Der zufällig Hörende würde am nächsten Tag erfahren, wenn die Sonne Licht auf das Geschehene wirft, dass er keinem Irrtum seines Sinnes unterlegen gewesen ist. Die anschließende trügerische Ruhe der letzten Nacht würde als ein Sturm von Selbstvorwürfen in seinem Bewusstsein wüten und seinen Gram nähren darüber, dass er versagt habe und in ihm die Erkenntnis reifen lassen, dass es vielleicht die einzige Chance war welche sich in seinem Dasein bot, in der Summe seiner eigenen Verwerflichkeiten den Ausgleich zu schaffen oder seinem Selbstbild gerecht zu werden, für das ihm bis dahin ein Beweis fehlte.
In einer von meinen Freunden und mir besuchten Kneipe, in die wir nur Zutritt bekamen da uns als 17jährige meistens einer unserer älteren Brüder die Eingangstüre öffnete und deshalb geduldet wurden, gehörte Karl zu jenen mehreren älteren Männern die ihren Lebensabend mit dem Besuch in Gaststätten verbrachte. Karl lebte in einer Wohnanlage für alleinstehende Männer, war ruhigen Gemütes, gepflegt und im Zustand der Hilflosigkeit durch zuviel Alkohol niemals anzutreffen, auch nicht in anderen Gaststätten in welchen er zu Gast war. Er wirkte Weise und väterlich und wenn wir eine der Gaststätten betraten, seine Anwesenheit auf uns angenehm: Karl ist da. Wie eine sichere Quelle, wenn wir einen Rat benötigen sollten oder nur einzig seine wachsamen Augen auf uns brauchten.
Karl stieß einen Schrei in die Tiefe seines Bewusstseins welches er verloren hätte in dem Augenblick, wenn dieser Schrei nach außen gedrungen und ihm seine letzte Kraft genommen hätte. Die Geräusche die er hörte klangen befremdlich und er vernahm diese wie aus weiter Entfernung ohne dessen Bedeutung zu verstehen. Kraftlos versuchte seine linke Hand zu greifen, danach, was an seinem Jackett riss. Er hörte nur noch einzig dieses dumpfe knacken in seinem inneren Ohr, sah einen grellen Blitz als es still und dunkel wurde und Karl das Bewusstsein verlor.
Ein lähmend langweiliger früher Abend für Jochen, Willi und mich im September, einer an welchem es bereits dunkel ist, wenn die Kirchturmglocke zur siebenten Stunde schlägt, das Leben auf der Straße noch pulsiert und keiner von uns eine Idee hat was anfangen. An manchen Tagen gelang es mir Geld, welches meine Mutter für ein Mittagessen mitgegeben hatte, bis zum Abend zu retten, weil ich auf das Mittagessen verzichtete und wir konnten dafür in einem Nebenraum des Kinos unseres Wohnortes, dass sich Heimatlichtspiele nannte, Tischfussball spielten. Wir hatten noch keinen Plan als wir auf der Seite einer Straßenkreuzung standen an welcher sich die zwei Telefonzellen befanden, von denen aus ich oftmals am frühen Morgen den Chef meines Bruders davon in Kenntnissetzen musste, dass er wegen Krankheit ausfällt und mich darüber wunderte warum ich dort jedes mal in einer Warteschlange stand, obwohl diese doch meistens unbenutzt herumstanden. Gegenüber auf der anderen Seite die Metzgerei war, an dessen Fassade ein großes symbolisches Schwein aus Neonröhren prangerte, dass spätestens in der Silvesternacht durch unsere Böller von der Wand fiel und schräg gegenüber, ein Kindergarten der evangelischen Kirche steht. Im Kellerraum des Kindergartens hatten verschiedene Jugendclubs für einen Abend in der Woche ihren Treffpunkt bekommen und wir waren Mitglieder des Clubs der sich „take it easy“ nannte. Zu dritt standen wir unübersehbar an dieser Kreuzung und es nur eine Frage von kurzer Zeit sein konnte, bis sich ein oder mehrere Freunde uns anschlossen und wenn nicht, dann ziehen wir durch unseren Vorort und suchen bekannte Treffpunkte auf.
Bruno kam zu uns, berichtete aufgeregt, dass er auf der Flucht sei und gesucht werde, weil er aus dem Heim abgehauen ist in welches er an diesem Morgen verbracht wurde. Er sagte: „Ich will dorthin nicht mehr zurück“ und fragte: „Darf ich mich bei euch verstecken?“ In ein Heim gesteckt zu werden gehörte für einige Eltern gegenüber uns zu einem beliebten und gefürchteten Druckmittel immer dann, wenn unser Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung und auf Lust und Spaß an der von ihnen willkürlich und autoritär gezogene Grenze stieß, welche diese auf Grund ihrer Macht gesetzt haben oder die Verantwortung am eigenen Versagen als ein Dilemma sahen, dass ihnen nicht in dem Maße zuteil geworden wäre, wenn das Schicksal für sie eine andere Bestimmung vorgesehen hätte. Wir trugen Schuld an etwas, dass wir nicht auf uns geladen hatten und dass war ein Teil der Gemeinsamkeit die uns in diesem Augenblick mit Bruno verband als wir ihm unsere Loyalität zusagten und er wieder in der Dunkelheit verschwand.
Obwohl Bruno im Nachbar Vorort wohnte, dessen einzig direkter Verbindungsweg eine Brücke ist welche über eine zweigleisige Bahnlinie führt und Grenze war, gehörte er zu unserem Club. Nicht nur die Gleise der Bahn bildeten die Trennungslinie. Vielmehr existierte eine schärfere Grenze in den Köpfen von uns, die als Mitglieder des Clubs zu einer Clique gehörten, dessen Interessen und Neigungen oftmals einen Imageschaden verursachten. Die Gründung dieses Clubs wurde angeregt von einem Mitarbeiter der Jugendarbeit, welcher sich als Herr Brecht vorstellte und dass Vertrauen dieser Clique gewinnen konnte. Nachdem der Club eine längere Zeit bestand, trug Herr Brecht die Bitte an uns, jemanden aus dem Nachbarort bei uns aufzunehmen, da er im Zusammenleben mit seinen Eltern ernsthafte Schwierigkeiten habe, dennoch ein ruhiger und friedlicher Jungendlicher sei. Wir versicherten ihm unsere Bereitschaft zur Toleranz. An einem Abend in der Woche gehörte der Clubraum dem „take it easy“ und Herr Brecht erschien mit Bruno. Ein hoch gewachsener schlanker Bursche, mit gewelltem schwarzen Haar, dessen Erscheinungsbild gepflegt und sein Verhalten kein Anlass zum Argwohn gab. Selbstverständlich an unseren Ausflügen auf die Maihütte teilnahm, die wir Freizeiten nannten und von Herr Brecht organisiert wurden. Bruno verhielt sich sehr ruhig und zurückhaltend, keiner stellte Fragen. Er nahm Teil an allen Aktivitäten ohne besonders aufzufallen und besuchte, wie viele andere Jugendliche die nicht zur Clique gehörten, regelmäßig die Clubabende.
Jochen, Willi und ich standen weiterhin an der Kreuzung, warteten von Bruno wieder aufgesucht zu werden. Vermuteten ihn versteckt hinter Büschen und Bäumen welche überall zwischen den Wohnblocks wuchsen und von dort aus Blickkontakt zu uns hielt. In unserer Clique gab es immer wieder jemanden, welcher über den Zeitraum eines Tages oder mehrerer Tage ausgerissen ist und dieses ein Vorkommnis war, dass wir „den Satz gerissen“ nannten. Wir diesen mit Essen versorgten und es möglich machten, dass er irgendwo die Nacht verbringen konnte und sei es im Auto eines älteren Bruders, der zufällig wegen eines defekt abgestellt und dies aus Geldmangel über eine längere Zeit blieb. Selten kam es vor, dass sich ein Ausreißen über einen längeren Zeitraum erstreckte und wenn doch, gelang dies am erfolgreichsten während der Sommermonate in der wir uns ausschließlich im Freien aufhielten.
Erstaunt waren wir als ein bis dahin uns unbekannter Mann ansprach, sich als der Vater von Bruno vorstellte. Er war deutlich kleiner als Bruno, hatte eine freundliche Stimme in der Sorge mitklang als er fragte: „Habt ihr Bruno gesehen?“ „Nein“, war unsere Antwort. „Bruno ist aus dem Heim ausgerissen“, sprach er weiter, während der sichere Blick seiner Augen unsere noch überraschten Gesichter streifte. Er hatte uns gegenüber nicht diesen Blick von Misstrauen wie der anderer Väter, deren Begegnung deswegen schon selten waren dadurch, dass wir die Nähe zu ihnen mieden. Jochen lebte allein mit seiner Mutter, dessen Vater mit einer anderen Frau zusammen lebte und Willi mit seinem älteren Bruder zusammen bei Mutter, der aber selten zu Hause war, weil er sich auf „Auslandmontage“ befand wie wir es nannten, wenn einer wegen eines Deliktes im Knast saß.
Brunos Vater war wesentlich jünger als die Väter unserer Freunde, seine Bewegungen ruhig und agil, sein Auftreten sicher und überzeugend als er in seiner Rede fortfuhr: „Er muss zurück in das Heim. Da war er schon öfter und ist wieder weggelaufen. Es geht nicht mehr anders und es ist besser für ihn.“ Ein Vater, der seinen Sohn sucht, war für uns eine unwirkliche Situation und wir versprachen mit Bruno zu reden für den Fall, dass wir ihm begegnen. „Bitte ja“, verschwand ohne Abschiedsgruß auf der anderen Seite der Straße in der Dunkelheit, in die Richtung, in welche auch Bruno verschwunden war und in die Nähe des Nachbarvorortes führte.
Wir würden mit Bruno reden und wissen wollen, aus welchen Beweggründen er in ein Heim musste. Unabgesprochen bewegten wir uns nicht von der Kreuzung weg als gebe es in unserem Bewusstsein ein gemeinsames Programm, sprachen wenig miteinander und warteten auf das Auftauchen von Bruno. Unsere anderen Treffpunkte waren ihm unbekannt und wir standen an dieser Stelle nur zufällig. Auch kannte Bruno unser geheimes Erkennungszeichen nicht, da die Benutzung nur einem inneren Zirkel erlaubt war. Die Kirchturmuhr schlug bereits 22.00 Uhr als wir uns trennten, keine weiteren Worte darüber verloren wie es weitergehen soll und nach Hause gingen. Ein großer Teil unserer Freiheit war die zuverlässige Ausübung unserer Ausbildung durch welche wir das wenige Geld bezogen. Die Erinnerung an die kurze Begegnung mit Bruno und dessen Vater verlor sich in den vielen Gedanken darüber, welche Chancen der nächste Morgen bietet, begleitet von der Hoffnung darauf, dass das eigene Tun irgendwann einen Sinn ergibt und sich ein Ausweg aus der alltäglichen Tristesse zeigt. Zwischen den Wohnblöcken hindurch, dessen üppiger Bewuchs eine gute Deckung bot, erreichte Bruno die Bahnstrecke. Ohne das Risiko einer Entdeckung einzugehen, war es nicht möglich über die hell beleuchtete Brücke zu kommen. Bei den letzten Häusern an welche sich das Tapachtal anschloss, machte die Gleisstrecke einen kleinen Radius. An dieser Stelle begann der Bahndamm außerhalb des Wohngebietes und über einen Pfad konnten die Gleise bequem über das Schotterbett überquert werden, ohne dass dieses Vorhaben von der Brücke aus eingesehen werden konnte. Gegenüber war ein Schild aufgestellt, weil an dieser Stelle ein schmaler Weg endete, das Verbot die Gleisanlage zu betreten, jedoch wenige Spuren der Hinweis darauf war, dass dieser Pfad zwar selten, aber doch benutzt wurde. Bruno gelangte durch das Gestrüpp über diesem Weg auf die andere Seite, die bereits zu seinem Vorort gehört und befand sich auf dem Gelände einer verbliebenen Gartenkolonie und dem Rest von einem Gebiet ehemals großer Obstbaumwiesen und weiten Äcker. Von hier aus waren bereits die Hochhäuser sichtbar und das als zuerst erreichbare Gebäude ein Einkaufscenter, in welchem sich eine Gaststätte und ein Schnellimbiss eingerichtet befand, nur noch zweihundert Meter entfernt. Er näherte sich innerhalb der Gartenanlage diesem Einkaufcenter, stieg über einen Zaun, befand sich danach innerhalb einer Parzelle in der ein Geräteschuppen stand, an diesen angebaut eine Veranda von der in der Dunkelheit ein freier Blick auf die Rückseite des zur später Stunde nur mäßig beleuchteten Einkaufcenters möglich war. Der Frühherbst hatte am Tag Sonnenschein und warme Temperaturen gebracht und als Bruno aus dem Heim geflüchtet war, trug er nur einen dünnen langärmeligen roten Pullover durch den jetzt langsam die Kälte kroch. Auf der Flucht ist die Vorstellung einer Zukunft etwas abstraktes und dass sich als etwas unbegreifbares darstellt, alle Sinne nur für den Augenblick auf den nächsten Reiz schärft, welcher aus der Umwelt unmittelbar einwirkt, dabei dass Bewusstsein überflutet und jeden Gedanken untergräbt an eine solche. Die Zukunft wird zur Erinnerung der Vergangenheit und somit ein Schreckensbild. Bruno begann zu frösteln, spürte wie Zorn in ihm aufkam und sich steigerte wie er erkannte, in welcher Entfernung seine Möglichkeiten von seinen eigentlichen Bedürfnissen und Interessen lagen. Bruno entschied sich, dass er nie mehr ins Heim gehen würde, brauchte Geld das er nicht besaß. Er brach auf, näherte sich dem Einkaufcenter und suchte Deckung hinter einem Gebüsch, wartete, bis einer der letzten Gäste den Weg nach Hause nahm. Es gibt Zeiten, an denen sich ein Tag an den anderen reiht, trägst die gleichen Gedanken in dir und hast nicht das Bedürfnis, etwas großartiges zu erleben oder eine höhere Erkenntnis aus deinem Geist zu schöpfen. Zeiten einer inneren Zufriedenheit in welcher das Gemüt einen anderen Weg gehen möchte und sich alles entscheidet. Die letzten fünf Meter die Karl ging, folgte Bruno lautlos. Fünfundzwanzig Euro können für sich keine Entscheidung treffen wohin sie gehen, diese aber würden, wenn sie es denn jemals könnten, mit einem lauten Schrei verbrennen. Andre Kiesler 02.09.2005
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.09.2005.
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Bäumen begegnen / Mein Freund, der Baum: Baumgedichte
von Jürgen Wagner
Es wächst ein neues Bewusstsein heran, dass Bäume nicht nur Holzlieferanten sind, sondern Lebewesen mit einer Eigenart, einem sozialen Netz und einem inneren Wissen und Fähigkeiten, das wir noch gar nicht kennen. Zusammen mit Bildern und Informationen würdigen die Gedichte die Bäume in ihrer Art und ihrem Wesen und können durchaus eine Brücke der Freundschaft zu ihnen sein.
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