Germaine Adelt

Rituale

Wie sie so da lag, war nicht mehr viel von der einst stolzen Frau geblieben. Den Mund weit offen atmete sie so unregelmäßig, dass man erstarrt vor Anspannung auf den nächsten Atemzug wartete. Sie erkannte mich kaum, wenn sie denn einmal kurz die Augen öffnete. Schwach und zusammengesunken lag sie wie verloren in ihrem Bett. Es war soweit, dass ich ihr den Tod gönnte. Aber ihr Körper wehrte sich dagegen, bäumte sich auf und sie tat mir richtig leid. Ich wusste, dass sie es so nicht gewollt hatte und dass sie diesen Kampf nicht bewusst führte. Mit neunzig hat man keine Lust mehr zu kämpfen. Sie schon gar nicht. Schon immer wusste sie Haltung und Würde zu bewahren und sie wusste auch immer wann es an der Zeit war, etwas aufzugeben und sei es das eigene Leben.

Ich hatte Mühe meine Tränen zu unterdrücken. Diese Situation machte mir Angst. Zynisch betrachtet bestand die Angst aber darin, selbst einmal so da zu liegen. Und vermutlich auch gegen den eigenen Willen dem Kampf der Natur ausgeliefert zu sein. Im wirklich ewigen Schlaf zu liegen, bis dann irgendwann der Tod eintrat. Ich streichelte sanft über ihre eingefallene Wange und für eine Sekunde reagierte sie auf die Berührung ohne zu wissen von wem sie kam, um dann wieder in den lähmenden Schlaf zu fallen.

    Ich liebte diese Frau solange ich mich erinnern konnte, obwohl wir nicht einmal verwandt waren. Am Anfang war sie die Nachbarin, die mal eben nach mir sah, wenn Mutter abends länger arbeitete. Dann war ich die Nachbarstochter, die Sonntags immer rüberging um ihr die Einsamkeit zu vertreiben, die sie gar nicht hatte. Aber Mutter war der Meinung, dass diese arme Frau, die Mann und Kind verloren hatte, an der Einsamkeit zerbrechen musste.

Und so war es mir zu einer lieben Gewohnheit geworden, immer Sonntags, erst bei Limo dann bei Kaffee über die Woche zu plaudern und über die Dinge, die so in der Welt geschahen.

Wir vertraten oft dieselbe Meinung. Etwas, was mich schon als Kind fasziniert hatte. Wie oft hatte ich das Gefühl von niemanden verstanden zu werden, außer von ihr.

    Einmal habe ich sogar eine Woche bei ihr gewohnt, da Mutter zu einer Weiterbildung musste. Es war schon was anderes, als die sonntäglichen Besuche, aber es war schön. Wir konnten stundenlang schweigend nebeneinander sitzen und Bücher lesen oder stricken. Ich habe diese Ruhe genossen, die mir sonst nicht vergönnt war.

Zu ihren Eigenarten gehörte es, dass es zwischen uns keinen Abschied gab mit offenen Fragen. Sie bestand regelmäßig darauf, dass wir mit klaren Aussagen auseinander gingen. Egal ob nun in dieser Woche, bevor ich in das Gästebett ging oder später, wenn ich ihre Wohnung verließ. Dies beinhaltete keineswegs, dass irgendjemand von uns vorher nachgeben musste. Im Gegenteil, unsere Streitgespräche waren legendär. Denn wenn wir eines gemeinsam hatten, war es der Stolz, der oft genug mit unserem Gerechtigkeitssinn kollidierte.

Zuerst fand ich es befremdlich, aber dann war es auch mir zu einer lieben Gewohnheit geworden. Und so sagte einer von uns beim Abschied immer: „Ich habe dir jetzt nichts mehr zu sagen.“ und der andere antwortete dann: „Na dann ist es ja gut.“

Nie werde ich das Gesicht von Mutter vergessen, die einmal Zeuge des Rituals wurde und glaubte, wir hätten uns hoffnungslos zerstritten und nicht verstehen konnte, warum wir dabei lächelten.

Mutter war es auch, die mich angerufen hatte und nun mit Tränen in den Augen neben mir stand. Sie hatte es gut gemeint, wie so oft. Vermutlich glaubte sie, dass ich meine ehemalige Nachbarin unbedingt noch einmal sehen wollte.

Aber sie und ich, wir hatte uns nichts mehr zu sagen. Und das war ein richtig gutes Gefühl.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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