Joana Angelides

Die kleine Hexe Samantha und der böse schwarze Vogel

Die kleine Hexe Samantha lief durch den Märchenwald und trällerte ein lustiges Lied vor sich hin. Sie hatte heute die Prüfung in der Waldschule bei Frau Eule, der Lehrerin bestanden und durfte ab sofort Kräutersäfte und Heilsalben herstellen. Sie hatte allerdings ein striktes Verbot erhalten, noch jemals ihre Zaubersprüche zu verwenden. Denn immer, wenn sie das tat, trat etwas Unvorhersehbares ein. Sie war zwar als Hexe geboren, aber absolut ungeeignet dafür.
Das wußte sie inzwischen auch. Obwohl sie immer nur Gutes tun wollte mit ihren Hexenkräften, irgendwas machte sie immer falsch.

Heute hatte sie nichts mehr zu tun, und die Schule war nun eine Woche geschlossen, weil Frau Eule, die Lehrerin sehr verkühlt war und immer wenn sie wegfliegen wollte, niesen mußte und dann immer an irgendeinen Baum anstieß. Frau Eule hatte beschlossen zu Hause zu bleiben.
Samantha beschloß, einmal bis zum Rand des Märchenwaldes zu gehen um zu sehen, was denn wohl dahinter lag.
Sie kam am See vorbei und schaute den Waldfeen zu, wie sie sich im Wasser spiegelten und ihre Haare kämmten. Sie waren wunderschön anzuschauen, mit ihren langen goldenen Haaren. Die Wasserrosen schwankten am Wasser hin und her und einige Frösche lagen faul auf den breiten Blättern und warteten darauf, vorbei fliegende Fliegen einzufangen. Eine Libelle flog über den See und rief nach den Glühwürmchen. Sie wollte mit ihnen am Abend über der Waldlichtung tanzen.
„Wo gehst du hin Samantha?“ Rief die Waldfee Fari hinter Samantha her.
„Ich will das Ende des Märchenwaldes suchen, um zu sehen, was dahinter ist.“
„Bleibe da, das Ende ist hinter dem Wasserfall. Wenn du da durchgehst, bist du pitschnass. Außerdem besteht die Gefahr, daß du nicht mehr zurückfindest. Auch ist die Welt da draußen voller Gefahren und fremder Wesen“ rief Fari besorgt hinter ihr her.

Aber Samantha hörte sie gar nicht mehr. Sie hatte den Wasserfall gefunden und der war so laut, daß man gar nichts anderes hören konnte.

Sie stand nun vor dem Felsenausgang, der in die andere Welt hinaus führte, doch der Weg war versperrt durch diesen großen Wasserfall. Wassermaßen stürzten mit großem Getöse herab und ergossen sich in ein tiefes natürliches Becken.
„Wie soll man denn da rüber kommen?“ Flüsterte Samantha.
Da breitete sich ein dunkler Schatten über ihr aus und ein großer Vogel mit breiten Schwingen schwebte über ihr. Er war so groß und sah so Furcht erregend aus, daß Samantha sehr erschrocken beide Hände vor das Gesicht hielt.
„Ich trage dich hinüber,“ krächzte der Vogel und seine Krallen senkten sich langsam auf Samantha hinunter.
„Nein, nein ich habe Angst vor dir, und auch Angst in das Wasser zu fallen, ich kann ja nicht schwimmen.“
„Es wird dir nichts geschehen, ich halte dich fest. Allerdings mache ich das nicht umsonst!“
„Oh, was willst du denn dafür?“ Ängstlich schaute Samantha zu dem schwarzen Vogel hinauf.
„Ich will deine Zauberkräfte.“
Samantha lächelte unter ihrer vorgehaltenen Hand. Na, diese Zauberkräfte kann er haben, denn ihre Zauberkräfte bewirkten bisher immer nur mittlere Katastrophen.
„Einverstanden,“ sagte sie, „aber vorher trage mich hinüber und durch den Wasserfall hindurch, dann werde ich dir meine Zauberkräfte übertragen.“
„Ist gut, aber wenn du mich belogen hast, wenn du sie mir dann nicht gibst, dann werde ich dich mit meinen Krallen packen und ganz weit fort tragen, auf eine hohe Bergspitze hinauf, wo du nie wieder zurückfindest!“

„Nein, nein, ich betrüge nicht,“ versicherte Samantha. Sie wollte unbedingt sehen, was außerhalb des Märchenwaldes war.

Da nahm sie der Vogel mit seinen Krallen und flog mit ihr über das große Wasserbecken und durch den Wasserfall und dem Felseneingang hindurch und setzte sie am anderen Ende auf die Erde.

Doch was war da? Samantha war ganz erschrocken. Vor ihr lag ein großes Tal, unten sah sie eine große Stadt, mit großen Ungetümen, zwischen den Häusern die laute Geräusche machten, das waren wohl sogenannte Autos, die hinter sich eine schwarze Wolke herzogen, es stank fürchterlich. Im Wald vor der Stadt waren Menschen damit beschäftigt, die Bäume abzuschneiden, sie auf Lastwagen zu verladen und abzutransportieren. Sie hörte das Weinen der Bäume und das ängstliche Gezwitscher der Vögel, die darin ihre Nester hatten. Lauter Wirbel war zu hören, Samantha hatte gehört, die Menschen nannten es Musik.

„Ich will wieder zurück,“ rief sie ganz entsetzt.
„Das geht nicht mehr,“ krächzte der Vogel. „Du hast mir deine Zauberkräfte versprochen und ohne Zauberkräfte hast du im Märchenwald nichts verloren, du bist dann keine Hexe mehr, aber auch keine Fee. Aber ich werde in den Wald zurückkehren und mir dann mit deinen Zauberkräften alles nehmen was mir gefällt und alle müssen dann machen, was ich will.“
Samantha schaute ihn ganz verzweifelt an. Da hatte sie ja wieder was ganz Entsetzliches angestellt!
„Ich kann dir diese Kräfte aber nur im Märchenwald geben, da hier draußen habe ich keine,“ log sie.
Der Vogel beäugte sie ganz mißtrauisch. Und wenn sie ihn nun belog? Aber er wußte nichts einzuwenden und so sagte er:
„Na gut, wir werden wieder durch den Wasserfall durchgehen, aber ich werde dich nicht über das Becken tragen, sondern du wirst mir deine Kräfte gleich dort übergeben, das ist noch das Gebiet vom Märchenwald und dann wirst du wieder hierher zurück gehen.“
Samantha dachte kurz nach und sagte:
„Na gut, aber ich weiß nicht, ob meine Kräfte auf Vögel auch wirklich übertragbar sind. Was ist, wenn das nicht geht?“
„Mir ist das egal,“ sagte der Vogel, „dann verwandle mich in irgendein Tier, Hauptsache ich kann hexen.“
Er nahm die kleine Hexe wieder mit seinen Krallen auf und sie flogen wieder durch den Wasserfall zurück. Inzwischen war die kleine Hexe pitschnass geworden. Kein Wunder, zweimal mußte sie nun schon durch den Wasserfall durch. Schon beim ersten Male hatte sie die Schuhe verloren, die Haare hingen ihr ins Gesicht und das Gewand klebte an ihr.

Der schwarze Vogel setzte sie auf einen großen Stein und sah sie drohend an.
„Also?“
Samantha schloß die Augen, legte die Hände davor, nicht ohne zwischen zwei Fingern hindurch zu schauen und sagte wieder einmal einen Zauberspruch aus dem Gedächtnis.
„Psarirumrum, Polterdidi, schwimm“ sie wollte, daß der Vogel ein Fisch würde. Da war er dann im Wasser gefangen und konnte hoffentlich keinem was tun.
Aber, wie immer, fehlte ein Wort in diesem Zauberspruch und der große schwarze Vogel wurde ein graues Plastikboot in Form eines Delphins, das am Wasser schwamm. Es hatte sogar ein Ruder.
Samantha schaute das Boot mit großen erstaunten Augen an. Was war denn das schon wieder?
Doch im selben Augenblick wurde ihr klar, daß sie durch diesen falschen Spruch gerettet war!
Sie konnte mit diesem Boot ja ans andere Ufer rudern und war in Sicherheit!

Sie sprang in das Boot, nahm das Ruder und versuchte ans andere Ufer zu kommen.
„Na, das wird dir aber mit nur einem Ruder nicht gelingen.“ Sagte da eine tiefe Stimme aus dem Wasser. Es war der Karpfen Jonathan, der in diesem Wasserbecken zu Hause war. Er schüttelte den Kopf. Diese kleine nasse Hexe wußte ja gar nichts.
„Ich werde dich hinten anstoßen und ans andere Ufer schieben,“ sagte Jonathan.
„Oh ich danke dir!“

Und so kam das kleine Hexlein, zwar pitschnass, aber wohlbehalten am anderen Ufer an und sprang heraus.
„Das Boot werde ich hier anbinden, damit es nicht wegtreibt. Ich werde die Feenkönigin fragen, was wir mit dem Boot machen werden.“ Sagte Samantha und lief durch den Wald wieder zurück.

Als sie am See vorbeikam, schauten sie alle ganz erstaunt an und die Waldfeen riefen:
„Ja Samantha, wie schaust du denn aus? Du bist ja ganz naß! Warst du auf der anderen Seite des Wasserfalles?“
„Ja, war ich, aber ich gehe dort nie wieder hin!“ Rief sie und lief ins Schloß zurück.
Die Waldfeen lächelten, sie hatten schon vorher gewußt, daß Samantha wieder zurück kommen wird.

Im großen Schlafsaal im Schloß zog sie ihre nassen Kleider aus, duschte ganz warm, wickelte sich in eine Decke ein und schlief den ganzen Nachmittag, den Abend und auch die ganze Nacht hindurch, tief und fest.
Sie träumte von großen schwarzen Vögeln, lauten Wasserfällen und einem Delphin, der im großen Wasserbecken herum schwamm.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.04.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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