Debabrata Mukherjee

Spiel mit dem Messer

 
 
Erste Szene
 
 
(Der Richter, der Geschäftsführer und der Angeklagte.)
 
Der Richter
Sind Sie der Geschäftsführer?
 
Der Geschäftsführer
Logo! Euer Ehren!
 
Der Richter
Ist Ihnen der Angeklagte bekannt?
 
Der Geschäftsführer
Wer? (Der Richter zeigt auf Manuel) Äh! Unser Hammer! Der ist überall bekannt.
 
Der Richter
Seit wann gastiert er bei Ihnen?
 
Der Geschäftsführer
Ewig!
 
Der Richter
Könnten Sie sich bitte genauer ausdrücken?
 
Der Geschäftsführer
Seit etwa zehn Jahren.
 
Der Richter
Wussten Sie schon, dass die Nummer, die er zeigen musste, lebensgefährlich sein könnte?
 
Der Geschäftsführer
Das ist doch eben unsere Spezialität! Wir bevorzugen nur tollkühne Nummern. Heutzutage
wollen die Leute so was gerne sehen. Und daraus schlagen wir natürlich Kapital.
 
Der Richter    
War das die einzige Nummer, die der Angeklagte beherrschte?
 
Der Angeklagte
(zum Publikum) Glaubt der denn etwa, ich sei meschugge?
 
Der Richter
Ruhe! (zum Geschäftsführer) Warum antworten Sie denn nicht?
 
Der Geschäftsführer
Natürlich nicht. Eintagsfliegen können wir uns kaum leisten.
 
Der Richter    
Überall mitzuwirken...! Hat er nie gemeckert?
 
Der Geschäftsführer
Ihre Frage habe ich nicht richtig verstanden.
 
Der Richter
Ich wollte lediglich wissen, ob der Angeklagte überfordert war.
 
Der Geschäftsführer
Ich glaube, nicht. Am Anfang hätten Sie ihn sehen sollen!
 
Der Richter
Was denn?
 
Der Geschäftsführer
Wie ein Blutegel. Ich wollte ihn von vornherein abschütteln. Aber es ist mir nicht gelungen.
 
Der Richter
Wollten Sie ihn nicht engagieren? Warum denn?
 
Der Geschäftsführer
Was hätte man bloß mit so einer aufgeblasenen Figur anfangen können? (zeigt mit den Händen den Menschenumriss)
 
Der Richter
Warum?
 
Der Geschäftsführer
Warum, warum denn wohl?! Im Showbusiness braucht man eine vernünftige Figur. Zuerst dachte ich, er wollte bei mir als Clown arbeiten. Aber, nein!
 
Der Richter
Was wollte er denn bei Ihnen?
 
Der Geschäftsführer
Auf Lager hatte er eine Flaschennummer. Also, total öde. Geldfuchser hatten wir schon mehr als genug. Das habe ich ihm auch eindeutig gesagt.
 
Der Richter
Wie hat er denn darauf reagiert?
 
Der Geschäftsführer
Manuel wollte mir unbedingt seine Nummer zeigen. Ich wollte ihn überhaupt nicht engagieren. Das war ein ewiges Hin und her, bis ich schließlich bejaht habe.
 
Der Richter
Sie schauten sich die tolle Nummer lustlos an.
 
Der Geschäftsführer
Was heißt toll? Sie war einmalig! So was habe ich in meinem Leben nie vorher gesehen. Ich sollte ein paar starke Männer und so viele Flaschen wie möglich herholen. Okay! Null Problemo! Als er aber sah, dass jeder von den sieben Männern nur eine Flasche in der Hand hatte, lachte er patzenfacemäßig: “Mensch! Ich brauche mehr Flaschen”, rief er. Ich dachte, er sei high zugedrückt. Sie wissen schon, was ich damit meine. Er stellte sich dann an die Wand und bat die Männer die Flaschen hintereinander auf ihn zu werfen. Ich machte die Augen zu.
 
Der Richter
Wieso? Wollten Sie denn nicht sehen, was dann passieren würde?
 
Der Geschäftsführer
Wieso, fragen Sie! Die Männer, die die Flaschen werfen sollten, waren alle Muskelpakete in meinem Zirkus. Ringer oder Gewichtheber. Würde jeder von denen auch nur eine Flasche mit Wucht auf ihn feuern, würde es sicher nicht lange dauern, bis Manuel krepiert, dachte ich.
 
Der Richter
Er ist umgefallen und wurde trotzdem engagiert. Das begreife ich nicht.
 
Der Geschäftsführer
Wie kommen Sie darauf? Ich stand minutenlang da. Mit geschlossenen Augen. Und wartete auf seinen Schmerzensschrei. Als ich nichts hörte, dachte ich, er wäre längst Vergangenheit. Ich machte neugierig die Augen auf und dann wieder zu. Er hatte mittlerweile alle Flaschen aufgefangen und jonglierte damit.
 
Der Richter
Dann haben Sie ihn sofort angestellt, weil diese Nummer so beeindruckend war!
 
 
Der Geschäftsführer
Moment! (kurze Pause) Immer mit der Ruhe bitte! Sonst hätte er sehr hohe Gage verlangt.
 
Der Angeklagte
Da schau her! (zum Richter) Davon hatte ich aber gar keine Ahnung.
 
Der Richter (Der Richter versucht mit Gestik, ihn zu beruhigen.) Sie dürfen fortfahren!
 
Der Geschäftsführer
Ja. Ich wollte halt noch nicht den Eindruck vermitteln, dass er für uns unentbehrlich sein könnte. Bei uns darf keiner so eingebildet sein. (zum Publikum) Außer mir. Jemanden wie Manuel müsste man aber unbedingt behalten und das auch noch so preisgünstig wie möglich.
 
(Rückblende im Dämmerlicht.)
 
Manuel
Hey, Alter, schieb noch mehr Flaschen rüber!
 
Der Geschäftsführer
Er fing alle Flaschen auf und jonglierte so, als hätte er nur eine Flasche in der Hand gehabt. Unversehrt stellte er wieder alle Flaschen auf den Boden und dann fragte er mich lakonisch: “Na, hat es Ihnen gefallen? Was nun?”
 
Der Richter
Hat er dann tatsächlich viel Geld verlangt?
 
Der Geschäftsführer
Aufs Geld war er überhaupt nicht scharf. Er suchte lediglich eine Gelegenheit, sein Können
zu zeigen und dabei gelobt zu werden.
 
Der Richter
Soviel ich verstanden habe, konnte er die Nummer mit dem Messer noch nicht. Wer hat sie ihm denn beigebracht?
 
Der Geschäftsführer
Nee, er brauchte in diesem Sinne eigentlich keinen Lehrer. Er ist Autodidakt. Er erfand immer was Neues.
 
Der Richter
Also, er wurde engagiert.
 
Der Geschäftsführer
Ja. Drei Jahre lang hat er bei uns entweder die Flaschen- oder die Fallbeilnummer in verschiedenen Variationen gezeigt. Zwischendurch jonglierte er mit scharfen Messern, mal mit Feuer, mal ohne. Es ging irgendwann mal soweit, dass wir gezwungen waren, seine Nummer ganz ans Programmende zu setzen. Mir wurde klar, warum die Zuschauer gleich nach seiner Nummer nach Hause wollten. Die anderen Nummern, die wir sonst zeigten, konnte man auch im “Jubiläum” sehen.
 
Der Richter
Jubiläum?
 
Der Geschäftsführer
Ja, unsere stärkste Konkurrenz. Seitdem Manuel bei mir tätig ist, versucht dieser Zirkus ständig, ihn abzuwerben. Aber so nicht, mit mir nicht...!
 
Der Richter
Hat er selbstbewusst diese Lage ausgenutzt?
 
 
Der Geschäftsführer
Nein! Aber vor etwa sieben Jahren...(er legte eine lange Pause ein)
 
Der Richter
Ja, bitte! Erzählen Sie bitte weiter!
 
Der Geschäftsführer
Ja. Vor etwa sieben Jahren kam er zu mir in mein Zelt und sagte...
 
(Rückblende)
 
Manuel
Ich habe gemerkt, dass die Zuschauer heutzutage nicht mehr so begeistert sind, wie früher.
 
Geschäftsführer
Für mich ist aber alles völlig egal. Unsere Vorstellungen sind bis nächstes Jahr total ausgebucht. Solange die Kasse so weiter klingelt...
 
Manuel
Nein, ich wollte mal was anderes zeigen. Ich bin der Meinung, dass meine Nummer nicht mehr so spannend ist. Man spürt keinen Kick mehr.
 
Der Geschäftsführer
Was willst du denn anders machen?
 
(Blende)
 
Der Richter
Was wollte er denn? Mehr Geld vielleicht?
 
Der Geschäftsführer
Er sah sehr müde aus, unausgeschlafen, unausgeglichen. Er wollte seine alten Nummern
nicht mehr zeigen.
 
Der Richter
Warum denn nicht?
 
Manuel
Weil ich etwas noch interessantes entdeckt hatte.
 
Der Richter
Was denn?
 
Manuel
Eine Nummer mit dem Messer.
 
Der Geschäftsführer
Mittlerweile kannte ich ihn sehr gut und ich wusste genau, dass er sich nie zufrieden geben würde, bis ich mir angeschaut hatte, was für eine Nummer er überhaupt gebastelt hatte. Also, ich ging mit ihm in sein Zelt hinein. Neben seiner Pritsche war ein Brett und an dem Brett war eine Frau.
 
Der Richter
Seine Frau?
 
Der Geschäftsführer
Nein, gemalt. Etwa fünf Meter vor dem Brett war ein Tisch und auf dem Tisch ein paar Messer. Er nahm ein Messer nach dem anderen in die Hand und warf sie aufs Brett und die Messer blieben da alle stecken.
 
Der Richter
War das ein Holzbrett?
 
Der Geschäftsführer
Jawohl! Ein Holzbrett.
 
Der Richter
Dann ist ja kein Wunder, dass alle Messer steckenblieben.
 
Der Geschäftsführer
Was sagen Sie da? Kein Wunder? Punkt genau hat Manuel alle Messer um die gemalte Figur herum gezielt. Kein Wurf verfehlte. Ich habe sofort erkannt, dass diese Nummer eines Tages eine Sensation sein würde, wenn eine echte Person vor dem Brett stünde.
 
Der Richter
Sie haben dann befohlen, Manuels Frau sollte vor dem Brett stehen.
 
Der Geschäftsführer
Manuels Frau? Nein, das kam nicht in Frage.
 
Der Richter
Wieso denn nicht? Wollte seine Frau im Zirkus nicht mitwirken?
 
Der Geschäftsführer
(Lacht) Ja, das wäre was. Aber er war gar nicht verheiratet.
 
Der Richter
Aber...! Das Opfer war doch seine Frau oder nicht?
 
Der Geschäftsführer
Das schon. Aber dazwischen gab es eine lange Geschichte.
 
Der Richter
Welche denn? Wie konnte er seine neue Nummer zeigen?
 
Der Geschäftsführer
Wissen Sie, Euer Ehren, ich habe wirklich versucht, für seine Nummer jemanden zu organisieren. Aber keiner wollte mitmachen. Seinen Wunsch, die Messernummer zu zeigen, konnte ich deswegen nicht gleich erfüllen.
 
Der Richter
Wieso?
 
Der Geschäftsführer
Alle hatten furchtbare Angst.
 
Der Richter
Angst? Wovor?
 
Der Geschäftsführer
Da bin ich wirklich überfragt. Am Anfang dachte ich, alle wollten wahrscheinlich mehr Geld. Ich wäre sogar einverstanden gewesen, noch mehr zu zahlen. Aber keiner wollte mitmachen.
 
Der Richter
Waren die Zirkusleute von dieser Nummer nicht begeistert? Oder waren sie alle auf den Angeklagten neidisch?
 
Der Geschäftsführer
Diese Frage kann ich sehr schwer beantworten. Die mutigsten Männer, Ringer oder Gewichtheber, alle hatten einfach Angst. Ich konnte Manuel nicht trösten. Irgendwie hat er aber begriffen, dass ich nicht gegen diese Nummer war und ich würde auch solange warten, bis sich jemand bereit erklärte, mitzumachen.
 
Der Richter
Hatte der Angeklagte ein gutes Verhältnis zu den anderen Kollegen?
 
Der Geschäftsführer
Eher zurückhaltend. Er war sehr bescheiden. Dass keiner mitmachen wollte, kam mir irgendwie sehr verdächtig vor. Innerlich war ich aber froh, dass Manuel diese Nummer nicht zeigen konnte.
 
Der Richter
Wie soll ich denn das verstehen? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollten Sie schon, dass etwas Spannendes auf dem Programm steht.
 
Der Geschäftsführer
Diese Nummer auf dem Programm wäre gar nicht schlecht gewesen. Aber gleichzeitig bedeutete das mehr Arbeitsaufwand und mehr Unkosten.
 
Der Richter
Wie hat er darauf reagiert?
 
Der Geschäftsführer
Keine Ahnung. Er wurde schweigsamer. Eines Tages kam er zu mir und sagte: “Dann hat es ja keinen Sinn, hier zu bleiben, wenn ich mein Können nicht mehr zeigen kann.” Ich war ratlos. Fesseln konnte ich ihn sowieso nicht. Ich habe auch mal gedacht, ich stelle mich selber hin. Aber, Euer Ehren, die Angst, die man vor der Ungewissheit hat, ist gar nicht so leicht zu überwinden.
 
Der Richter
Was hat er dann gemacht?
 
Der Geschäftsführer
Gar nichts, ich war auch machtlos. Ich sah die Schnüffler von dem Jubiläum-Zirkus jeden Tag zu unserer Vorstellung kommen. Zuerst dachte ich mal, die wären seine Fans und sie wollten ihm nur gratulieren. Eines Abends kam mir Manuel besonders merkwürdig vor. Mit niemandem wollte er sprechen, er saß irgendwo ganz allein, total geistesabwesend. Kaum habe ich ihn nach dem Grund seiner Melancholie gefragt, explodierte er: “Ich hasse diese Leute, sie kotzen mich an! Diese Mistviecher!”
 
Der Richter
Warum war er plötzlich so sauer?
 
Der Geschäftsführer
So eine Frechheit wollte ich mir nicht gefallen lassen. Ich ging zum Jubiläum-Zirkus.
 
Der Richter
Wieso? Wollten Sie selber überlaufen?
 
Der Geschäftsführer
Überlaufen? Ich doch nicht. Nein, ich wollte mich nur vergewissern, ob diese Leute wirklich vom Jubiläum-Zirkus kamen. Und das stimmte genau.
 
Der Richter
Für das Gericht ist es uninteressant, ob das stimmte oder nicht. Ich will nur wissen, wie
die Frau des Angeklagten zu ihrem Zirkus kam.
 
Der Geschäftsführer
Genau! Das versuche ich doch die ganze Zeit zu erzählen.
 
Der Richter
Moment! Antworten Sie bitte ohne Umschweife!
 
Der Geschäftsführer
Jawohl! Ich war sicher, dass er nicht zögern würde, uns zu verlassen, wenn er die Chance
bekäme, irgendwo anders seine Messernummer zu zeigen.
 
Der Richter
Schon wieder die Nummerngeschichte!
 
Der Geschäftsführer
Ich habe Manuel klipp und klar gesagt, das Spiel darfst du zeigen, deinen Partner musst du aber selber organisieren. Wissen Sie, ich war sehr enttäuscht, als ich herausbekam, dass keiner der männlichen Mitarbeiter den Mut hatte, sich vor das Brett zu stellen. Ich fragte deshalb Herkules.
 
Der Richter
Den griechischen Helden?
 
Der Geschäftsführer
Nein. Herkules ist unser Superkumpel. Seit Jahren hält er auf der Brust Elefantengewicht aus. Der hätte eigentlich keine Angst haben sollen. Aber er hatte auch Angst.
 
Der Richter
Jetzt ist alles klar.
 
Der Geschäftsführer
Was, Euer Ehren?
 
Der Richter
Weil die Männer Angst hatten, fanden Sie eine nette Mitarbeiterin, die breit war, mitzumachen und sie wurde später Manuels Frau.
 
(Rückblende)
 
Der Richter
Name?
 
Herkules
Herkules.
 
Der Richter
Was sind Sie?
 
Herkules
Spieler.
 
Der Richter
Spieler?
 
Herkules
Jawohl. Spieler. Ich zeige die Elefantennummer im Zirkus.
 
Der Richter
Können Sie sich erklären, warum der Geschäftsführer ausgerechnet Sie gebeten hat, mit dem Messerwerfer zusammen die Nummer zu zeigen?
 
Herkules
Das weiß ich auch nicht, vielleicht, weil man mir den meisten Mut zutraut.
 
Der Richter
Wieso?
 
Herkules
Einfach, weil nicht jeder von sich behaupten kann, das Elefantengewicht auszuhalten.
 
Der Richter
Was heißt Elefantengewicht aushalten?
 
Herkules
Ganz einfach, ich lege mich auf den Boden, dann bekomme ich ein Brett auf die Brust gelegt, ja und dann gehen die Elefanten darüber.
 
 
Der Richter
Ist das nicht sehr gefährlich?
 
Herkules
Sehr, wenn man Fehler macht.
 
Der Richter
Gefährlicher als die Messernummer?
 
Herkules
Ich weiß nicht, ob man das so vergleichen kann.
 
Der Richter
Warum gingen Sie denn damals auf den Vorschlag des Geschäftsführers nicht ein?
 
Herkules
Um Gottes willen, er war so treffsicher.
 
Der Richter
Um so besser. Dann macht er doch keinen Fehler.
 
Herkules
Meine Elefanten kenne ich, aber Menschen... Nein, danke!
 
Der Richter
Eins verstehe ich nicht. Wie konnte sich eine Frau dafür zur Verfügung stellen?
 
Herkules
Ganz einfach. Das war seine Frau.
 
Der Richter
Na und?
 
Herkules
Wissen Sie, zuallererst braucht man in diesem Spiel Vertrauen, der Mut stellt sich dann automatisch ein. Deswegen war dieses Spiel für sie beide wie geschaffen.
 
(Blende)
 
Geschäftsführer
Weder noch. Keiner wollte mitmachen.
 
Der Richter
Sie hätten doch mit Affen probieren sollen. Die Nummer wäre dann noch lustiger gewesen. Sie hatten doch genügend Affen in Ihrem Zirkus gehabt.
 
Der Geschäftsführer
Schön wäre es schon. Aber einen Affen kann man nicht heiraten.
 
Der Richter
Jetzt reicht es aber! Beim nächsten Spaß wird eine Ordnungsstrafe verhängt! (Stille)
 
Geschäftsführer
Darf ich jetzt gehen?
 
Der Richter
Nein. Das Verhör ist noch nicht abgeschlossen.
 
Der Geschäftsführer
Ich werde aber gar nicht gefragt.
 
 
Der Richter
Himmelherrgottsakratiezefixhalleluia! Jetzt seien Sie mal endlich still!
 
Der Geschäftsführer
Bin ich ja auch. Aber Sie nicht. Sind Sie auch einer von der Bibelschule?
 
Der Richter
(steht auf) Wegen Gerichtsverdummung 20,00 Mark in die Justizkasse!
 
Der Geschäftsführer
Wie bitte?
 
Der Richter
50,00 Mark!
 
Der Geschäftsführer (zum Publikum) Ab jetzt sage ich ja gar kein Wort mehr.
 
Der Richter
Haben Sie was gemurmelt? (Stille) Nun, sagen Sie mal...!
 
(Der Geschäftsführer zuckt mit der Schulter.)
 
Der Richter
Ausnahmsweise? Wie kam er zu seiner Frau?
 
Der Geschäftsführer
Keine Ahnung. Ich war nicht dabei. Auf einmal
wollte er Urlaub...
 
Der Richter
Hat er ihn bekommen?
 
Der Geschäftsführer
Ja.
 
Der Richter
Haben Sie gedacht, dass er deswegen Urlaub wollte, weil er seine Nummer nicht zeigen konnte?
 
Der Geschäftsführer
Ja, doch. Darum habe ich auch Peter beauftragt, ihn während des Urlaubs im Auge zu behalten.
 
Der Richter
Seien Sie bitte so nett und sagen Sie uns, wer Peter ist!
 
Der Geschäftsführer
Ich werde alles sagen, aber die Geldbuße...?
 
Der Richter
Das ist leider nicht mehr zu ändern. Das Urteil ist schon gesprochen.
 
Der Geschäftsführer
Okay, Peter war Manuels rechte Hand beim Spiel.
 
Der Richter
Vielleicht wollte er im Urlaub heiraten!
 
Der Geschäftsführer
Nein. Vom Urlaub kam er allein zurück. Alles genauso wie früher. Monate vergingen ohne Zwischenfälle! Eines Tages kam er zu mir und sagte, er wolle nun heiraten.
 
Der Richter
Und Sie haben sich nicht gefreut?
 
 
Der Geschäftsführer
Ich dachte, er braucht nun eine Frau, um seiner Frustration Herr zu werden. Ich war sehr überrascht.
 
Der Richter
Warum denn?
 
Der Geschäftsführer
Warum wohl! Ausgerechnet einer wie Manuel! Er bekommt ohne Mühe so einen steilen Zahn.
 
Der Richter
Das dürfte wohl doch nicht Ihre Sorge sein. Hatten Sie was dagegen, dass er seine Frau in seine Nummer integrierte?
 
Der Geschäftsführer
Natürlich nicht. Im Gegenteil. Ich habe ihm vorher schon gesagt, dass er den Partner für das Spiel selber aussuchen sollte.
 
Der Richter
Und was ist mit der doppelten Gage?
 
Der Geschäftsführer
Gage? Das war wirklich Nebensache.
 
Der Richter
Und was war die Hauptsache?
 
Der Geschäftsführer
Die Hauptsache war, dass die anderen Mitarbeiter dadurch sehr gereizt waren. Ich musste sofort schlichten. Manuel durfte keinen Wind davon bekommen. Er trainierte mit seiner Frau Tag und Nacht. Nach zwei Wochen war es soweit.
 
Der Richter
Also, doch eine komische Ehe!
 
Der Geschäftsführer
Das ging mich nichts an. Seine neue Nummer war jedoch ein Kassenschlager.
 
Der Richter
Haben Sie jemals gedacht, dass der Angeklagte nur deswegen geheiratet hat?
 
Der Geschäftsführer
Keine Ahnung! Vielleicht hat sie ihm das Versprechen gegeben.
 
(Rückblende.)
 
Der Standesbeamte
Sind Sie willig, sich freiwillig vor das Brett zu stellen, damit Manuel seine erfundene Nummer zeigen kann? Dann beantworten Sie meine Frage mit “ja”.
 
Manuels Frau
Ja. Ich will es.
 
Der Standesbeamte
Dann sind Sie ab jetzt Mann und Frau, bis der Tod euch...
 
(Blende.)
 
Der Geschäftsführer
Das war wirklich eine tolle Frau.
 
Der Richter
Und wie war die Ehe?
 
Der Geschäftsführer
Nicht kinderlos.
 
Der Richter
Das habe ich eigentlich nicht gemeint.
 
Der Geschäftsführer
Schwer zu sagen. Da ich ihn sie nie habe umarmen sehen, dachte ich, Manuel vernachlässige seine Ehefrau.
 
 
Der Richter
Wieso denn das? Es gibt doch Leute, die sich sehr lieben, obwohl sie sich in der Öffentlichkeit weder umarmen noch küssen.
 
Der Geschäftsführer
Auch wenn einer so verschlossen sein mag wie Manuel, das dürfte aber trotzdem kein Grund sein, die eigene Ehefrau nicht zu liebkosen. Ich habe oft beobachtet, dass Manuels Frau immer jemanden aufsuchte, mit dem sie sich frei unterhalten könnte. Sie war sehr lebhaft und eine temperamentvolle Frau. Nur wenn Manuel nicht in der Nähe war, konnte man sehen, wie toll die Frau eigentlich war.
 
Der Richter
Und wenn Manuel da war?
 
Der Geschäftsführer
Da war sie immer stumm und still. Es herrschte nur Friedhofsruhe. Und das hat mich immer sehr geärgert.
 
Der Richter
Geärgert? Warum?
 
Der Geschäftsführer
Weil diese Stille nicht echt war.
 
Der Richter
Was für eine Beziehung hatte Manuel zu den anderen Kollegen?
 
Der Geschäftsführer
Wissen Sie, darüber rede ich nicht sehr gerne.
 
Der Richter
Wieso? Ich möchte aber alles genau wissen.
 
Der Geschäftsführer
Jawohl, Euer Ehren. Manuel war ein Workaholic. Ohne Arbeit wäre er verrückt geworden. Und das gefiel den Leuten natürlich nicht, die sich gerne drücken wollten.
 
Der Richter
Wussten Sie, wer bei Ihnen ein Drückeberger war?
 
Der Geschäftsführer
Ja. Aber es ist doch ganz normal. Wo so viele Köpfe sind, gibt es oft Probleme. Alles unter einem Hut zu kriegen, war nicht immer so einfach.
 
Der Richter
Hatte Manuel oft Streit mit seinen Kollegen? War er oft schlechter Laune?
 
Der Geschäftsführer
Nein, nicht direkt.
 
Der Richter
Bedeutet das, dass er indirekt Streit mit anderen Leuten hatte?
 
Der Geschäftsführer
Nein, Manuel war sehr wortkarg. Er wollte immer alleine sein. Streit? Niemand hat sich darüber bei mir beschwert.
 
Der Richter
Nun...! Warten Sie mal! Wo drückte ihn denn der Schuh, wenn es überhaupt keinen Streit gab? Wieso hatten Sie dann überhaupt Probleme, alles unter einen Hut zu bringen?
 
Der Geschäftsführer
Entschuldigung! Ich habe das falsch formuliert.
 
Der Richter
Versuchen Sie bitte, präzise zu formulieren! Sonst wird es für mich nicht so einfach sein,
ein gerechtes Urteil zu fällen.
 
Der Geschäftsführer
Eigentlich wollte ich sagen, dass es immer Leute geben würde, die versuchen, auch über einen makellosen Menschen, der weder Bürde noch Sünde hat, etwas Negatives zu verbreiten.
 
Der Richter
Haben Sie persönlich etwas Böses geäußert?
 
Der Geschäftsführer
Geäußert nicht, aber gedacht.
 
Der Richter
Und was genau, wenn ich Sie fragen darf?
 
Der Geschäftsführer
Ich dachte, dass Manuel ein brutaler Mensch sei,
ohne Gefühle.
 
 
Der Richter
Wie kamen Sie darauf?
 
Der Geschäftsführer
Weil er einfach seine Frau vernachlässigte. Ohne Grund.
 
Der Richter
Woher wollten Sie so genau wissen, dass er dazu gar keinen Grund hatte? Außerdem, was geht das Sie an, wie er mit seiner Frau umgeht?
 
Der Geschäftsführer
In die Privatangelegenheit meiner Mitarbeiter wollte ich mich eigentlich nie einmischen, aber seine Frau kam oft zu mir und klagte über die Beziehung. Anscheinend konnte sie Manuel nicht mehr verstehen, obwohl sie so lange verheiratet waren.
 
Der Richter
Und deswegen haben Sie gedacht, dass Manuel seine Frau vernachlässigte, sogar psychisch tyrannisierte.
 
Der Geschäftsführer
Ansonsten hätte sie mit niemandem darüber geredet, dass sie nicht begreifen konnte, warum er sich so verhielt.
 
Der Richter
Sind Sie verheiratet?
 
Der Geschäftsführer
Wie bitte?
 
Der Richter
Ob Sie eine Frau haben?
 
Der Geschäftsführer
Ich war verheiratet.
 
Der Richter
Wieso ‘war’? Lebt Ihre Frau nicht mehr?
 
Der Geschäftsführer
Nein.
 
Der Richter
Oh, das tut mir aber leid. (kurze Pause) Woran ist sie denn gestorben? War das auch ein  
Zirkusunfall?
 
Der Geschäftsführer
Nein. Sie starb im Kindbett.
 
Der Richter
Wie lange liegt das zurück?
 
Der Geschäftsführer
Etwa zehn Jahre.
 
Der Richter
Haben Sie dann wieder geheiratet? Oder haben Sie das Kind ganz alleine aufgezogen?
 
Der Geschäftsführer
Das Kind wurde nur einen Tag alt. (Pause) Ja, später habe ich nochmals geheiratet.
 
Der Richter
Dann haben Sie doch eine Familie gegründet! Und die Kinder?
 
Der Geschäftsführer
Zur Zeit habe ich weder Kinder noch Frau.
 
Der Richter
Warum? Ist Ihre zweite Frau auch gestorben?
 
Der Geschäftsführer
Ich wäre vielleicht froh gewesen, wenn sie gestorben wäre.
 
Der Richter
Wieso? Was ist passiert?
 
Der Geschäftsführer
Daran möchte ich nicht gerne erinnert werden, Euer Ehren. Sie ist mir mit einem anderen  
durchgebrannt.
 
Der Richter
Haben Sie überhaupt versucht, sie wieder zurückzugewinnen?
 
Der Geschäftsführer
Wieso denn zurückgewinnen? Aus dem einfachen Grund: Wer einmal weggelaufen ist, dem kann man nie wieder so wie früher vertrauen.
 
Der Richter
Das ist der Grund, warum Ihnen Manuels Frau so gut gefiel. Stimmt das?
 
Der Geschäftsführer
Wenn Sie mich nun fragen würden ‘warum’, kann ich Ihnen nicht antworten. Ich gebe zu, ich habe sie immer vor den anderen etwas bevorzugt. Und besonders dann, wenn Manuel sie ignorierte.
 
Der Richter
Sie erwähnen immer, dass Manuel seine Frau ignorierte. Aus welchem Grund?
 
 
Der Geschäftsführer
Ich dachte halt, wenn eines Tages Manuels Frau nicht mehr bereit sein wird, sich vors Brett zu stellen, wird sie sicher von ihm geschieden.
 
Der Richter
Kein Spiel, keine Frau? Seltsam!
 
Der Geschäftsführer
Ja, das Spiel war sein Leben. Er war so vernarrt in sein Spiel, dass sogar seine eigene Ehefrau für ihn gar nichts bedeutete. Er wollte vielleicht eine Frau haben, die nicht nur den Haushalt führen oder Kinder hüten würde, sondern auch jederzeit bereit sein sollte, sich vors Brett zu stellen. Ich war ziemlich sicher, wenn sich seine Frau jemals weigerte, mitzumachen, würde er sich von ihr prompt trennen.
 
Der Richter
Haben Sie innerlich gehofft, dass sie sich trennen?
 
Der Geschäftsführer
Um Gottes Willen, nein! Die beiden waren für meinen Zirkus Goldesel. Eine der größten Attraktionen war die Messernummer. Ich habe immer versucht zu erreichen, dass sie sich in meiner Umgebung wohl fühlen. Was habe ich denn davon, wenn Manuel plötzlich meinen Zirkus verlässt und zur Konkurrenz geht? Ich kann nichts dafür, dass seine Frau in gewisser Hinsicht besonders bevorzugt wurde.
 
Der Richter
Gab es auch Situationen, wo Manuel gesagt hatte, “Ich höre nun bei Ihnen auf. Alles kommt mir sehr langweilig vor.”
 
Der Geschäftsführer
Nein. Ich bewundere heute noch seine Ausdauer. Wo immer wir gastiert haben, hatten wir einige Monate lang das gleiche Programm mit zwei oder drei Vorstellungen pro Tag. Manchmal wuchs mir alles über den Kopf. Obwohl ich selber nichts gemacht habe, fand ich es oft sehr monoton. Ich persönlich hätte längst aufgegeben. Aber er... Er war wie besessen. Immer wenn seine Nummer an der Reihe war, war er ein anderer Mensch. Sein
Spiel war immer fehlerfrei. Es gab nicht nur Spannung, sondern auch einen gewissen Humor.
 
Der Richter
Humor? Was für einen Humor?
 
Der Geschäftsführer
Einmal hat ihn ein Clown verspottet, Manuel sei nicht in der Lage, das Messer richtig zu zielen. Der Clown hat ihm gesagt: “Deine Nummer kann doch jeder. Ohne Brett und Frau klappt es aber natürlich besser.” Manuel hat ihn mitsamt der Robe an einen Pfahl mit seinem Messer so festgenagelt, dass sich der Clown nicht mehr hin und her bewegen konnte. Weil das ein Lacherfolg war, wurde diese Sequenz in die Nummer mitintegriert.
 
Der Richter
Glauben Sie, dass Manuel absichtlich seine Frau getötet hat?
 
Der Geschäftsführer
Daran habe ich auch oft gedacht. Man kann aber nie genau wissen, was einer sich durch den Kopf gehen lässt. Eifersüchtig war er immer. Aber einem Künstler wie Manuel sollte so ein Malheur auch unbewusst nicht passieren.
 
Der Richter
Gut. Das genügt. Sie sind entlassen. Falls ich Sie später noch brauche, werden Sie rechtzeitig vorgeladen.
 
Der Geschäftsführer
Und was ist mit der Geldbuße? Wozu ist denn das Sprichwort...“Reden ist Silber... ”
 
 
 
 
Zweite Szene
 
 
Der Richter
Zunächst mache ich Sie darauf aufmerksam, dass Sie hier unter Eid stehen und somit verpflichtet sind, die volle Wahrheit zu sagen. Sie heißen Steffi mit Vornamen, 29 Jahre alt, seit zwölf Jahren im Diamant-Zirkus als Trapezkünstlerin tätig. Ist das richtig?
 
Steffi (im Zeugenstand)
Jawohl, Euer Ehren.
 
Der Richter
Kennen Sie den Angeklagten?
 
Steffi
Ja. Seine Frau war eine enge Freundin von mir.
 
Der Richter
Gut. Dann wissen Sie wahrscheinlich auch, was für eine Ehe die beiden führten.
 
Steffi
Gefeiert haben sie nicht mal richtig.
 
Der Richter
Das habe ich mit meiner Frage nicht gemeint. Ich möchte nur wissen, ob es eine gute Ehe war.
 
Steffi
Ach so. Eine Ehe ist doch eine Ehe, oder?
 
Der Richter
Hat Ihnen Ihre Freundin nie erzählt, dass sie ab und zu mit ihrem Mann Krach hatte?
 
 
Steffi
Eine Ehe ohne Krach ist stinklangweilig, wie Blätter ohne Baum.
 
Der Richter
Ist das Ihre Meinung oder war das die Meinung ihrer Freundin?
 
Steffi
Das ist doch die allgemeine Meinung. Haben Sie nie Krach in Ihrer Ehe gehabt?
 
Der Richter (etwas nervös) 
Wissen Sie, ob der Angeklagte seine Frau misshandelt hat?
 
Steffi
Nein. Sonst hätte mir meine Freundin davon sicher was erzählt.
 
Der Richter
Hat Ihre Freundin Ihnen manchmal erzählt, dass es nicht ganz leicht war, mit dem Angeklagten. Dass er kein einfacher Partner war?
 
Steffi
Nein, einfach war es nicht mit ihm, ganz im Gegenteil. Aber das können Sie leider nicht verstehen.
 
Der Richter
Wieso kann ich das nicht verstehen?
 
Steffi
Weil Sie ein Mann sind. Und die Männer kapieren die Frauensachen kaum.
 
Der Richter
Was meinen Sie damit?
 
Steffi
In einer Sache war Manuel rücksichtslos. So hat mir meine Freundin erzählt. Aber der Chef! Er war in diesem einen Punkt noch schlimmer.
 
Der Richter
Hier geht es nicht um den Geschäftsführer.
 
Steffi
Aber Sie haben doch gesagt, ich soll die volle Wahrheit sagen. Manuel wollte nur mit seiner Frau, aber der Geschäftsführer wollte mit allen...
 
Der Richter
Wie bitte?
 
Steffi
Am liebsten wäre ihm natürlich immer meine Freundin gewesen.
 
Der Richter
Waren Sie deswegen neidisch?
 
Steffi
Ich? Neidisch? Auf diesen Geschäftsführer? Manuel und meine Freundin setzten sich dafür ein, dass alle Artisten zu ihrem Recht kommen konnten. Angefangen mit der Verpflegung bis hin zu den Gagen und überhaupt die menschliche Behandlung. Das war natürlich unserem Chef ein Dorn im Auge.
 
Der Richter
War ihm dann Ihre Freundin auch ein Dorn im Auge?
 
Steffi
Nein.
 
Der Richter
Warum nicht?
 
Steffi
Weil er ein Auge auf sie hatte.
 
Der Richter
Was halten Sie denn persönlich von Manuel?
 
Steffi
Muss ich das sagen, Euer Ehren?
 
Der Richter
Ja, bitte!
 
Steffi
Er ist ein feiner Mensch. Jede Frau könnte stolz auf ihn sein. Ich hätte ihn gerne geheiratet.
 
Der Richter
Auch unter der Bedingung, dass Sie sich dann vor das Brett stellen müssten?
 
Steffi
Das kann ich jetzt nicht so genau sagen.
 
Der Richter
Danke für Ihre Mitarbeit! Sie sind jetzt entlassen, Sie können nun gehen.
 
 
 
 
Dritte Szene
 
 
 
Der Richter
Sagen Sie bitte, wer Sie sind und was Sie sind?
 
Peter
Ich heiße Peter und im Zirkus war ich Manuels Assistent.
 
Der Richter
Wie lange kennen Sie den Angeklagten schon?
 
Peter
Seit etwa sieben Jahren.
 
Der Richter
Dann wissen Sie wohl, was für einen Charakter der Angeklagte hatte?
 
Peter
Der und Charakter! Er ist ein Abschaum in der Zirkuswelt, zu der er eigentlich nicht gehören sollte. Er trank nicht, rauchte nicht, spielte nicht um Geld, lief den Frauen nicht nach. Im Zirkusmilieu total fehl am Platz.
 
Der Richter
Und seine Frau? Was für einen Charakter hatte sie?
 
Peter
Das ist aber eine sehr schwierige Frage, Euer Ehren! Sogar selbst Gott ist nicht in der Lage, den Frauencharakter richtig zu analysieren. Ich bin doch nur ein kleiner armer Schlucker.
 
Der Richter
So haargenau brauchen Sie nicht zu berichten.
Sie sollen mir nur sagen, was Sie von denen überhaupt wissen.
 
Peter
Wie soll eine Frau denn sein, die im Zirkus arbeitet und viel mit Männern zu tun hat? Und wenn sie besonders hübsch aussieht und ganz jung ist? Das ist doch ganz gewöhnlich, daß man immer wieder versucht, sie anzubaggern. Manuels Frau blieb trotz der Versuchungen immer treu.
 
Der Richter
Was für eine Beziehung hatten Manuel und seine Frau zu den anderen Kollegen im Zirkus?
 
Peter
Sie hatten nie Streit mit jemandem. Aber...
 
Der Richter
Aber?
 
Peter
Ich weiß nicht, Euer Ehren, wenn ich Ihnen das erzähle, wird das vielleicht Manuel schaden.
 
Der Richter
Ob das ihm schaden wird, kann nur das Gericht entscheiden. Deswegen sollten Sie dem Gericht alles erzählen, was Sie wissen.
 
Peter
Ja. Obwohl sie mit den anderen Leuten eine nette Beziehung unterhielten, hatten sie selber Konflikte in der eigenen Beziehung. Der eine konnte den anderen nicht richtig leiden.
 
Der Richter
Warum?
 
Peter
Warum, weiß ich nicht.
 
Der Richter
Haben Sie die innere Spannung sofort gemerkt, als Sie angefangen haben, mit Manuel zusammenzuarbeiten?
 
Peter
Nein. Manuels Frau gebar ein Kind acht Monate nach der Hochzeit. Das Kind kam behindert zur Welt und verursachte einen tiefen Bruch in der Beziehung.
 
Der Richter
Woher wollen Sie wissen, dass allein dieses Kind ihre Beziehung ruiniert hat? Hat Manuel selber Ihnen davon etwas gesagt?
 
Peter
Nein. Bevor das Kind unterwegs war, war die Beziehung zwischen ihnen ganz normal. Als Manuel erfuhr, dass seine Frau schwanger war, war er weder glücklich noch begeistert.
 
Der Richter
Hat sich der Angeklagte darüber nicht gefreut, als er die frohe Nachricht hörte?
 
Peter
Jeder, der zum ersten Mal Vater wird, freut sich. Normalerweise! Von außen her war es aber bei ihm nicht zu erkennen, dass er sich darüber freute. Wissen Sie, außer mir wusste niemand, dass Manuel und seine Frau Streitigkeiten hatten. Manuel hat mir alles über die Streitigkeiten berichtet. Er fluchte über seine Frau. Und seine Frau erzählte alles ihrer Freundin Steffi über die Herzlosigkeit ihres Mannes. Komisch, dass sie sich nie in der Öffentlichkeit gestritten haben. Manuel war oft sehr sauer auf seine Frau, aber er hat seine Frau weder angeschrieen noch verprügelt.
 
Der Richter
Hat er Ihnen genau gesagt, warum er sauer war?
 
Peter
Ja, Kleinigkeiten, ganz lächerlich. Manuels Frau konnte sehr gut pfeifen. Und das regte Manuel unheimlich auf, weil so etwas bei denen sittenwidrig war. Wenn sie meine Frau gewesen wäre, hätte ich ihr wahrscheinlich oft eine geklebt.
 
Der Richter
Haben Sie mit ihm darüber geredet, als Sie gemerkt haben, dass es in seiner Familie nicht mehr alles in Ordnung war?
 
Peter
Ja. Ich habe ihn nur gefragt, warum er sich nicht scheiden lässt?
 
Der Richter
Was hat er dann gesagt?
 
Peter
Manuel sagte: “Wir haben uns versprochen, ewig zusammenzubleiben. Wie heißt wohl der indische Spruch? Wo das Geschirr und die Töpfe sind, da klimpert es ständig. Wir werfen trotzdem weder die Töpfe noch das Geschirr weg. Die Harmonie verbietet niemals den Krach miteinander. Außerdem ist es meine private Angelegenheit, was ich mit meiner Ehefrau mache. Und meine persönliche Sache geht niemand was an.” Neulich ist er zu einer neuen Religion übergetreten.
 
Der Richter
Zu welcher denn? Glauben Sie, dass er deswegen die Religion gewechselt hat, weil er zu Hause keinen Frieden hatte?
 
Peter
Ich glaube schon. Weil... Wenn es uns gut geht, brauchen wir doch weder Gott noch Religion.
 
Der Richter
Was sagte seine Frau dazu, als er zu einer anderen Religion übertrat?
 
Peter
Keine Ahnung. Darüber hat sie nie geredet. Ihre Lage war wie die Schlange, die aus Versehen ein Stinktier gefangen hat und sie konnte es weder ausspucken noch runterschlucken.
 
Der Richter
Wieso?
 
Peter
In unserer Gesellschaft ist es sehr schwer, wieder Fuß zu fassen, wenn eine Frau von ihrem Mann verlassen wird, besonders wenn sie auch noch Kinder hat. Ich nehme an, dass sie deswegen nie was gesagt hat. Nein, es gibt noch etwas. (Er hält inne.)
 
Der Richter
Was denn?
 
Peter
Wenn ich das sage, wird es für mich sehr unangenehm. Vielleicht verliere ich meine Stelle. Wissen Sie, das kann ich mir kaum leisten. Ich habe auch Familie und Kinder.
 
Der Richter
Da brauchen Sie keine Angst zu haben. Sagen Sie ruhig alles, was Sie wissen. Worum geht es denn?
 
Peter
Es geht um den Geschäftsführer.
 
Der Richter
Gut. Sie können ohne Furcht weitersprechen.
 
Peter
Geld regiert die Welt. Wer viel Geld hat, kann viele Dinge zu seinen Gunsten manipulieren. Ich habe viele Leute beobachtet, die nur wegen Geld Dinge unternommen haben, die sie normalerweise nie gemacht hätten.
 
Der Richter
Wollte der Geschäftsführer auch so etwas machen?
 
Peter
Dass er es auch bei Manuels Frau versucht hat, habe ich mitbekommen. Aber die Frau war außergewöhnlich, sie war nicht käuflich. Manuel wusste auch davon. Er war sehr eifersüchtig.
 
Der Richter
Dieses Wort habe ich vorher schon mal gehört. Was halten Sie aber von dem Mord?
 
Peter
Welchen Mord bitte?
 
Der Richter
Haben Sie nicht gedacht, dass Manuel aus diesem Grund seine Frau ermordet hat, damit der Chef seine Frau nicht mehr verführen konnte?
 
Peter
Immer wenn ich daran denken muss, bekomme ich Gänsehaut und verliere den Faden. Alle, die damals während der Nummer dabei waren, denken, dass es ein Mord gewesen sein könnte.
 
Der Richter
Was die anderen gedacht haben, brauchen Sie mir nicht zu erzählen. Ich möchte von Ihnen nur hören, was Sie eigentlich in diesem Moment gedacht haben. War das ein Mord oder ein reiner Arbeitsunfall?
 
Peter
Im ersten Augenblick fragte ich mich, warum ausgerechnet er seine Frau töten sollte.
 
Der Richter
Meinen Sie, absichtlich und gut vorgeplant?
 
Peter
Ja, aber der Ansager meinte, dass das ein Unfall war.
 
Der Richter
Wusste der Ansager auch von dem Ehestreit zwischen den beiden?
 
Peter
Keiner wusste davon. Außer Steffi und mir. Und weil ich etwas davon wusste, dachte ich, er wollte seine Frau auf diese Weise beseitigen.
 
Der Richter
Was hat Manuel gleich nach dem Vorfall gemacht?
 
Peter
In diesem Moment kümmerten wir uns nur um die Frau. Keiner hat gesehen, was er gemacht hat. Später, wo alles vorbei war, habe ich ihn beobachtet. Er saß kniend in einer Ecke und betete. Alle versuchten, seiner Frau zu helfen. Das Messer steckte so tief im Hals, dass sie auf der Stelle starb, bevor der Notarzt kam. Ihr bewusstloser Körper fiel wie ein trockenes Herbstblatt auf den Boden. Der Geschäftsführer veranlasste sofort, dass die weiteren Vorstellungen wegen dieses tragischen Unfalls abgesagt wurden. Der Chef hätte das Messer nicht aus ihrem Hals rausziehen sollen, sondern auf den Notarzt warten. Vielleicht hätte man sie doch noch retten können. Die Arme hat leider viel Blut verloren.
 
Der Richter
Was hat Manuel eigentlich unternommen, um seine Frau zu retten? War er sehr aufgeregt? Hat er die Tat bereut?
 
Peter
Das weiß ich nicht. Vielleicht wusste er genau, dass seine Frau keine Überlebenschance hatte. Auf jeden Fall saß er da wie versteinert und murmelte ständig ein Gebet. Er war gar nicht nervös. Eher wirkte er hilflos. Er liebte doch seine Frau sehr, trotz der inneren Konflikte.
 
Der Richter
Danke! Ich habe keine weiteren Fragen mehr.
 
 
 
 
Vierte Szene
 
 
(Manuel im Zeugenstand. Er sieht sehr blass aus und wirkt depressiv.)
 
Der Richter
War Ihre Frau eine untragbare Last für die Familie? (Manuel antwortet auf diese Frage nicht.) Warum antworten Sie denn nicht?
 
Manuel
Ich habe meine Frau sehr geliebt. Bis zu dem Zeitpunkt... (Stille)
 
Der Richter
Ja, bitte!?
 
Manuel
Als das erste Kind geboren wurde.
 
Der Richter
Haben Sie sich nicht gefreut, Vater geworden zu sein?
 
Manuel
Nein.
 
Der Richter
Und warum?
 
Manuel
Weil das nicht mein Kind war.
 
Der Richter
Wer war denn der Vater?
 
Manuel
Keine Ahnung. Ich habe meine Frau nicht danach gefragt. Ich nehme an, dass sie einen Freund hatte. Aber das ist nun alles unwichtig.
 
Der Richter
Meinen Sie, dass Ihre Frau schon schwanger war, als Sie sie geheiratet haben?
 
Manuel
Kaum acht Monate nach der Hochzeit war das Kind schon da.
 
Der Richter
Na und? Viele Kinder kommen im achten Monat zur Welt. Wo ist das Problem, auch wenn das Baby ein bisschen Untergewicht hat? Hat Ihnen Ihre Frau gesagt, dass Sie nicht der Vater von dem Kind waren?
 
Manuel
Nein. Darüber haben wir nie gesprochen. Es ist nicht so einfach, die Vaterrolle von einem fremden Kind zu übernehmen. Oft kam mir die Wut hoch, immer wenn ich daran dachte, dass der eigentliche Vater rumläuft, ohne Pflicht und Verantwortung, und ich, der Idiot... Ich wurde bestraft.
 
Der Richter
Woher wussten Sie denn so genau, dass der Vater von dem Kind ein anderer war? Haben Sie einen Vaterschaftstest machen lassen?
 
Manuel
So was merkt man, so was spürt man.
 
Der Richter
Wenn Sie in der Ehe so unglücklich waren, warum haben Sie sich nicht scheiden lassen?
 
 
Manuel
Weil meine Frau mir deutlich gesagt hat, dass sie mich über alles liebe und ohne mich sterben würde.
 
Der Richter
Hat sie das aus Liebe gesagt?
 
Manuel
Nein, ohne mich hätte sie kein Einkommen mehr gehabt. Außerdem wäre es für sie schwierig gewesen als Mutter einer behinderten Tochter einen neuen Mann zu finden. Ihr Freund war ein Vagabund. Ein Schmarotzer.
 
Der Richter
Wie war es mit dem Sex zwischen Ihnen?
 
Manuel
Ganz normal.
 
Der Richter
Hat sich Ihre Frau nie verweigert?
 
Manuel
Doch. Aber das war mir völlig egal. Weil sie nie direkt nein gesagt hat, habe ich gedacht, dass sie so was auch gern hatte. Sie hatte echt eine Eselsgeduld. Weil sie nie nein sagte, war ich oft innerlich sehr wütend. Ich habe mich damit getröstet: “Dann zeig bitte von deiner Seite viel Liebe!”
 
Der Richter
Der ganze Streit war eigentlich nur im Gedanken? Das kann in einer Beziehung nie gut gehen, wenn man das Innere mit dem Äußeren nicht harmonisieren kann. In solchem Fall wäre es besser, wenn man auseinander geht.
 
Manuel
Ich habe aber ein Ideal.
 
Der Richter
Was für ein Ideal?
 
Manuel
Dass ich selber bewusst keinen Fehler mache, was das Benehmen betrifft. Ich wollte niemanden vernachlässigen.  Jetzt habe ich leider alles verloren.
 
Der Richter (für sich hin)
War das nur ein Unfall mit tödlicher Folge oder war das ein vorgeplanter Mord? Der Staatsanwalt hat in diesem Fall höchste Strafe beantragt. Ich muss aber ganz genau überprüfen, was eigentlich los war. (Zu Manuel) Nun frage ich Sie, sind Sie schuldig?
 
Manuel
Es kommt nicht in Frage, dass ich nicht schuldig bin. Erstens soll ein Künstler keinesfalls so einen Fehler machen. Das schadet der Kunst. Zweitens kommt meine Frau nie wieder lebendig zurück. Ich habe nie im Traum gedacht, dass ihr Leben so tragisch enden würde.
 
Der Richter
Wenn Sie Ihre Schuld bekennen, ist es für mich leichter, ein gerechtes Urteil zu fällen. Nur noch eine Frage! Haben Sie Ihre Frau absichtlich getötet?
 
Manuel
Nein. Es war keine Absicht. Ich wollte an diesem Tag die Nummer mit dem Messer nicht zeigen, weil mir die nötige Konzentration fehlte. Dem Chef habe ich es auch rechtzeitig mitgeteilt. Er war sofort wütend: “Was erlauben Sie sich? Alle Vorstellungen sind ausverkauft. Jetzt können wir uns einen Vertragsbruch nicht leisten. Nein, nein und nochmals nein. Die Nummer mit dem Messer können wir nicht aus dem Programm streichen.”
 
Der Richter
Haben Sie dann Angst bekommen, die Stelle zu verlieren?
 
Manuel
Nein, nicht direkt. Ich hatte keine Befürchtung, arbeitslos zu werden. Ich bin ein Künstler. Ich wollte gerne meine Kunst zeigen und dementsprechend auch Applaus hören. Aber es ging mir an diesem Tag nicht gut. In der Nacht zuvor konnte ich kaum schlafen. Die Gedanken schwirrten herum, wie zerstreute Wolken am blauen Himmel. Neben mir schlief meine Frau, aber ich war hell wach, ich spürte eine Leere, eine drückende Einsamkeit. Wissen Sie, ich spürte unerklärliche Schmerzen in meiner Seele. Dann leuchtete mir ein.
 
Der Richter
Was?
 
(Blende)
 
Der Richter
Ich bin verpflichtet, darauf zu achten, dass hier kein Justizmord stattfindet. Ich brauche ein psychiatrisches Gutachten. Es muss festgestellt werden, ob der Angeklagte überhaupt die Neigung hatte, brutal zu sein oder zu werden. Alle wussten, dass man mit dem Feuer spielt; trotzdem hat man sorglos weitergemacht. Der Angeklagte weiß heute noch nicht genau, wie so ein Unfall geschehen konnte. Jeder kann irgendwann mal einen Fehler machen. Aber es gibt auch Berufe, wo man sich keinen winzigen Fehler erlauben kann. Ich nehme an, wenn ein Spieler einen subtilen Konflikt mit seinem Spielpartner hat, dann ist das Spiel grundsätzlich sehr gefährlich.
 
Der Verteidiger
Mein Mandant bereut die Tat sehr. Aber er ist auf keinen Fall ein Mörder. Und er hatte auch keine Absicht einer zu werden. Er liebte seine Frau. Neulich hat er für seine Frau eine Spülmaschine gekauft, damit seiner Frau das lästige Abspülen erspart bleibt. Es war ein Tag, an dem mein Mandant psychisch nicht mehr in der Lage war, dieses gefährliche Spiel zu zeigen. Ein Fehler kann tödlich sein. Er war sich dessen sehr wohl bewusst und bat den Geschäftsführer, dieses Spiel für einen Tag von dem Spielplan zu streichen. Er hätte zum Beispiel einen Tag Clown spielen können. Der Geschäftsführer beharrte aber darauf, dass er sich nicht leisten könne, die Zuschauer in der Weise zu enttäuschen. Mein Mandant war nicht nur ein liebevoller Ehemann, sondern ein sehr netter Vater von einer behinderten Tochter. Sollten wir nicht versuchen, diesen Vorfall eher als einen Betriebsunfall anzuerkennen, in den mein Mandant unglücklicherweise auch verwickelt war. Er hat dadurch seine Ehefrau verloren und seine Tochter die Mutter. Was hilft es, wenn wir ihn nach dem Gesetz verurteilen und dementsprechend bestrafen. Das Problem bleibt trotzdem erhalten, wenn wir nicht versuchen, die Ursache zu beseitigen. Sollten wir nicht herausfinden, ob mein Mandant unter Druck gesetzt worden war oder nicht?
 
Der Richter
Welcher Druck?
 
Der Verteidiger
Druck von seinem Arbeitgeber.
 
Der Richter
Soviel ich verstanden habe, kann man dieses Spiel nur meistern, wenn man keinen Druck von oben spürt und Freude daran hat, den Applaus zu ernten.
 
Der Verteidiger
Bestraft ist mein Mandant sowieso. Ich meine psychisch. Er kann nicht mehr ein ganz normales Leben führen. Die Tochter muss er nun alleine großziehen. Auch wenn er noch mal heiratet, kann er seinen Beruf als Messerwerfer nicht mehr makellos ausüben. Egal, wer die leergewordene Stelle seiner Frau übernimmt, vor jedem Wurf müßte er weiterhin zittern.
 
(Blende)
 
Manuel
Wie wäre es, wenn ich selber sterbe? Damit könnte ich alle Schmerzen loswerden. Dann dachte ich, wieso stirbt die Schlange nicht? Soll ich sie töten?
 
Der Richter
Dann hatten Sie Angst vor dem Gesetz?
 
Manuel
Nein. An die Strafe habe ich in dem Augenblick nicht gedacht. Ich dachte nur, wenn sie stirbt, werde ich vielleicht entspannter. Aber ich hatte ein paar Bedenken.
 
Der Richter
Was für Bedenken?
 
Manuel
Ja, auch wenn ich jemanden töte, wird dadurch das Problem nicht gelöst.
 
Der Richter
Welches Problem denn?
 
Manuel
Na, die seelischen Schmerzen. Ich werde nicht so leicht davon befreit. Dann dachte ich, es wäre auch sinnlos, nichts unternommen zu haben. Ab jetzt werde ich so sein, dass keiner an mir einen Fehler findet. Vielleicht bin ich nur zum Leiden geboren.
 
Der Richter
Das bedeutet, Sie haben sich selber niedergemacht?
 
Manuel
Die ganze Nacht lag ich hellwach im Bett. Mein Alptraum war, dass ich daran dachte, meine Frau zu töten. Meine Tochter lag neben uns. Ich umarmte meine Tochter. Und dann versuchte ich, weiterzuschlafen. Aber vergebens. Ich habe gemerkt, dass meine Frau auch nicht schlafen konnte. Ich hörte Vögel zwitschern. Langsam wurde der Himmel hell.
 
Der Richter
Und am nächsten Morgen wurde alles wieder wie früher ganz normal?
 
Manuel
Nein, wir haben miteinander gar nicht geredet.
 
Der Richter
Warum haben Sie sich nicht voneinander getrennt? Die Scheidung wäre die ideale Lösung gewesen.
 
Manuel
Am nächsten Morgen hatte ich Muskelkater. Ich ging aus dem Haus raus, lungerte ziellos herum. Nein, nein, daran habe ich nie gedacht. Ich dachte nur...
 
Der Richter
Woran?
 
Manuel
Meine Frau zu töten. Erstaunlich!
 
Der Richter
Was ist dabei erstaunlich?
 
Manuel
Es ist wirklich erstaunlich. Nun daran denken, jemanden zu töten und jemanden richtig töten sind zwei verschiedene Sachen. Ich gebe zu, dass ich dachte, es wäre eine Lösung, wenn ich sie umbringe, aber ich habe nie an das Messerspiel am nächsten Morgen gedacht. Sonst hätte ich das Spiel gar nicht zeigen können.
 
Der Richter
Haben Sie denn etwas Böses geahnt, als Sie am nächsten Tag das Messerspiel zeigten?
 
Manuel
Ich habe nicht richtig aufgepasst. Die Musik hat angefangen. Bald war ich an der Reihe. Wie üblich nahm ich einen Kürbis und zerschnitt ihn mit dem Messer, um den Zuschauer zu zeigen, dass das Messer nicht stumpf war. Ein paar Messer warf ich hintereinander auf das Brett. Alle Messer blieben im Brett stecken, etwa zehn Zentimeter tief.
 
Der Richter
Wo war Ihre Frau?
 
Manuel
Bald kam sie in die Manege. Glitzernde Kleider hatte sie angehabt. Sie sah an dem Tag sehr jung und hübsch aus. Die Zuschauer klatschten, als sie sie begrüßte.
 
Der Richter
Hat sie Sie nicht angeschaut?
 
Manuel
Vielleicht. Ich habe es nicht gemerkt, weil sie hinter meinem Rücken war.
 
Der Richter
Wieso? Waren Sie immer noch verärgert?
 
Manuel
Nein. Während des Spieles sind wir ganz andere Personen. Ob wir privat Mann und Frau sind, ob wir private Auseinandersetzungen hatten, sollte niemals beim Spiel vorkommen. Dann wäre das Spiel aus.
 
Der Richter
Ohne sie anzuschauen, haben Sie angefangen, Messer zu werfen?
 
Manuel
In der Regel sollte man vorher nicht das Ziel anschauen. Aber an diesem Tag hat meine Frau auf mich einen Blick geworfen. Unsere Blicke trafen sich. Plötzlich raste mein Pulsschlag. Ich versuchte, meine innere Erregung zu zügeln. Um mich beherrschen zu können, machte ich die Augen zu. Ich betete.
 
Der Richter
Hätten Sie das Spiel nicht besser sein lassen?
 
Manuel
Ja, doch. Aber der Chef wollte unbedingt, dass ich dieses Spiel zeige, obwohl ich vorher schon angedeutet habe, dass mir die nötige Ruhe und die Konzentration fehlten.
 
Der Richter
Es war sehr gefährlich, in so einer Situation das Spiel zu zeigen.
 
Manuel
Egal, wie großartig ein Spieler ist, vor jedem Spiel hat er Lampenfieber. Ich dachte, ich hätte auch so was. Ich habe dann mit mir geschimpft: >Du, Dummkopf! Du bist doch der größte Künstler, wieso bist du so nervös? < Ich nahm ein Messer in die Hand und warf es auf das Holzbrett. Es blieb ein paar Millimeter von ihrem Kopf entfernt im Brett stecken. Meine Frau hob die linke Hand, ich sollte das Messer unter die Achselhöhle zielen. Ich sah meine Frau an, ihr Gesicht war kreidebleich.
 
Der Richter
Hat Ihre Frau geahnt, dass etwas passieren könnte?
 
Manuel
Das nächste Messer habe ich geworfen, wusste aber nicht, ob ich es korrekt geworfen habe oder nicht. Als ich den großen Applaus hörte, war ich dann beruhigt. Aber dann war mein Wurf... (Er konnte nicht mehr weiter reden.)
 
Der Richter
Ja, sagen Sie bitte, was dann passiert ist!
 
Manuel
Ich dachte, ich habe sie getötet, als ich sie Auf dem Boden zusammensacken sah.
 
Der Richter
Ich habe gehört, dass Sie kniend gebetet haben. Was dachten Sie eigentlich in diesem Moment?
 
Manuel
Alle wussten, dass ich Buddhist geworden bin. Alle dachten, ein Buddhist soll so beten, wenn einer stirbt. Ich dachte aber an die Zukunft, an das Spiel, wie wird es denn weiter gehen?
 
Der Richter
Obwohl es nicht relevant ist zu wissen, möchte ich doch gerne wissen, warum sie die Religion gewechselt haben.
 
Manuel
Aus einem guten Grund. Ich begreife nicht, warum ich einer Religion angehören soll, deren Anhänger seit Jahrhunderten nur Kriege führen und nicht nur gegeneinander, sondern auch viele Unschuldige umbringen. Seit einem Jahr bin ich Buddhist.
 
Der Richter
Was hat sich seitdem in ihrem Leben verändert?
 
Manuel
Ich meditiere seitdem sehr viel. Ich kehre in mich zurück und denke nach, dass ich in meinem Leben eine wichtige Funktion habe und mich anstrengen muss, um die Erlösung zu finden. Früher habe ich viel leiden müssen, sowohl seelisch als auch physisch. Nun stört mich die materielle Unvollkommenheit auch nicht mehr.
 
Der Richter
Wenn Sie so eine Weisheit innehaben, warum sind Sie im Zirkus geblieben, als ein einfacher Spieler?
 
Manuel
Das hat mit meinem Beruf nichts zu tun. Schauen Sie, Sokrates, der große Philosoph aus Griechenland, war auch nicht unzufrieden, ein einfacher Schuster zu sein. Wenn Sie mir erlauben, möchte ich Ihnen über die Religion noch etwas sagen. Der mächtige König Aschok führte in Mittelindien als frischgebackener König einen blutigen Krieg, wie es bei den Königen halt die Tradition war. Er gewann zwar den Krieg, aber der Anblick des Massakers schockierte ihn dermaßen, dass er sich schwören musste, nie wieder einen Krieg zu führen. Er nahm die Worte von Gautam Buddha zu Herzen: >Die größte Religion ist frei zu sein von Eifersucht, Neid, Hass und Gewalt und er widmete sich der Lehre Buddhas. Er ließ überall Krankenhäuser und Pflegeanstalten errichten. nur Mönche in safranfarbenen Kleidern zu sehen. Man erlebte einen Aufschwung in Frieden. Und diese Religion wurde mit der Zeit weit über die Landesgrenze hinaus verbreitet. Der König wollte mit den
Nachbarländern nur freundschaftliche Beziehung.
 
Der Richter
Ja, die Geschichte ist ja toll. Aber ich muss ein Urteil fällen. In diesem Fall ist Ihre Frau durch Sie getötet worden.
 
Manuel
Das bereue ich sehr. Sie wollte so gerne leben. Mein Leben hat nun fast keine Bedeutung mehr. Mit ihrem Tod ist meine Kunst auch zu Ende gegangen. Ich kann dieses Spiel nicht mehr zeigen, weil ich die letzte Szene, wie sie zu Boden zusammensackte, nie aus dem Kopf löschen kann. Was für eine Strafe ich dafür nun bekommen werde, ist mir vollkommen egal. Ich bin nicht mehr in der Lage, ein ganz normales Leben zu führen.
 
Der Richter
Sagen Sie mir mal, was die Leute damals geglaubt haben! War das nur ein Unfall oder ein Mord.
 
Manuel
Sie dachten, ich hätte einen Fehler gemacht. Aber wenn sie kritisch betrachtet hätten, hätten sie vielleicht schon gemerkt...
 
Der Richter
Was?
 
Manuel
Sie hätten schon gemerkt, dass ich nicht gebetet habe. Sondern ich schmiedete Pläne, was nun aus mir wird. Obwohl ich ratlos war, freute ich mich riesig.
 
Der Richter
Worüber? Darüber, dass Sie jetzt Ihre Frau losgeworden sind?
 
Manuel
Nein, ich dachte, ich bin der einzige Idiot. Nun habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass es in dieser Welt mehrere Idioten gibt. Ich hatte mit meiner Frau Eheprobleme, aber wo ist der Beweis, dass ich sie deswegen auch getötet habe. Das Gericht kann nur eine Strafe verhängen, wenn es bewiesen wird, dass ich meine Frau kaltblütig getötet habe. Wenn ich nun sage, es war nur ein Unfall, wer kann daran zweifeln? Deswegen habe ich mich gefreut. Ich war nicht der einzige Idiot. Ich wollte sogar vor Freude einmal schreien. Diese Welt ist voll von Idioten. Wer etwas zugibt, ist ein Idiot und wer etwas nicht zugibt, ist intelligent.
 
Der Richter
Und Sie haben gedacht, diesen Mord als Unfall vertuschen zu können?
 
Manuel
Ob das ein Mord war oder ein Unfall, war mir gar nicht klar. Wozu soll ich mir denn unnötig den Kopf zerbrechen? Das festzustellen, ist die Aufgabe der Justiz.
 
Der Richter
Haben Sie das Schuldgefühl oder sind Sie schuldig?
 
Manuel
Ich fühle mich weder schuldig noch unschuldig. Wenn ich sage, es war ein Fehler beim Spiel, bin ich nicht frei von der Schuld. Wenn ich sage, es war meine Absicht, dann ist es eine Lüge. Aber eins weiß ich sicher, es wird mir keinen Spaß mehr machen, weiter so zu leben.
 
Der Richter
Warum? Wollen Sie denn nicht gerne leben?
 
Manuel
Wenn ein Künstler so einen Fehler macht, soll er 
lieber sterben.
 
Der Richter
Ich habe nur noch eine Frage. Da die Frau nicht mehr lebt, fühlen Sie sich sehr erlöst?
 
Manuel
Ich kann nicht mehr, Euer Ehren, ich habe meine Frau sehr geliebt. (Er bricht in Tränen aus.)
 
Der Richter
Gut. Sie dürfen jetzt den Zeugenstand verlassen.
 
(Der Richter berät sich mit den imaginären Geschworenen und dann steht er auf, um das Urteil zu verkünden.)
 
Der Richter
Urteil im Namen des Volkes...(Licht aus.)
 
Ende
 
© Debabrata Mukherjee

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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