Felix-Florian Schulze

Morgendämmerung oder Paranoid

Der hohe, unangehme Piepston des elektronischen Weckers kam nicht überraschend. Er war seit vier Uhr sowieso nur noch in einem dämmrigen, halbwachen Zustand. Mehr noch, er hatte den lästigen Ton längst erwartet und war bereits unruhig und angespannt als dieser einsetzte. Die Penetranz des in kurzen Abständen piepsenden Weckers machte ihn wütend. Aber war es tatsächlich der Wecker? Nein. Er war schon wütend, schon davor. Früher hätte ihn ein Wecker nicht gestört. Den kann man ausschalten. War es nicht viel mehr die Sehnsucht, die Erinnerung an eine Zeit zu welcher er einfach schlafen konnte, richtig schlafen und morgens in den letzten, verschwindenden Traumfetzen schon den Wecker oder eine vertraute Stimme hören, war es nicht diese verlorenscheinende "Fähigkeit" aus einem offenbar früheren Leben, welches jetzt so fern und unfassbar schien als hätte es nie existiert, die den eigentlichen und andauerenden Groll in ihm verursachten?
Wars dieser Groll am Ende, der ihn um den Schlaf brachte? Ein Teufelskreis.

Die Wohnung war kalt. Er hatte die Heizung bereits am Abend zuvor abgestellt. Eigentlich wollte er auch garnicht mehr hier sein, in der Kälte.
Eigentlich wollte er heute in einem sauberen Hotelbett erholt aufwachen, eine lange Dusche nehmen und gut frühstücken. Das wäre schön gewesen!
Wut: Wäre er doch schon am Abend losgefahren. Er war doch schon kurz davor gewesen aber dann, einem unvernünftigen Anruf folgend und einigen Drinks später wollte er nur noch ins Bett fallen. Ob seines oder ein Hotelbett war nicht mehr wichtig. Er würde morgen einfach früher aufstehen und den Zeitvorteil den die Fahrt am vorherigen Abend gebracht hätte wieder aufholen. Nicht mal der Alkohol konnte ihm die Anspannung nehmen die der Gedanke am nächsten morgen früh auzustehen um nicht zu spät ins Büro zu kommen in ihm auslöste. Fünf Stunden Schlaf und dann zwei Stunden Fahrt. Da ist man schon müde wenn man ankommt. Und dann beginnt der eigentliche Tag erst.

Das Packen der kleinen Reisetasche fiel unerwartet schwer. Alles ging langsam und zäh. Zu langsam. Schon wieder Anspannung: Hätte er es doch einmal auf die Reihe gekriegt bereits eine bequeme Zeit vorher alles fertig zu bekommen. Er würde seinen Plan nicht einhalten können. Rasieren, Zähne putzen, das war gestern Abend, wie bereits zu oft, nach dem Kneipenbesuch entfallen, eigentlich mehr aus Faulheit denn aus Unfähigkeit mangels Feinmotorik durch die Wirkung des Alkohols wie er es vor sich selbst rechtfertigte, Haare waschen! Sie standen in alle Richtungen. Er wollte wenigstens einen einigermassen gepflegten Eindruck machen wenn er nachher schon zu spät ins Büro käme.

Unwillig beugte er sich mit freiem Oberkörper über den kalten Rand seiner kleinen Duschwanne. Er hasste es mit dem nackten Oberkörper kalte Stellen in der Badewanne zu berühren. Er kniete mit dem Rücken zur Türe. Das Wasser lief spärlich und zu heiß über seinen Kopf. Das muß sehr unbeholfen auf andere wirken dachte er. Wie ich hier knie. Sehr hilflos. Aber hier war ja niemand. Niemand ausser er. Niemand der seinen nackten, über die Wanne gebeugten Oberkörper sehen konnte. Er war zu dick. Dick und hilflos dachte er. Aber niemand konnte das sehen, denn es war ausser ihm niemand da. Er konnte sich ja beruhigt der Türe abwenden, konnte ruhig diese schutzlose Position vor der Wanne einnehmen denn er war ja alleine hier. Keiner da, der seine Hilflosigkeit ausnutzen könnte. Wie ausnutzen? Zu heißes Wasser lief ihm jetzt auch den Hals hinunter. Er hasste das. Das passiert wenn man den Kopf nicht weit genug nach vorne beugt dachte er.
Aber er hatte diesmal extra darauf geachtet. Er war weit nach vorne gebeugt. Am Anfang. Der Gedanke an seine Schutzlosigkeit und die Türe in seinem Rücken liessen ihn jedoch unmerklich seinen Kopf heben.
Wie ein Fluchttier wenn es wittert dachte er. Blödsinn.
So sehr er sich jetzt auch mühte, es gelang ihm nicht, sich wieder auf das Waschen seiner Haare zu konzentrieren. Auf etwas Banales. An etwas anderes zu denken. Der Gedankenstrom welcher ihn hatte unweigerlich seine Kopf heben lassen formte sich nun direkt zu einem einzigen, bedrohlicherm, dem Grundgedanken: Hoffentlich ist hinter mir niemand! Ist jemand hinter mir?
Spüren wir Menschen es aus einem noch nicht ganz verdrängten, verkümmerten im Kleinhirn angesiedelten Urinstinkt heraus wenn unser Leben in Gefahr gerät? Kann man diesen Urinstinkt, so er vorhanden ist, überhaupt ganz verdrängen oder kommt er nicht plötzlich in der Einsamkeit mit einer Allmacht über uns die uns betäubt und die Glieder reglos macht? Hatte er nur zuviele schlechte Filme gesehen und spann sich jetzt was zusammen? Er bekam eine Gänsehaut. Er spürte förmlich, daß jemand in seinem Rücken stand. Jemand der die ganze Zeit schon auf so eine Gelegenheit gewartet hatte.
Seine Sinne waren jetzt glasklar und sein Herz pochte bis zum Hals. Er wagte es nicht sich umzudrehen. Aber das war seine einzige Chance. Er könnte das heiße Wasser als Waffe benutzen. Nur für einen Überraschungsmoment, für die Flucht. Es dem anderen ins Gesicht spritzen und dann den kleinen Vorteil nutzen. Er würde jetzt äußerlich härter erscheinen als er es innerlich war. Es ginge jetzt um alles. Um sein Leben. Jede Sekunde des Zögerns und der Angst könnte sein Ende sein. Denn der andere kennt keine Gnade. Er war ja hier um ihn zu töten. Hier in seiner Wohnung. Sein Leben. Seine letzte Bastion. Wenn er sich hier nicht behaupten würde dann nirgendwo. Jetzt oder nie. Mit seinem ganzen Mut und einem Schrei drehte er sich todesverachtend um... und der Wasserstrahl spritzte ins Leere. Gegen die Türe.

Der Morgen war kühl aber versprach einen sonnigen und milden Tag.
Er wuchtete die schwere Tasche, seinen Aktenkoffer und die Müllsäcke durch das schmale, dunkle Treppenhaus und unten durch die Haustüre und machte dabei mehr Lärm als er beabsichtigt hatte. Der Horizont bereits ein rotgoldener, greller Streifen. Am Himmel noch die Sterne und die Nacht. Unzählige Vögel begrüßten laut und schrill den herannahenden, neuen Tag und als er die Müllsäcke zu der in einer Holzumfriedung stehenden Tonne trug erschien das Vogelgezwitscher ihm bereits zu laut. Ungewöhnlich laut. War es noch eine Nachwirkung der Anspannung und Verschärfung seiner Sinne? Der Lärm schwoll an. Er konnte sich nicht erinnern, den Gesang der Vögel jemals in einer solchen Intensität vernommen zu haben.
Das war unangenehm, nicht schön. All die Lieder und Gedichte welche die lieblichen Gesangstöne der Vögel anpriesen waren fern. Ein mächtiges und bedrohliches, alle anderen Geräusche unweigerlich verschlingendes dumpfes Meer von schrillen Lauten war nah. War da. Und das Rot der aufgehenden Sonne ließ es umso unheimlicher Erklingen da der Tag für gewöhnlich das Böse in die Schatten verbannt. Heute nicht.
Er bemühte sich künstlich um Ruhe aber fand sie nicht. Er trug seine Tasche jetzt zügiger zum Auto. Die Vögel schienen plötzlich ferner und vereinzelter.
Er blickte nach vorne, Richtung Auto. Da stand ein Mann in einem langen, braunen Mantel. Für eine Sekunde. Für ein Augenzwinkern. Dann war es wieder der Zigarettenautomat...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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