Jessica Fischer

Lügenkindheit / Brief an eine Freundin

Wie kann man nur so Lügen? Es tut weh, nicht weil du meine Freundin bist oder weil du andere Leute anlügst, sondern weil ich stets nach gutem Gewissen bin wie ich bin und sehr selten wirklich lüge, denn was bringt es mir, zu lügen, mit dem Wissen, dass die Leute nicht mich sondern die Lüge lieben, die ich ihnen auftische?!
 
Du weißt nicht, wer ich früher war. Früher war ich niemand, genau aus diesem Grund. Keiner gab sich mit mir ab, weil ich zu schüchtern war, für mein Alter zu reif. Mir waren die Spielchen zu dumm, ich wusste doch schon, wie es ausgehen würde. So war ich wirklich. Ich wurde ausgegrenzt, weil ich ich war, und ich litt darunter die ganze Grundschulzeit lang.
Doch dann merkte ich, dass es ein Spiel war, nicht der Ernst des Lebens, nichts wichtiges. Ich wurde mir unwichtig, weil ich den anderen unwichtig war, und so spielte ich mit. Ich wurde selbstbewusst, sagte offen meine Meinung, wurde oft deswegen beinahe verprügelt, ich bekam meinen ersten Freund, wurde schlecht in der Schule (innerhalb von 2 Monaten von Durchschnitt 1,2 auf 4,6) und das wichtigste: ich wurde cool.
Doch 2 Jahre später merkte ich, dass ich mich nicht mehr sehen konnte. Ich sah mich von außen, wie ich wirkte, aber nicht von innen. Ich war eine Hülle und das kleine Etwas, was ich so lange mit sieben Siegeln verschlossen in mir aufbewahrt hatte, das, was meine Seele ist, meldete sich. Es schrie, es zerrte an mir, es wollte nicht mehr alleine und verlassen missachtet werden. Ich erkannte, was es heißt, man selbst zu sein.
Ich ließ es zu, wieder „normal“ zu werden. Doch, was ich nun innerlich wieder gewonnen hatte, traute ich mich nicht zu zeigen. Es entstand eine neue Maske, eine, die sowohl zum Teil aus mir bestand, aber größtenteils auf Lügen. Ich machte mit meinem Freund Schluss (per SMS, wie feige) und ich behielt meinen „guten Ruf“. Allerdings nur kurze Zeit. Denn die Freundin, der ich schon meine frühere Verwandlung zu verdanken hatte, wendete sich gegen mich, ohne Grund, und ich wurde noch mehr zum Außenseiter als ich es in der Grundschule war. So kam Verbittertheit, Pessimismus und Selbstmordgedanken hinzu. Bis heute habe ich eine kleine Narbe am linken Handgelenk, weil ich kurz davor war, mir die Pulsadern aufzuschneiden, aber ich hatte nicht genug Willen. Selbst dazu fehlte mir die Kraft.
Drei Jahre später (8.Klasse) war die Mauer um mich so hoch, dass ich selber manchmal Schwierigkeiten hatte, zu meinen wahren Gefühlen durchzudringen. Ich bestand nur noch aus Abwehr. Alles was um mich herum war mir egal, aber trotzdem hinterließen die seelischen Schläge geräuschlos Narben. Das alles wurde mir zu viel, und ich hatte mich entschlossen, zu kämpfen. Ich bäumte mich innerlich auf und meine Wut auf alles und jeden war so gewaltig, wie ich es nie von mir erwartet hätte. Ich steckte nicht mehr ein, ich teilte aus. Allerdings ging ich fair vor: alle, die mich bis dahin verletzt hatten, ignorierte ich, doch sobald sie mich wieder angriffen, schlug ich zurück. Mit Wortgewalt, versteht sich, denn es sollte sich herausstellen, dass das meine stärkste Waffe ist. Ich traf stetig genau ins Schwarze, sodass ich von nun an respektiert wurde.
Dann geschah allerdings das Merkwürdige: meine Klasse schweißte sich zusammen und es gab eigentlich keine Außenseiter mehr. Wenn jemand Rat suchte, bekam er ihn auch, niemand wurde verpfiffen, wenn jemand Mist gebaut hat, stand die ganze Klasse sofort bereitwillig an der Seite. In unseren beiden letzten Schuljahren half ich irgendwann jedem mal. Wenn einer nicht mehr weiter wusste, kam er zu mir und ich fand eine Lösung. Auf einmal hatte ich Freunde, die mich mochten, weil ich so war, wie ich war und inzwischen ist mir klar geworden, dass nur die Freunde richtige Freunde sind, die keine Maske akzeptieren und nur auf den Menschen aus sind, nicht auf das Drumherum.
 
Es dreht sich alles nur um die Wahrheit. Genau deswegen hast du mich so sehr verletzt, obwohl die ganze Sache eigentlich nichts mit mir zu tun hat. Woher soll ich wissen, ob du mich nicht auch anlügst? Woher soll ich wissen, dass du wirklich eine Freundin bist und nicht einfach nur ein Mitläufer, ein Ja-Sager?

Die Mauer um mich steht noch. Ich hoffe irgendwann wird sie einstürzen.Jessica Fischer, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.08.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Der Liebe kann man immer und überall begegnen, auch donnerstags; sie kündigt sich nicht an.

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