Conny Kirsten

Die Nacht

Ich sah ihn als ich zum Zigarettenautomaten ging. Es war nachts, kurz nach Mitternacht und ich konnte mal wieder nicht schlafen. Nicht der Kaffee war schuld, sondern das Gefühl von Bedeutungslosigkeit in Bezug zu meinen Problemen, die meine Existenz betrafen. Kurz gesagt, ich hatte Geldprobleme. Alle Mittel waren erschöpft und ich wusste keinen Ausweg aus meinem Dilemma. Aber ich hatte noch ein paar Münzen, mit denen ich mir ein letztes Päckchen Zigaretten ziehen wollte. Er stand an einen Baum gelehnt und zog intensiv an einer Zigarette. Drei Züge und sie war durch. Er schaute mich flüchtig an und betrachtete dann angelegentlich den Chevy, der gegenüber abgestellt war. Ich musterte ihn verstohlen aus den Augenwinkeln, als ich an ihm vorbeiging. Kurze Haare, mittelgroß und schlank , er trug ein schwarzes Shirt und eine schwarze Hose. Beim Automaten angekommen, kramte ich die paar Münzen hervor, die ich noch hatte und musste einsehen, dass der Automat kaputt war, geplündert. Wie blöd ich war, natürlich war er ausgeräumt worden, schließlich war alles im Ausnahmezustand und nichts war den Menschen mehr heilig. "Fuck", murmelte ich, trat einmal mit dem linken Fuß gegen den Automaten und fluchte sofort los. Blöd, wenn man barfuß unterwegs ist! Ich dachte über Murphys Law nach und merkte erst an seinem interessierten Blick, dass ich laut gegrübelt hatte. "Okay, Zigarette?" Ich nickte nur, denn mir war eigentlich alles so ziemlich egal. Dieser Zustand war gefährlich, denn er bedeutete absolute Hoffnungslosigkeit. Ich versuchte ein dankbares Lächeln und sah in unglaublich blaue Augen. Er hatte einen Blick, der etwas in mir auslöste, aber was? Irgendetwas längst Verdrängtes und Vergessenes...
Hastig nahm ich eine Zigarette aus seinem fast leeren Päckchen und beeilte mich, sie mir in den Mund zu stecken. Er hielt mir ein Feuerzeug unter die Nase, die Zigarette brannte und ich inhalierte kräftig. Tat das gut! Schweigend rauchte ich ein paar Züge und merkte, wie meine Wut nachließ. Er grinste, was mich aber nicht beeindruckte. Ein Mann wie jeder andere, oder? 
Verlegen schaute ich auf den zerschossenen Chevy. Blut klebte noch an den Sitzen, was die Besitzer hinterlassen hatten, als sie zu fliehen versuchten. Vorgestern musste es passiert sein, aber da war ich noch nicht wieder zurück. Er folgte meinem Blick und murmelte was von Sinnlosigkeit. Ach, was war denn nicht sinnlos in dieser Welt? Immer der gleiche Mist und die gleichen Inhalte. Politik und Macht und heute waren es nicht mehr die Kornfelder und Mammutweiden, sondern Öl und Gas. "Wohnst du da drüben?" Er deutete auf einen Häuserblock, der im Mondlicht recht deutlich zu erkennen war. Ich nickte und seufzte. Leider! Granaten hatten einige Löcher in die Häuser gerissen und in dem noch Unversehrtesten wohnte ich mit einer Schlange. Ein Vermächtnis meines Onkels, der moderte schon wer weiß wie lange in der Erde. Ich rechnete nach. Eigentlich kam ich auf 2 Wochen und das war in diesen Zeiten lange. Wäre ich doch bloß nicht in dieses Land zurückgekommen, aber manchmal hat man keine Wahl. Ich seufzte laut und vernehmlich und wollte mich gerade bei ihm bedanken, als ich schwere Stiefelschritte hörte. "Shit! Die Miliz?" Was wollten die denn hier? Auf jedenfall sehr ungut, als Frau alleine nachts draußen zu sein. Ich wollte schon blindlings in Richtung Häuserblock rennen, als er mich am Arm packte und mich zum Autowrack zerrte. Ich starrte ihn erschrocken an, aber er schüttelte nur mit dem Kopf und ließ sich einfach hinter das Auto fallen. Ich fiel mit und knallte ziemlich schmerzhaft auf den Beton. Da lagen wir nun ganz ruhig und die Stiefelschritte hielten auf Höhe des Wracks an. Das war knapp gewesen und ich dankte im Stillen allen Heiligen für diesen merkwürdigen Kerl. Maschinengewehre wurden geschultert, und eine Pistole entsichert. Mein Herz raste. Sie durften uns nicht finden! Ich kroch langsam unter das Wrack und sah, als ich den Kopf drehte, dass er langsam und mit sicheren Bewegungen folgte. Schwarze Stiefel gerieten in mein Blickfeld und ich stellte mir vor, wie das wohl sein mochte, eine Waffe zu haben. Sicherheit? Würde ich abdrücken, wenn ich eine Waffe hätte? Schwere Frage, wenn man sicher zu Hause vorm Fernseher sitzt und moralisch entrüstet die Nase rümpfen kann. Leichte Frage, wenn man unter einem Autowrack liegt und Bilder von vergewaltigten und verstümmelten Frauenleichen vor Augen hat. Diese Stiefel! Panik machte sich in mir breit und mein Körper war so angespannt, dass ich gleich einen Krampf bekommen musste. Da schmiegte sich ganz vorsichtig ein warmer Körper an mich, fast hätte ich geschrien, so nervös war ich. Er hielt mich ganz fest und legte eine Hand auf meinen Mund. Ich hatte keine Zeit, um mir darüber Gedanken zu machen, ich hatte einfach keine Wahl mehr. Er oder die! Wer war das schlimmere Übel? Nun, die Miliz schien auch sein Feind zu sein, wie praktisch. Ich sah, wie die schweren schwarzen Stiefel sich aus meinem Blickfeld entfernten, in Richtung auf meinen Häuserblock zu. Minuten später hörte ich Schreie und Schüsse. Ich war zu erstarrt, um weinen zu können, Adrenalin beherrschte meinen Körper und Kälte war in jeder einzelnen Zelle meines Seins. 

Ich weiß nicht, wie lange der Überfall dauerte, ich erinnere mich nur, dass mich jemand festhielt. Und an die Bilder am nächsten Morgen, als alles vorbei war. Ich konnte nicht in meine Wohnung zurück, denn ich würde über leblose Körper steigen müssen, die vorher noch zu meinen Nachbarn gehörten. Warmen Körpern mit Seele. Die lachten, weinten und Menschen waren. Dieser ausgestreckte Körper, der unweit des Autowracks auf der Straße lag, hatte wenig damit gemeinsam. Es war der Vater des kleinen Mädchens aus der unteren Etage. Ich sah wenig Blut, aber auch wenig Gesicht. Dann hörte ich einen komischen Laut und registrierte erst später, dass ich dieses Geräusch verursacht hatte. Jemand zog mich unter dem Wrack hervor und ich sah in das Gesicht dieses Mannes, der mein Retter war. Er wollte, dass ich am Auto wartete und ging ruhig, mit schnellen Schritten Richtung Häuserblock. Ich sah ihm nach und fühlte mich unendlich verloren. Denken verboten, Fühlen auch. Ich zitterte nur noch und wäre gerne aufgesprungen und davongelaufen. Aber wohin? Einfach nur weg, alles andere würde besser sein als hier zu bleiben. Ich starrte mit aufgerissenen Augen in den Himmel. So also war es. Das, was ich nur durch Erzählungen und Medien kannte. Der Tod. Die Angst. Die Macht. Bisschen viel für einen sonnigen Tag, die Morgendämmerung zog ironischerweise verheißungsvoll herauf. Ich hörte Schritte, die sich mir näherten. Er kam zurück und schüttelte seinen Kopf und fragte mich, ob ich einen Ort für mich wüsste. Ich zuckte nur mit den Achseln. Er seufzte einmal laut und fluchte. Dann deutete er mit dem Kopf in eine Richtung und ich zog mich langsam am Wrack hoch. Ich würde ihm folgen müssen. Ins irgendwohin. Meine Beine fühlten sich taub an, aber ich setzte einen Schritt vor den anderen. Ich fühlte mich so leer. Wir liefen unendlich weit, wie es schien. Viel später an diesem Tag kamen wir zu einer anderen Ortschaft, wo es ein Lager gab, bewaffnete Soldaten, die Guten diesmal, wie er mir mit einem spöttischem Ton erzählte. Ich zuckte zusammen, denn auch diese Männer trugen Stiefel. Schwarze schwere Stiefel. Er übergab mich, wie ein Paket sicher abgeliefert und sagte etwas zu mir, was ich aber nicht mehr aufnehmen konnte. Er strich mir noch zum Abschied über meine Haare, aber auch das nahm ich nicht mehr wahr. Ich starrte auf seinen Rücken und wünschte im nachhinein, ich hätte ihm danken, irgendwas sagen können. Eine Frau nahm meine Hand und lächelte mir zu. Es sollte aufmunternd sein, aber an diesem Tag dachte ich, ich würde nie wieder lächeln können. Das sollte auch noch eine Weile dauern.

Es starben viele Menschen in jener Nacht. Säuberungskommando nannte es sich. Und es dauerte noch einige Zeit, bis sich die Welt herabließ, das Töten nicht mehr ignorieren zu wollen. Sagte ich nicht, Scheiß Politik? Wer er war und woher er kam, erfuhr ich erst 2 Jahre später, nicht, was er in meinem Dorf gewollt hatte. Aber das interessierte mich auch nicht. Das war nicht wichtig, das Schicksal hatte uns für einen Augenblick nur zusammen geführt.  Er war mein Engel in jener Nacht und würde immer bei mir sein.
 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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