Ines Wertenbroch

Warten auf sie

Spanischer Gesang, von einer Gitarre begleitet, dringt durch den Innenraum des Cafés. Zum letzten Mal bin ich hier vor einigen Monaten gewesen. Ich glaube, es war Sommer. Juni oder Juli. Es war abends gewesen, so wie jetzt.

Zwei Mädchen sitzen an unserem Stammplatz. Beide scheinen Anfang zwanzig zu sein und so wie wir damals ist die eine dunkelhaarig und die andere mittelblond. Die Hellere hat das große Fenster hinter sich, wie ich sonst immer. Sie redet mehr als die Dunkle.

Kein Mensch kann wirklich wissen, was selbst die beste Freundin tut, wenn sie allein in ihrer Wohnung ist. Ob sie weint, Kerzen anzündet, Tabletten braucht oder ihre Katze aus dem Fenster im zweiten Stock wirft. Was sie tut, wenn sie einsam ist oder sich verfolgt fühlt. Ich weiß nicht, was sie wirklich über mich gedacht hat.

Ich habe nicht viel über sie gewusst. Mir kommt es vor, als wüsste ich nach alledem weniger von ihr als mir je zuvor bewusst gewesen ist.

Wenn es schon so schwierig war, etwas über ihr Erleben herauszufinden, wie sollte sie mich dann eingeschätzt haben. Mal gab sie sich jede Schuld, gab sie mir und nahm sie wieder zurück. Ich glaube, sie hasste mich dafür so sehr, dass sie sich selbst irgendwann hässlich fand. Ihr oft in die Ferne schweifender Blick, ihre abwesenden Augen flirrten über die Tische.

Hast sie mich schon brennend gesehen oder ihr Haar in Flammen? Hat das Feuer in dem Teelicht sie in dem Moment verfolgt? Von mir auf sie hat es sie heruntergeascht. Ich bin alles Gefährliche und sie Jagende gewesen, aber ich war auch die spanische Musik und die Schutzhülle um das Teelicht. Ich war ihr Halt, aber ich hatte auch die Gewalt. Jedes noch so kleine Teilchen oder Geräusch konnte ihr Angst machen. Ich habe sie erschreckt und sie beschützt.

Jetzt geistert sie blass und schmal durch eine Klinik. So, wie ich sie kennen gelernt habe, ist sie nicht mehr real. Das Bild von ihr kommt mir vor wie eine Halluzination, nur dass ihr Umfeld sie hatte. Eine Figur, die man hören und sehen kann, aber im Nachhinein traut man seinen Sinnen nicht mehr. War ihr Verhalten ein großes Symptom ihrer Krankheit? Hat sie auf mich oder ihre Krankheit reagiert?

Sie traut sich nicht mehr, in die Stadt zu gehen und sich in ein Café zu setzen. Ihre Krankheit sorgt dafür, dass sie sich immer neben sich stehend fühlt. Ich habe soviel Zeit mir ihr verbracht. Seit sie weg ist, warte ich. Manchmal spiele ich ein spanisches Stück auf dem Klavier, das sie so mochte. In meinen Ohren klingt es jetzt gruselig und verhallt ins Leere hinein. Ich warte, dass sie die Töne hört und mir auf einem zweiten Klavier antwortet. Dann höre ich auf zu spielen, sacke auf dem Hocker in mich zusammen und warte, dass sie in den Raum kommt.

Ein Jahr bevor sie krank geworden ist, haben wir Fotos von uns gemacht. Mir hat sie bei einigen Bildern den Kopf abgeschnitten. Ich habe das als Versehen verstehen wollen, sie hätte nur die Kamera anders halten müssen. Man könne den Maßstab schließlich nicht immer richtig einschätzen. Aber niemand hat mich so schön fotografiert wie sie.

 Ich warte auf jemanden wie sie. Seit sie weg ist, ist mein Leben so ernst geworden durch den leeren Gegenpol. Keine Antwort. Sie will mich nicht sehen. Sie soll sich vor mir nicht wegen ihrer Diagnose schämen. Sie ist wütend, weil ich sie allein gelassen habe. Ich hätte sie nie wirklich verstehen wollen. Hat sie sich da schon verfolgt gefühlt? Wer hatte die Halluzinationen? Sie oder ich?

Ich werde nicht mehr in dieses Café gehen. Sie verfolgt mich. Die Antwort wird nicht mehr  kommen. Ich sollte nicht mehr warten.

Mein Tee schmeckt schal. Er löscht nicht die Erwartung des Geschmacks, die ich an ihn hatte. Es reicht einfach nicht, nur hier zu sein.

 

 

 

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