Marietta Bachmann

Die Axt

eins, zwei, drei, vier - Eckstein, alles muss versteckt sein...  
Die Übereinstimmung war nicht hundertprozentig, nicht ganz. Ähnlich wie bei jenem Indizienprozess, bei dem alle Indizien auf den Beschuldigten den Jugendfreund und Verlobten des Opfers verwiesen: die Fingerspuren an der Tatwaffe, eine Axt, die den Schädel einer schönen jungen Frau gespalten hatte, das Motiv, die Tatzeit, die Gelegenheit, die Liebe zum Meer, die Opfer und Täter teilten und die sie gemeinsam in jenen Ort ans Meer geführt hatten. Genauso oder so ähnlich war es auch hier, hatte auch diese Sache einen Haken: Das Blut am Opfer und zwischen seinen Fingernägeln war definitiv nicht das des vermeintlichen Mörders gewesen. Der Prozess konnte nicht geführt werden und Bonges und Baal hatten das Ganze zu den Akten legen müssen.
Mit dem Tod von Karl Hintermoser, dem "Dütsche", wie ihn die Bewohner des kleinen Dorfes an der Küste nannten, war es eine ähnlich seltsame Angelegenheit. Der Dütsche hatte sich - wie jedes Jahr - bei Annie Thoralfs eingemietet. Er war nicht unbedingt einer der charmantesten Gäste - aber Annie galt auch nicht unbedingt als eine der charmantesten Vermieterinnen. Karl Hintermoser war ungefähr 44 Jahre alt. Dieses ungefähr ist in etwa so ungewöhnlich wie Hintermosers Name: nicht, das Hintermoser etwas Besonderes gewesen wäre, da unten im deutschen Allgäu, woher er stammte. Aber noch Karl dazu - man würde fast meinen, man begänne in den 30ern im Süden Tirols. Ganz falsch wäre das übrigens nicht: die gerade Linie war 1911 über die Via nach Norden ausgewandert und hatte, München vorsichtig umschiffend, sich nach Westen in die Ulmer Gegend gewandt. So war auch der Name Karl mitgekommen. Als Handgepäck irgendeiner ältesten Schwester, die später nach Hamburg heiratete und damit zwar untergebracht, aber nicht unbedingt glücklich war. Karl also, den wir ab jetzt lieber Kalle nennen, wohnte sei 44 Jahren nicht nur in dieser Welt sondern sogar in derselben Stadt, derselben Strasse und - selbstverständlich demselben Haus. Nur einmal im Jahr, für drei Wochen, da wohnte er bei Annie Thoralfs. Ansonsten war es eher das Hotel Mama, das für "Kalle Himo", wie ihn seine Kollegen nannten, noch immer geöffnet war. Sein Vater hatte sich, nach 25 Jahren in der französischen Kohle, zum alten Herrn verabschiedet und war nur noch gelegentlich sonntags anwesend. Und dies auch nur, wenn er mit den anderen alten Herren nicht gerade zum Golfen, zum Boccia spielen oder im Debat-tierklub auf 7-01 unterwegs war. Bei Regen also durfte man gelegentlich zu Kreuze mit dem Alten rechnen.

Kalles Bruder dagegen war Ingenieur. Einer von der angeblich erfolgreichen Sorte - große Autos, Frauen in wechselnden Ehestand und eine unglaublich verwöhnte, höchst intelligente aber überaus zickige Tochter namens Alexandra sein Uneigen nennend, und verbrachte sein Leben hauptsächlich im Ausland. Oder was davon übrig war: denn, um präzi-se zu sein: er verbrachte nicht sein Leben im Ausland, sondern seine Arbeit. Sein Leben verbrachte er - zumindest dem Anschein nach- auf der Couch. Im Gegensatz zu ihm war Kalle ein Gegenteil: er war nie verheiratet, hatte keine bekannten Kinder und war die meiste Zeit mit den Heftchen aus der Tankstelle, "drei Stück für zwanzich Mark", zufrieden. Im Übrigen war niemandem mehr klar, warum der "Dütsche" Binnenschiffer geworden war. Er mochte den Geruch von Diesel nicht besondern und die meiste Zeit an Bord langweilte er sich. Aber das alles wusste Erik Bonges noch nicht. Der Dütsche galt als aufgeräumter, zänkischer Gast und in den drei Juniwochen, in denen er stets anwesend war, freute man sich - sofern man ob seiner Anwesenheit freuen wollte, dass die Annie, die Zimtzicke, endlich einmal gesagt bekam, wo es lang ging. In den ersten zehn Jahren hatte es Gerüchte von einer Affäre gegeben. Aber als sich auch nach dem Tod von Annies Mann, der wesentlich beliebter, aber auch bedeutend undurchschaubarer war, nicht geändert hatte, verstummten die Gerüchte nach weiteren zehn Jahren. Und läge da nicht einer mit gespaltenem Schädel, so hätte überhaupt niemals wieder jemand ein Sterbenswort darüber verloren.

Bonges und Baal fuhren mit dem alten Motorrad raus ans Meer. "Im Prinzip" resümierte der Alte zum Jungen "liebe ich diese Ausflüge aufs Land. Die Leichen dort sind immer so , so originell ". Die Axt steckte noch im Schädel des Dütsche, dessen letzter Blick wirr, wenn nicht fast ein wenig erfreut wirkte. Der Amtsarzt schlenderte über die Wiese, murmelte etwas von 3 Uhr 45 und machte ein Witzchen über den Totenschein "Metallvergiftung", keine Besonderheiten. Gedankenversunken blicke Bonges auf den Toten, der an der Rückwand einer Scheune lehnte. Nein, an die Rückwand einer Scheune gelehnt worden war. Unverkennbar zog die Schleifspur, direkt über die Wiese, einen Bogen um den Brunnen machend, der in diesem Jahr zum ersten mal abgedeckt worden war, vorbei an der abgestellten Pferdekutsche, mit der Annies Vater noch die Sommergäste zum Strand gefahren hatte, direkt auf die Stufen zum Haus "Meerblick", wie Annies Kate sich mit Rücksicht auf zahlende Gäste nannte. Die Axt hatte den Dütschen von vorn getroffen, sein Blutalkoholspiegel war so hoch, das man vermuten konnte, er habe das Ganze für einen Spaß gehalten und ganz deutlich zeigten sich Spuren herausspritzenden Blutes auf den Dielen des immer weiß gescheuerten Küchenbodens. Schon am frühen Morgen hatte die örtliche Polizei Annie festgesetzt. In Ermanglung einer richtigen Haftzelle in jenem Zimmerchen das für "Rauschtäter" vorgesehen gewesen war. Baal verspürte augenblicklich sein Magengeschwür. "Warum tut diese Frau so etwas". Bonges grinste nur: "Sie tut es eben nicht, das ist das Problem." Bonges hatte recht: Annie Thoralfs war - nachweislich und gesehen von mehr als neun Personen - die ganze Nacht anwesend im acht Kilometer entfernten Nachbarort, bei einer kranken Freundin, die, kurz vor Schluss, noch hatte ein paar Freunde versammeln (und natürlich auch bedenken) wollen. Unverständlich war nur, das sie den Toten an die Rückwand der Scheune gelehnt hatte und ihr wirren Blick als sie sagte, man hätte ihn "so eben nicht gleich finden können", schließlich habe er sich "zwanzig Jahre verstecken müssen". Annie Thoralfs war unbestritten verrückt geworden, aber eine Mörderin war sie - vielelicht - nicht.

Zwanzig Jahre, was, um Gottes Willen war daran so wichtig. Bonges zermarterte sich das Hirn. Und warum hatte Kalle sich verstecken müssen, ein harmloser Deutscher, der nichts am Hut hatte mit anderen und hier am Meer nur das Meer selbst im Kopf hatte. Nachdenklich kaute er auf seinen Pfefferminzpastillen, die Baal - sofern er sie ihm ausnahmsweise anbot - stets die Tränen in die Augen trieben. Baal war überhaupt das Einzige, was ihm jetzt noch einfiel: der Junge musste ins Archiv, alte Zeitungen lesen. Da draußen am Land gab es noch Monatsblätter, die waren auf Torf gedruckt und von bedauernswerter journalistischer Qualität - aber, soviel war sicher- sie enthielten alle, wirklich alle Nachrichten aus dem ungefähren Umland. Die Archivarin schoss einen strengen Blick durch die Brillengläser: Dieser Baal war schon wieder mit einem Eis in der Hand hereingestürzt. Sie hätte, wäre sie nicht verheiratet gewesen, ihn gern gemocht, aber nicht einmal dann hätte sie ihm das hier durchgehen lassen dürfen.

Baal schwitze schon den dritten Tag über vergilbten Dorfblättchen, als ihm - werbend für die Schönheit der Natur - ein altes Zeitungsbild in die Hände fiel: Ein junger Tourist, vielleicht Mitte zwanzig, zurückgelehnt an eine Scheune, den Blick aufs Meer, ein junge Frau im Arm: rechts neben ihm allerlei Werkzeug, eine Sense, ein Messer, eine Axt. Auf der nächsten Seite ein anderes Bild, das einer Toten: Melanie Thoralfs, Annies Schwester - eine Frau mit gespaltenem Schädel und einem Blut unter dem Fingernagel, das nicht zum vermeintlichen Täter passte... 

© IrmaE: [ marietta bachmann ] 2005 (www.pro-cedure.de

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Aus dem Wald in die Pfanne ... Tief unterm Büschel Gras versteckt, mit einem Blatt noch abgedeckt, beobachtet ein Pilz im Wald so manch befremdliche Gestalt. Sie schlurfen, ein paar trampeln auch, in Stiefeln und 'nem Korb vorm Bauch, das scharfe Messer in der Hand, den Blick zum Boden stets gewandt. Ein Freudenschrei, ein scharfer Schnitt, so nehmen sie Verwandte mit; und der versteckte Pilz, der weiß, im Tiegel ist es höllisch heiß. So brutzeln aber will er nicht! Da bläst ein Sturm ihm ins Gesicht, es rauscht und wirbelt ringsherum, schon bebt der Wald - ein Baum fiel um. Genau auf seinen Nachbarn drauf. Das ändert seinen Denkverlauf: "Welch übles Ende: Einfach platt! Da mach' ich lieber Menschen satt." Drum reckt er sich aus dem Versteck, er will jetzt plötzlich dringend weg: "Vergesst mich nicht! Ich bin gleich hier und sehr bekömmlich, glaubt es mir."

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