Johannes Schlögl

Das „halbe Dutzend“ oder Dinkelbarts Ende

Das „halbe Dutzend“
oder
Dinkelbarts Ende




Das Frühstück schmeckte, das Mittagessen mundete und das Abendbrot war akzeptabel. Die Tablettenausgabe öffnete um 7 Uhr Früh. Hier konnte alles bezogen werden, was der Heimarzt seinen Patienten verordnete. Wer humpelte, erhielt Krücken, wer nicht gehen konnte, einen Stuhl mit Rädern und wer gar nichts mehr zuwege brachte, Bett, Urinal und Seelenpflege. Die Zimmer waren spartanisch eingerichtet, enthielten aber alles, was für ein genügsames Leben als unbedingt notwendig erachtet wurde. Auch der Preis für den Aufenthalt konnte von der Heimleitung in einer akzeptablen Höhe gehalten werden. Dass das Seniorenheim aus den Resten einer alten Plattenbausiedlung errichtet worden war und außerdem auf einer riesigen ehemaligen Mülldeponie stand, hatte ebenfalls seine Vorteile. Schließlich konnten die Faulgase aus dem städtischen Endlager im heimeigenen Kraftwerk zur Strom- und Wärmegewinnung genutzt werden. Dadurch war eine deutliche Kostensenkung erreicht worden. Im Heim selbst arbeiteten nur Angestellte die das Limit von 60 Lebensjahren bereits vollendet hatten. Lediglich für schwere körperliche Tätigkeiten waren ein Dutzend Kriegsdienstverweigerer zwangsverpflichtet worden. Alles wäre so wunderbar gewesen, wenn es da nicht den korrupten Oberbürgermeister Dinkelbart gegeben hätte, welcher in der nahe gelegenen Gemeinde Goldunzenbach seine Schreckensherrschaft ausübte. Dinkelbart hatte Goldunzenbach in den letzten Jahren als demokratisch gewählter Diktator derart ausgebeutet, dass er nach neuen Geldquellen Ausschau halten musste, welche die Gemeindekasse wieder füllen und seine 2 neuen italienischen Sportwagen bezahlen sollten. Deshalb hatte er mit der stillgelegten Mülldeponie etwas Besseres vor, als diese lukrative Geldquelle einem Haufen Pensionisten zu überlassen, die in Eigenverwaltung ein Altersheim darauf mit Erfolg betrieben. Also musste dieses Rentnerlager weg. Koste es, was es wolle! Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass ein Großteil der Heimbewohner zwar alt und krank, aber nicht blöd war. Und schließlich stellte die Verwaltung auch neueste Errungenschaften der Informationstechnologie zur Verfügung. Im Raucherzimmer des Heimes stand eine Rechenmaschine mit digitaler Bildschirmausgabe und einer verdammt schnellen Internet - Flatrate. So entschloss man sich bereits vor einem Jahr, mit entsprechenden Gegenmaßnahmen zu beginnen, um dem Treiben Dinkelbarts einen Riegel vor zu schieben. Im wahrsten Sinne des Wortes. Den Bewohnern des Altenheims standen zwar nicht viele Geldmittel zur Verfügung, dafür aber Zeit und manch kluger Kopf. Und so wurde der als Arbeitsgruppe getarnte Geheimbund „Viribus unitis“ gegründet. Mit vereinten Kräften sollte der Kampf gegen den korrupten und geldgierigen Oberbürgermeister aufgenommen werden. Geistiges Potential war zur Genüge vorhanden. Dass man auf die fiesen Machenschaften Dinkelbarts überhaupt rechtzeitig im Seniorenheim aufmerksam geworden war, hatte man Hera und ihrem Enkel Friedberg zu verdanken. Hera von M., eine sparsame Frau aus einem früher sehr mächtigen Weinadel hatte sich dieses Heim vor einem Jahr als letztes Domizil ausgewählt. Sie tat dies aus einem für sie sehr vernünftigen Grund: Ihr Enkel Friedberg wollte in Berlinapolis „Quantenphysik & Informationskryptographie“ studieren und nach ein paar Jahren promovieren. Eine spätere Habilitation zum Professor für quantenmechanische Informationskryptographie war durchaus denkbar. Dazu benötigte er aber Geld. Berlinapolis war schon vor längerer Zeit zu einer der teuersten Städte der Welt, wenn nicht gar zur teuersten Stadt des ganzen sichtbaren Universums überhaupt, verkommen. Unter 2500 Euro im Monat konnte sich kein Student diese Stadt mehr leisten. Nachdem die Metropole vor ein paar Jahren den absoluten unumkehrbaren Konkurs anmelden musste, wurde sie einfach auf dem freien Weltmarkt verkauft und vom neuen Eigentümertriumvirat in drei Zonen aufgeteilt. So kam es, dass im Osten der Stadt die billigsten Konsumgüter aus China erworben werden konnten, im Südteil arabisches Benzin 30% unter dem Welthandelspreis zu haben war und der Westen der Stadt die höchste Lebenserwartung vorweisen konnte. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass dieser Teil der Stadt zur autofreien Zone erklärt worden war und die meisten Bewohner sich zu Fuß oder mit dem Rad fortbewegten, wenn sie sich keine teuren Rikschas oder Pferde leisten wollten. Kurzum: Berlinapolis wurde nach den neuesten Errungenschaften sozialkapitalistischer Marktwirtschaftstheorien bewirtschaftet. Was geschah aber mit dem Norden? Der wurde einfach abgeschafft und aufgelöst. Hera von M. fasste daher den Entschluss, mit einem Teil ihres monatlichen Einkommens ihrem Enkel finanziell unter die Arme zu greifen. Deshalb hatte sie sich dazu entschlossen in diesem relativ billigen Heim ihren Lebensabend zu verbringen. Friedberg dankte es ihr, indem er sie regelmäßig besuchte und sie über den Fortschritt seines Studiums informierte. Und vor einem Jahr hatte er die Sache mit Goldunzenbach und den Machenschaften von Dinkelbart entdeckt. Hera von M. erkannte die drohende Gefahr einer Delogierung und begann, die fähigsten Köpfe des Heims um sich zu scharren. Nach etwa zwei Wochen hatte sie das „halbe Dutzend“ beisammen, mit dem der Kampf gegen Dinkelbart aufgenommen werden konnte. Für den finanztechnischen Bereich konnte sie Franz, einen pensionierten Finanzbeamten gewinnen. Laurenz kümmerte sich um die Koordination, während das Fremdsprachengenie Hildegund für den internationalen Informationsaustausch über das Internet verantwortlich war. Wer sieben Sprachen in Wort und Schrift beherrschte, musste zum „halben Dutzend“ gehören. Der ehemalige Programmierer und E – Commerce Designer Lutz kümmerte sich um Computer und Internet, während Hera von M. die geschäftlichen Notwendigkeiten abwickelte. Zum Schluss rundete der autonome Korn das „halbe Dutzend“ ab. Korn war eigentlich nicht „autonom“ – er wurde von Hera nur der Einfachheit halber so genannt. Der ältere Herr mit seinen 70 Jahren war Autist. Aber dies allein war kein Grund, warum ihn Hera zu sich ins Team genommen hatte. Korn war eine multidimensionale Denkmaschine. Ein Genie, das man ohne zu übertreiben auch als „biologischen Computer“ bezeichnen konnte. Es mussten ihm nur die richtigen Fragen gestellt werden, wollte man zu Problemen die besten Lösungen erfahren. Nachdem Hera von M. ihr Team beisammen hatte, begann das „halbe Dutzend“ mit seiner Arbeit. Und so wurden unter Tags zwischen den Mahlzeiten und der Medikamentenausgabe diskutiert und Schlachtpläne entwickelt. Am Abend fasste Hera von M. die Ergebnisse des Tages zusammen, übergab sie dem autonomen Korn zum lesen und stellte danach die Fragen. Es dauerte drei Monate, bis Korn endlich einen vom Team entwickelten Plan bis zu seinem Ende durchdenken und auf die von Hera gestellte Frage „Funktioniert dieser Plan?“ mit einem simplen „Ja“ antworten konnte. Danach forderte sie Korn auf, diesen aufzuschreiben und ihn dem „halben Dutzend“ exakt darzulegen. 4 Monate nach Gründung des Geheimbundes „Viribus unitis“ hatte das „halbe Dutzend“ einen perfekt funktionierenden Schlachtplan. Dann ging die Gruppe daran, alles für den Coup vorzubereiten. Programme mussten geschrieben und Server in verschiedensten Ländern angemietet werden. Briefkastenfirmen wurden in allen Teilen der Welt gegründet. Dafür war Hildegund mit ihrem Sprachtalent Gold wert. Franz überwachte das ganze Vorhaben und meldete sich zu Wort, wenn finanztechnische und legale Grenzen drohten überschritten zu werden. Laurenz koordinierte die ganze Aktion und machte jeden noch so kleinen Fehler im System ausfindig, um diesen von Korn mithilfe gezielter Fragen neu durchdenken und beheben zu lassen. Während dieser Zeit wurde Hera von M. durch ihren Enkel regelmäßig von den Machenschaften Dinkelbarts informiert. Auch der Oberbürgermeister war natürlich nicht untätig gewesen und das Damoklesschwert über dem Altenwohnheim hing bereits bedrohlich tief und wurde nur mehr von sehr dünnen Fäden gehalten – um es bildhaft auszudrücken. Gerade noch rechtzeitig konnte Hera von M. mit ihren Freunden das Projekt abschließen und mit der Aktion „schwedische Gardinen“ beginnen. Am ersten Tag im Dezember versammelte sich „Viribus unitis“, nun auch unter dem Begriff „das halbe Dutzend“ bei den Heimbewohnern hinlänglich bekannt, im Raucherzimmer des Heimes. Lutz setzte sich vor den Computer und bereitete alles für die erste Aktion vor. Zur Sicherheit wurde Korn ein letztes Mal gebeten, die komplette Aktion zu durchdenken und auf etwaige Fehler zu überprüfen. Nach 15 Minuten antwortete Korn: „alles o.k. – alles funktioniert“. Hera nickte Lutz zu und dieser drückte die „Enter“ Taste auf der Tastatur vor dem Rechner. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Emails wurden verschickt, Briefkastenfirmen aktiviert und ein halbes Dutzend rund um die Welt verteilter Server begannen vorgegebene Programmroutinen abzuarbeiten. Jetzt hieß es warten und den Dingen ihren Lauf lassen. Am zweiten Dezembertag war die Spannung sehr groß, als Lutz das elektronische Postfach auf dem Computer im Raucherzimmer öffnete. Hatte sich die Arbeit der letzten Monate gelohnt oder nicht? Die Freude war groß, als man nicht nur eine E-Mail von Dinkelbart vorfand, sondern drei Stück davon. Alles hatte zur besten Zufriedenheit funktioniert. In der ersten E-Mail stand eine Nachricht von Dinkelbart selbst. Er hatte angebissen. Die zweite E-Mail wurde von Dinkelbarts Computer ohne Wissen des Oberbürgermeisters geschickt, in der darin stand, dass alle für die Aktion „notwendigen Programme“ installiert worden waren. In der dritten E-Mail von Dinkelbarts Rechner wurde die Arbeitsgruppe „Viribus unitis“ darüber informiert, das sie von nun an über die Machenschaften Dinkelbarts regelmäßig informiert werden würden. Es dauerte etwa noch zwei Wochen, bis Hera von M. die Falle zuschnappen lassen konnte. Dann wurde die Aktion „schwedische Gardinen“ gestartet. Um der ganzen Sache einen theatralischen Charakter zu verleihen, hatte man sie vorsorglich in die Nacht hinein verlegt. Die meisten Heimbewohner wussten vom Spektakel, das 2 Stunden vor Mitternacht beginnen würde und hatten sich vorsorglich Ferngläser besorgt. Sie wollten die kommenden Ereignisse in Goldunzenbach live miterleben. Niemand wurde enttäuscht. Etwa 30 Minuten nach 22 Uhr tauchten die ersten Fahrzeuge mit ihren opalisierenden Lichtern auf den Autodächern vor Goldunzenbach auf. Nach 23 Uhr glich der Ort einem Lichtermeer voller blinkender Lichter in den unterschiedlichsten Farben. Alle waren gekommen. Die Polizei, der Nachrichtendienst, die Steuerfahndung, der Bundesgrenzschutz, die Zollwache, Beamte der Staatssicherheit in ihren 500000 Euro teuren Panzerlimousinen. Auch ein paar heftig und aufgeregt blinkende Beleuchtungskörper auf dem Wagendach eines italienischen Inkassobüros, das für einen italienischen Sportwagenhersteller tätig war, wurden von ein paar Heimbewohnern mit ihren Teleskopen ausfindig gemacht. Das „halbe Dutzend“ konnte mit seiner Arbeit zufrieden sein. Nachdem Dinkelbart zur Strecke gebracht und aus Goldunzenbach entfernt worden war, trat das „halbe Dutzend“ noch ein letztes Mal in Aktion. Da Goldunzenbach total verschuldet und das Papier seiner Gründungsurkunde nicht mehr Wert war, wurde es einfach versteigert. Streng nach den Gesetzen der sozialkapitalistischen Marktwirtschaftstheorie. Durch strategische Maßnahmen und mithilfe vieler Freunde aus alten Zeiten konnte das „halbe Dutzend“ Goldunzenbach ersteigern. Neue Bewirtschaftungsstrategien brachten schließlich dem kleinen Ort Ruhe und Wohlstand. Das Ziel war erreicht und das Altenheim gerettet worden.
Und wenn Hera von M., Lutz, Franz, Hildegund, Laurenz und „Korn“ nicht gestorben sind, so leben sie in den Herzen derjenigen Menschen weiter, die den Wert des menschlichen Lebens nicht nach Alter, Aussehen und Gesundheit beurteilen, sondern die Würde jeglichen menschlichen Daseins achten, schätzen und schützen.

Anm. d. Autors: Diese Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Personen, Orten usw. wäre rein zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt. „Viribus unitis“ ist lateinisch und heißt: mit vereinten Kräften – nichts weiter ...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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