Silvia Pree

Cäsur


Steffen stand vor der Haustür.
Ein Stück weiter vorn blieb der Bus stehen.
Er konnte die Haltstelle gut einsehen.
Selina?
Er beobachtet die Leute, die ausstiegen.
Es waren nicht viele.
Drei oder vier.
Steffen schüttelte den Kopf.
Selina war nicht darunter.
Mit hängendem Kopf ging Steffen ins Haus zurück.
Wieder nicht.
Wo blieb sie nur?
Er machte sich solche Sorgen.
Heute Morgen schon war sie aus dem Haus.
Sehr früh.
Seine kleine Tochter.
Nesthäkchen.
Nachzügler.
Sie war so verändert…

Selina wanderte ziellos durch die Straßen der kleinen Stadt.
Der Wind zerzauste ihre dunkelbraune Mähne.
Sie wusste nicht, was sie eigentlich wollte.
Aber vorhin im Café hatte sie es nicht ausgehalten.
Nach zehn Minuten hatte sie bezahlt.
Die Melange war noch halb voll gewesen.
Wovor lief sie davon?
Vor sich selbst?
Vor den Gedanken, die sie peinigten?
Oder vor der Erinnerung?
Immer wieder sah sie Lena vor sich.
Lena ihre beste Freundin.
Neben ihr auf dem Rücksitz des Wagens.
Blutleeres Gesicht.
Ausdruckslos.
Die Augen halb geschlossen.
Ein dünnes Fädchen Blut rann aus ihrem Mundwinkel.
Selina hatte sie angestarrt.
Erst nach einer Weile realisierte sie.
Sie, Selina, schrie ja.
Sie schrie ohne Pause.
Bis jemand die Autotür aufriss.

Steffen ging in den Wintergarten.
Er versuchte sich zu beruhigen.
Und sich vor seiner Frau zu verbergen.
Sie kannte ihn genau.
Und sie war die Besonnere in dieser Ehe.
Er hörte förmlich ihre Stimme.
Beruhigend.
Warum sorgst du dich immer so?
Unser Mädel ist stark genug.
Die schafft das.
Lass ihr Zeit.
Sie hatte ja Recht.
Er wollte es gar nicht abstreiten.
Aber er konnte nicht aus seiner Haut.
Sein Mädchen…
Immer hatte eine besondere Bindung zwischen den beiden bestanden.
Vater und Tochter.
Und sie war so wie er als junger Mann.
So sehr, dass es ihm manchmal Angst machte.
Dass man sich so ähnlich sein konnte.
Als wäre man fast eins…

Selina sah auf die Uhr.
Spät war es mittlerweile geworden.
In einer halben Stunde ging der letzte Bus.
Stadtauswärts.
Den musste sie erwischen.
Sonst musste sie ihre Eltern anrufen.
Aber das wollte sie nicht.
Sie wollte aber auch nicht nach Hause.
Überall hatte sie dasselbe Gefühl.
Es müsste sie zerreißen.
Als würde die Welt einen Riss erhalten.
Bisweilen hätte sie am liebsten herausgeschrieen.
Ganz laut.
So wie in jener Nacht im Auto.
Aber das ging nicht.
Wieder ein Bild vor ihren Augen.
Im Spital.
Sie lag da.
Lauter Blumen im Zimmer.
Ihr Gesicht war so weiß wie das Laken.
Eine freundliche Schwester kam herein.
Lächelte sie an.
Freuen Sie sich nicht?
Sie dürfen morgen heim!
Selina hatte sich abgewandt.
Heim…
Lena war tot.
Was würden wohl ihre Eltern fühlen?

Steffen trat wieder vor die Haustür.
Da!
Der Bus fuhr gerade ein.
Die Türen öffneten sich wieder.
Selina!
Beinahe hätte er den Namen laut gerufen.
Seine Tochter kam auf ihn zu.
Lächelte leise.
Küsste ihn sanft.
Steffen umarmte sie.
Ganz fest.
Um sie zu fühlen.
Aber sie war nicht da.
Er spürte nur ihren Körper.
Aber nicht mehr sie selbst.
Wie sonst immer.
Er drang nicht durch.
Nicht durch den Wall der Kälte.
Der sie umgab.
Sie war eine andere geworden.

Vivienne

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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