du möchtest, natürlich. Dir
muss aber klar sein, dass du dafür eine Menge üben musst,“  antwortete Tess.
„Super, danke Mom.“
Silke stellte sich auf ihre
Zehenspitzen und umarmte ihre Mutter.
Bernd holte einige Notenblätter und
gab sie Silke. „Schau dir zu Hause dieses Stück an, aber sei so lieb und kopier
schnell die Blätter, ich brauche sie nämlich noch.“
Das Mädchen schnappte sich die
Noten und war auch schon bei der Türe draußen.
„Hoffentlich überforderst du sie
nicht, Bernd.“
Er nahm Thereses Hand und hielt
sie für einige Augenblicke fest.
„Nein, bestimmt nicht, du weißt,
dass Silke nicht nur sehr begabt ist, sondern auch die notwendige Konsequenz
beim Üben hat. Sie wird das schaffen. Außerdem ist das Stück nicht so schwer.“
Mit einem freundlichen Lächeln
sah er Therese in die Augen und sie hätte gerne ausgesprochen, was sie für
Bernd mittlerweile empfand. Tess sehnte sich nach seiner Freundschaft. Wie
gerne hätte sie ihn einmal außerhalb des Musikzimmers getroffen, sich mit ihm
bei einem Kaffee unterhalten oder zusammen ein Konzert besucht. Der plötzliche
Gedanke an Phillip und Thomas, die sicher schon zu Hause warten würden, riss
sie aus ihren Überlegungen. Verlegen 
schüttelte sie Bernd nochmals die Hand und verabschiedete sich mit
belegter Stimme.
„Ich muss gehen.“
„Wir müssen einige Übungstermine
mehr ausmachen. Ist dir das recht?“, fragte er noch.
„Natürlich, ich rufe dich an.
Tschüss!“
Therese verließ schweren Herzens
die Musikschule, während Bernd sich seinem nächsten Schüler widmete.
Am Abend war Therese ganz in
ihren Gedanken versunken, als Phillip sich zu ihr setzte. Er legte seinen Arm
um sie und Therese erzählte von Silkes Klavierstunde, und der Einladung zum
Karwochenkonzert.
Als Phillip sie zärtlich umarmte
und küssen wollte, war Therese nicht  bei
der Sache. Ihre Gedanken kreisten ständig um Bernd. Sie konnte ihren Gefühlszustand
selbst nicht erklären, war sie  doch eine
vernünftig denkende Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Realität
stand. Doch was war ihre Realität? Seit Jahren verheiratet, hatte sie zwei
wundervolle Kinder, ein großes Haus mit Garten. Phillip war ein sehr
liebevoller Mann, auch wenn er oft zu viel Zeit bei seiner Arbeit verbrachte
und mitunter dazu neigte, allzu schnell zornig zu werden. Tess konnte selbst nicht
verstehen, warum sie sich auf einmal für einen anderen Mann interessierte. Der
Gedanke an Bernd ließ sie wohlig erschauern.
Später, als Phillip schon
eingeschlafen war, schloss Therese die Augen, stellte sich Situationen vor, die
sie mit Bernd erleben würde und was er zu ihr sagen könnte, überlegte was sie
ihm erwiderte, auf welche Art und Weise sie ihm zeigen sollte, wie sehr sie ihn
gerne hatte. Die Tage bis zur nächsten Klavierstunde verbrachte die junge Frau
mit putzen. Bei der Hausarbeit durfte sie ihren Gefühlen und Gedanken freien
Lauf lassen, ohne sich gestört zu fühlen. Sie war alleine in ihrem großen Haus
und niemand konnte sie bei ihren Tagträumen stören.
 
Therese saß wie gewöhnlich auf
ihrem Stuhl im Musikzimmer und hörte dem Klavierspiel ihrer Tochter zu. Bernd
und Silke waren vollkommen vertieft in ihre Arbeit und niemand beachtete
Therese. Als die Übungsstunde zu Ende war, hätte Tess noch gerne so wie üblich
mit Bernd geplaudert. Doch der Klavierlehrer  nahm einen Stapel Noten von einem alten
Holzpult, verabschiedete sich schnell und verließ mit einer Entschuldigung das
Musikzimmer. Therese war verwirrt, eigentlich sogar beleidigt. Bernd hatte sich
keine Zeit für sie genommen, das war ja noch nie vorgekommen. Ihre Gedanken
wanderten im Kreis. Hatte sie einen Fehler gemacht? Hatte sie etwas Falsches
gesagt? Die junge Frau schüttelte den Kopf. Sie war eben doch nur die Mutter
einer von Bernds Schülerinnen. Wie konnte sie sich nur der Illusion hingeben,
etwas Besonderes zu sein? Sie musste Bernd vergessen und ihre Phantasien
beenden.
Traurig und verwirrt ging Therese
nach Hause und nahm sich vor, Bernd als das zu behandeln was er war, der
Klavierlehrer ihrer Tochter.
Die nächsten Wochen begegnete ihm
Therese sehr zurückhaltend. So sehr sie sich auch bemühte abzulenken, ihre
Gedanken und Gefühle kehrten immer wieder zu dem jungen Musiklehrer zurück.
Zeitweise, wenn sie in ihre Tagträume versunken war, schien sie völlig abwesend
zu sein. Phillip fiel das veränderte Wesen seiner Frau auf, doch so oft er auch
versuchte die Ursache herauszufinden, er fand keinen Zugang zu ihr. Je mehr er
sich bemühte mit Therese darüber zu sprechen, desto verschlossener wurde sie.
 
„Silke, komm, zieh dich um,“ rief
Therese über die Stiege in den oberen Stock.
„Wir fahren in einer Stunde los!“
„Ja, Mom, zuerst dusche ich
noch.“
Tess konnte Silkes Nervosität
spüren. Sie fieberte mit ihrer Tochter mit, war aber auch unendlich stolz auf
sie. Die junge Frau brachte Silke pünktlich in die Musikschule und traf sich
danach mit Phillip und ihrem Sohn. Thomas wollte unbedingt im großen
Konzertsaal der Schule in der ersten Reihe sitzen, da er schon gespannt auf das
Können seiner jüngeren Schwester war. So wollte es der Zufall, dass Therese
genau zwischen Bernd und Phillip saß.
Das Konzert wurde wunderbar.
Stolze Eltern lauschten ergriffen ihren musizierenden Kindern, überhörten die
ohnedies seltenen Fehler und belohnten ihre Sprösslinge mit großzügigem  Applaus.
Thereses Aufmerksamkeit gehörte
nicht nur Silke, sie beobachtete auch Bernd. Sie nahm jede seiner
Reaktionen in
sich auf, während sie Schulter an Schulter dem Konzert beiwohnten. Als
Silke
die Bühne betrat, drückte er ihre Hand, schmunzelte ihr zu und
meinte       aufmunternd:“ Du wirst
sehen, wie gut
sie ihre Sache machen wird.“
Bernd hatte Recht. Silke spielte
wunderbar und ihre Eltern waren unendlich stolz auf sie. Nach dem Konzert war
Bernd von Eltern und Kindern gleichermaßen umringt, sodass Tess es vorzog,
gleich mit ihrer Familie nach Hause zu fahren.
Wenig später läutete ihr Telefon
und Bernd gratulierte nochmals:“ Silke hat hervorragend gespielt, du kannst
stolz auf sie sein.“
Da spürte Therese, er würde
sicherlich nicht alle Eltern nach dem Konzert anrufen, und sie wusste, es war
etwas Besonderes, wenn auch nicht Greifbares zwischen ihnen.
„Danke, aber der Großteil ist
dein Verdienst. Du kannst stolz auf dich sein. Gute Nacht,“ erwiderte sie
glücklich.
„Gute Nacht, bis nächste Woche,
ich freue mich schon.“ Bernd legte auf.
 
Die alte Frau ist am Ende der Stiege
angekommen und sich am Geländer festhaltend bleibt sie stehen. Therese ist in
den letzten Jahren sehr mager geworden. Die Backenknochen stehen hervor und in
ihrem hageren Gesicht spiegelt sich die 
unerfüllte Sehnsucht ihres Lebens. Sie trotzt dem Wind und der Kälte,
obwohl ihre Hände bereits blau gefroren sind. Sie muss an Phillip denken. Wie
hatte er es nur so lange mit ihr aushalten können? Hatte er gespürt, dass ihr
Herz nicht nur ihm alleine gehörte? Therese schüttelt den Kopf. Eigentlich hat
sie Phillip in seiner Liebe zu ihr betrogen.
 
Es regnete in Strömen. Gerade
heute mussten Silke und Therese mit dem Bus in die Stadt zum Klavierunterricht
fahren.
„Soll ich euch nach Hause bringen?“

Therese nahm Bernds Angebot gerne
an. „Das wäre toll. Phillip ist beruflich in Deutschland und ich habe die ganze
Woche kein Auto.“
„Gerne, kommt.“
Während der Fahrt hinaus zum See
unterhielten sie sich über Bernds Beruf und Therese erzählte aus ihrem Alltag. Sie
genoss seine Nähe, er sah ihr oft in die Augen, und jedes Mal glaubte sie seine
Zuneigung zu spüren.
„Euer Haus liegt wunderschön.“
Bernd blickte sich bewundernd um.
Therese nickte. „Komm mit, ich
zeige dir das Anwesen. Magst du etwas trinken?“
„Nein, danke! Ich habe nicht so
viel Zeit. Ich muss am Abend noch eine Privatstunde geben und gleich zurück
fahren.“
„Schade, aber vielleicht hast du
ja irgendwann einmal Zeit für einen Kaffee.“ Therese konnte ihre Enttäuschung
nicht verbergen, während Silke voraus ins Haus lief.
„Das erste Jahr für Silke ist
bald um. Dann werde ich nicht mehr mit ihr in die Unterrichtsstunde kommen.
Entweder du lädst mich dann einmal zu einem ungezwungenen Kaffe ein, oder wir
werden uns nicht mehr so oft sehen, was mir unendlich leid täte.“
Tess war von sich selbst
überrascht, dass sie den Mut gefunden hatte, ihre Gedanken, obwohl etwas
unbeholfen, doch anzusprechen. Sie wusste, dass es ab dem zweiten Schuljahr für
die Eltern nicht mehr üblich war, dem Unterricht beizuwohnen. Die plötzlich
auftretende Stille war beklemmend.
Bernd wich ihrem Blick aus.
Therese drehte sich um, und ging Richtung Haus, ohne eine Antwort abzuwarten.
Bernd stieg wortlos in sein Auto und fuhr zurück, eine tief enttäuschte Tess
zurücklassend.
Als das Auto hinter den Bäumen
verschwunden war, schlug Therese den Steinplattenweg über die Stiege zum See
ein. Sie setzte sich auf die letzte Bretterstufe und betrachtete in der
aufkommenden Dämmerung das klare Wasser. Nebelschwaden zogen über den See und
die junge Frau fröstelte. Wie konnte sie nur so naiv sein. Sie verrannte sich
da zusehends in Phantasien. Wann hatte Bernd jemals aktiv Zuneigung oder ein
anderes annähernd dementsprechendes Gefühl gezeigt? Seine Freundlichkeit, seine
offene warmherzige Art, behandelte er nicht alle Eltern seiner Schüler so? Doch
dann musste sie an die zärtlichen Blicke, an seine flüchtigen Berührungen
denken, an den Telefonanruf nach dem Konzert. Sie konnte sich doch nicht so
irren, nein, sie wollte sich einfach nicht irren. Therese fiel auf, dass sie
nichts von Bernd wusste, sie kannte nur sein Leben als Musiklehrer. Was sein
Privatleben anging, hielt er sich stets bedeckt und Therese hatte bis jetzt nur
unbedeutende Kleinigkeiten herausgefunden. Grübelnd saß sie auf dem Holzbrett,
bis all ihre Muskeln von der unbequemen Haltung und der Kälte schmerzten.
Seufzend stand sie auf und ging zurück zum Haus. Tess war froh, dass Phillip
nicht da war, so lag sie abends noch lange wach, verzweifelt, da ihre Gefühle
mit ihrem Verstand einen endlosen Kampf austrugen.
Während der Sommerferien, in
denen auch die Musikschule geschlossen war, versuchte die junge Frau Bernd zu
vergessen.
 
„Komm endlich, Mom!“; rief Silke.
„Wir kommen doch gleich zur ersten Stunde zu spät.“
„Bin gleich da, geh voraus zum
Auto!“
Es hatte keinen Sinn das
Wiedersehen mit Bernd noch länger hinauszuschieben. Solange er der Musiklehrer
ihrer Tochter war, war auch sie mit ihm konfrontiert. Mit einem mulmigen Gefühl
stieg sie zu Silke ins Auto. Das Mädchen redete auf der Fahrt in die Stadt vor
Aufregung ohne Pause. Die Ablenkung war Tess nur recht.
 
„Hallo, Silke. Gut erholt?“,
begrüßte der Klavierlehrer Silke vor der Türe des Musikzimmers.
„Hi. Natürlich, aber jetzt freue
ich mich schon wieder auf die Klavierstunden,“ 
antwortete das Mädchen.
„Geh schon voraus, setz dich an
das Klavier und entlocke ihm ein paar Töne. Sehen wir einmal, was du so alles
vergessen hast,“ lachte Bernd. Er drehte sich zu Therese, während Silke im
Musikzimmer verschwand.
„Hallo, Tess!“
Bernds Augen strahlten. Er fasste
sie an den Schultern.
„Wie geht es dir? Hast du dich
gut erholt?
Freude überragte die
Enttäuschung, dass der lange Sommer nichts genutzt hatte. Tess war sich  nun klar darüber, dass sie diesen Mann liebte.
Doch was waren seine Gefühle ihr gegenüber?
Sie nickte:“ Es war ein schöner
Sommer.“
„Du kannst jederzeit weiterhin in
die Klavierstunde kommen, wenn du möchtest.“
Da war sie wieder, diese
verdammte, geschäftsmäßige Freundlichkeit. „Das will ich nicht!“, wollte sie
herausschreien. Sie brauchte seine Freundschaft, wenn sie schon offensichtlich
nicht seine Liebe haben konnte. Einen Kaffeehausbesuch, einen Anruf:“ Wie geht
es dir?“, einen gemeinsamen Spaziergang. Warum war das so unmöglich?
Die junge Frau sprach ihre
Gedanken nicht aus. „Ich will dir deine Arbeit nicht erschweren. Aber wenn es
einmal passt, komme ich und höre zu.“
Therese drehte sich um und
verließ schnellen Schrittes die Musikschule.
Tess zog sich in ihr
Schneckenhaus zurück. Sie hatte einen Mann, der sich trotz mittlerweile
vermehrter Streitereien und Unstimmigkeiten 
um sie bemühte und sie liebte einen Mann, der ihre Zuneigung nicht
erwiderte. Zeitweise gelang es ihr, die Gedanken an Bernd zu verdrängen,
manchmal dachte sie wirklich nicht an ihn. Viel zu oft flüchtete sie in eine
Traumwelt.
 
Silke hatte große Fortschritte
gemacht. Therese hörte aufmerksam dem Klavierspiel ihrer Tochter zu. Sie
beobachtete Bernd, wie einig er mit Silke vor dem Klavier saß und die zwei in
der Welt der Musik, zu der Tess nicht wirklich Zugang hatte, aufgingen. Silke
hatte ihre Mutter solange bekniet, wieder einmal zuzuhören, bis sie nachgegeben
hatte. Bernd freute sich wie immer sie zu sehen, und Therese verbrachte eine
Stunde voll Harmonie in dem eher kühl wirkenden Musikzimmer.
„Toll hast du gespielt!“, lobte
sie ihre Tochter.
„Das letzte Stück üben wir
bereits für das Karwochenkonzert der Musikschule. Ich darf wieder mitmachen,“
erzählte Silke.
„Ja,“ bestätigte Bernd. „Und
dieses Mal ist es schon ein anspruchvolleres Stück.“
„Ich laufe in die Bibliothek und
borg mir noch die Noten aus, die ich brauche. Ok, Mom?“ Silke war schon auf dem
Weg zur Türe.
„Natürlich, ich warte hier auf
dich,“ antwortete Therese.
„Sie spielt wirklich schon…“
Bernd legte einen Finger auf Tess
Lippen, nahm sie dann in die Arme und küsste sie zärtlich. Lange.
Überrascht sank Therese in seine
Arme und genoss diesen Augenblick, den sie so oft schon erträumt hatte.
Behutsam streichelte Bernd über ihr Haar. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter
und er hielt sie fest. Dann hauchte er einen Kuss auf ihre Stirne.
 
„Wir müssen miteinander reden!“
Es war wohltuend Bernds Stimme am Telefon zu hören.
„Das glaube ich auch. Wenn du
Zeit hast, fahr morgen am Abend heraus zum See. Wir könnten spazieren gehen und
die  warme Frühlingssonne genießen,“
antwortete Tess.
„Ja, das passt mir auch. Bis
morgen.“
„Tschüss,“ Therese legte den
Hörer auf.
Sie schloss die Augen und konnte
den Zauber ihrer letzten Begegnung mit Bernd noch einmal spüren. Morgen war der
perfekte Tag. Phillip war auf einer seiner wenigen Geschäftsreisen und die
Kinder feierten bei ihrer Kusine Geburtstag und wollten dort auch übernachten. Sie
hatten das Haus für sich alleine. Glücklich ging Therese in die Küche, um das
Abendessen zuzubereiten. Wie sollte es nun weitergehen? Eine heimliche Affäre
kam für sie nicht in Frage. Phillip verlassen? Sie schüttelte den Kopf. Ein
einziger Kuss bedeutet ja nicht gleich eine neue Beziehung!
Die Kinder?
In ihren Träumen war alles so
einfach. Mann nicht vorhanden, Kinder erwachsen. Oder Mann lässt sich scheiden,
Weg frei für Bernd. In ihren Träumen musste sie keine Entscheidungen treffen.
Therese setzte sich zum
Küchentisch und verscheuchte ihre Gedanken. Er wird kommen. Morgen. Und nur zu
ihr. Nur das war wichtig.
 
Therese muss sich am Geländer
festklammern. Sie zittert. Es schneit stärker und eine dünne Schneedecke
bedeckt bereits den Boden. Sie lässt schweren Herzens das Geländer los und geht
unsicheren Schrittes die flache Böschung zum See hinunter. Langsam und
vorsichtig betritt sie die Eisfläche. Der Schnee unter ihren Füßen knirscht.
Therese dreht sich um und blickt zurück zum Haus.
 
Bernd kam pünktlich. Er begrüßte
die junge Frau mit einem Kuss auf die Stirn. Therese schaute zu ihm auf und
sein ernster Blick verunsicherte sie. Zärtlich nahm sie seine Hand und führte
Bernd in den Garten.
„Gehen wir zuerst spazieren? Ich
habe etwas zu essen vorbereitet und Wein eingekühlt,“ meinte sie.
„Gern,“ antwortete  er.
Schweigend spazierten sie durch
den nach Frühling duftenden Garten. Keiner 
wollte beginnen, keiner wusste etwas zu sagen. Hand in Hand kamen die
beiden zur Stiege und gingen die Stufen zum See hinunter.  Sie setzten sich auf das Brett der letzten
Stufe und blickten über die ruhige Wasserfläche.
„Ich…“, begann Therese.
 Bernd fiel der jungen Frau ins Wort.
„Warte, bevor du etwas sagst. Ich
muss dir zuerst eine Frage stellen.“
Bernd machte eine Pause und sah
dann Therese ernst in die Augen.
„Würdest du wirklich alles für
mich aufgeben?“
Therese lief ein kalter Schauer
über den Rücken. Das, worüber sie nicht nachdenken wollte, hatte Bernd nun
ausgesprochen. Alles aufgeben! Schlagartig wurde ihr die Tragweite dieser Worte
bewusst. Aufgeben, einfach alles.
Phillip, die Kinder, das Haus.
Therese hielt Phillips bohrenden
Blick nicht mehr aus. Sie senkte den Kopf. In diesem Moment begriff sie, dass
ihr dazu der Mut fehlte und sie würde es nicht aushalten Phillip und ihre
Kinder so zu verletzen.
„Ich wusste es.“ In Bernds Stimme
lag Traurigkeit.
Er streichelte nochmals über
Thereses Haar, stand auf und ging durch den Garten zurück zum Auto. Ohne sich
nochmals umzudrehen fuhr er nach Hause.
Tess blieb sitzen. Sie konnte
nicht weinen. Sie saß nur da und starrte hinaus auf den See. Die Zukunft, ihre
Zukunft, kam ihr so trostlos vor.
 
Tess sah Bernd nur mehr selten.
Meist brachte Phillip das Mädchen zum Unterricht und Therese ging dem
Klavierlehrer aus dem Weg.  Als die Kinder
erwachsen waren und ihr eigenes Leben lebten, kreuzten sich die Wege der beiden
nur mehr selten. Therese war mit einem Mann verheiratet, einen anderen Mann
liebte sie. Beide hatte sie betrogen. Das Leben hatte Therese betrogen.
 
Frierend humpelt die alte Frau
über die schneebedeckte Eisfläche hinaus in den Nebel. Es schneit immer
heftiger. Sie dreht sich nicht mehr um. Nach einer Weile ist sie im dichten
Schneetreiben nicht mehr zu sehen…
 
 
 

Zum ersten Mal habe ich eine längere Geschichte nicht nur angefangen, sondern auch beendet. Ich habe sie beim heurigen Wettbewerb von FM4 zum Thema Bretter eingesendet, sie war aber nicht unter den zwanzig ausgewählten Geschichten für die Endrunde. Somit hat diese Geschichte den Weg zu Stories.de gefunden. Uta Maria Wutte, Anmerkung zur Geschichte

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Uta Maria Wutte).
Der Beitrag wurde von Uta Maria Wutte auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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