Wolfgang Walther

Im Moor

Ein paar Minuten noch höre ich das Gekrächze der zwei Eichelhäher, bevor der Wald ihre Stimmen in seinen Chor aufnimmt und die heiseren Rufe eines von vielen Geräuschen wird.
Die beiden Vögel begleiten uns oft über längere Strecken auf unseren Spaziergängen und melden allen Waldbewohnern:
 „Vorsicht, seid auf der Hut! Es naht der Feind! Mensch und Wolf sind wieder im Wald! Flieht, solange ihr noch könnt!”
 Aufgeregt flattern sie von einem Ast zum anderen und können sich lange nicht beruhigen. Dabei sind wir die leisesten und friedlichsten Besucher des Waldes. Sorgfältig vermeiden wir jedes Geräusch, und nur ganz selten knackt  ein trockener Zweig unter meinen Füßen, rennt Jana raschelnd durchs Gestrüpp. Wenn auch meine Hündin manchmal einem Reh oder einem Hasen hinterhersaust, so wird es doch für diese Tiere nie gefährlich. Jana ist viel zu langsam. Sie sieht solch eine Jagd immer sportlich, und es macht ihr einen Riesenspaß. Das eindringliche Geschrei der Waldpolizisten ist also in unserem Fall völlig überflüssig.
Der Weg führt aus dem Wald, am Kornfeld entlang. Schwere, reife Ähren wogen im Sommerwind langsam hin und her. Es wird Zeit, dass der Roggen vom Halm kommt. Nass werden sollte er vor der Ernte nicht noch einmal. So gut wie in diesem Jahr stand das Getreide schon lange nicht.
Wir gönnen den Landwirten die gute Ernte. Oft genug ist es zu trocken oder zu feucht. Nicht wenige Schäden werden durch Wild verursacht. Reh und Schwein treten immer zahlreicher auf. Die Jagdpächter kommen kaum hinterher.
Helles Motorengeräusch unterstreicht die mich umgebende Stille. Hoch über mir kreist ein Ultraleichtflugzeug. Eines dieser drachenförmigen Segler auf Rädern mit einem winzigen Motor. Keine zehn Pferde würden mich in so eine Kiste bringen. Fliegen ja, aber nicht mit so einer Nähmaschine. Erst letzte Woche sind zwei dieser Selbstmordapparate abgestürzt. Überlebt hat nur ein Pilot.
Der Wind hat etwas zugenommen, bringt jedoch keine Kühlung. Schon den ganzen Tag ist es schwülwarm. Eigentlich erwarten alle ein Gewitter, aber am blauen Sommerhimmel ist kein Wölkchen zu entdecken. Regnen müsste es wieder mal, auch wenn es für die Getreideernte denkbar ungünstig wäre. Der Waldboden ist knochentrocken. Hoffentlich passiert nichts.
Heute habe ich etwas mehr Zeit. Kaffee gab es früher als sonst. Gleich darauf habe ich mir meinen Hund geschnappt und bin los. 
Vielleicht regnet es ja doch. Im Moment sieht es allerdings nicht danach aus, und ich entschließe mich, eine größere Runde zu gehen. Jana hat nichts dagegen. Sie läuft weit voraus, wartet aber vor jeder Biegung auf mich. Wieso geht sie überhaupt dort entlang? Dieser Weg führt zu den Waldteichen. Da waren wir eine Ewigkeit nicht.
Nach einem prüfenden Blick zum Himmel und einem weiteren auf meine Uhr akzeptiere ich den Vorschlag meines Hundes. Laut befehle ich ihr zu warten. Sie reagiert auch gleich beim zweiten Ruf und setzt sich. Zur Belohnung gibt’s ein leckeres Frolic.
„Leider muss ich dich an die Leine nehmen.”
Wir kommen gleich an eine Straße, der wir ein ganzes Stück folgen müssen. Da ist es besser, wenn mein Hund beim Anblick eines Autos oder Motorrades nicht auf dumme Gedanken kommen kann. Am Apfellager entschließe ich mich, einen Umweg in Kauf zu nehmen. Wir haben Zeit. Auf Asphalt gehen ist bei Sonnenschein nicht eben lustig.
Bis zur Apfelernte ist noch Zeit. Die leeren Container stehen gestapelt in Reih und Glied und warten auf ihren Einsatz. Sie werden in einem Monat sicher gut gefüllt sein. Die Bäume tragen schwer. Der überzähligen Früchte haben sie sich selbst entledigt. Unter manchen Bäumen liegen mehr Äpfel als an den Zweigen hängen. Wenn sie reif sind, werden wir wohl öfter hier vorbeikommen. Manche Sorten sind süß und saftig. Frisch vom Baum gepflückt schmecken die Äpfel am besten.
An die Reihen der Apfelbäume schließt sich eine kleine Kirschplantage an, deren Früchte längst abgeerntet sind. Auch Kirschen gab es reichlich.
Wir laufen am Rand der Kirschplantage in Richtung Schenkenberg und weiter den kleinen Weg durch die Kiefernschonung. Gut zweihundert Meter vor der nächsten Weggabelung biege ich scharf rechts in den Wald ab. Ein Fremder käme nie auf den Gedanken, hier entlangzugehen. Es gibt weder Weg noch Steg, der Boden ist in weitem Umkreis moorastig, dornige Ranken behindern das Vorwärtskommen. Nach der anhaltenden Trockenheit ist es allerdings nicht mehr ganz so feucht wie sonst. Dennoch lösen sich meine Schuhe bei jedem Schritt mit einem hässlichen Schmatzen aus dem Matsch. Nach nur wenigen Metern wird es trockener. Ich befinde mich auf einem schmalen Tritt (Weg wäre geschmeichelt für das enge Stückchen), der um den Teich herum verläuft.
Ich habe Jana jetzt vor mir. Für uns beide wäre nebeneinander kein Platz. Man muss sich nicht nur gut auskennen, sondern auch sehr genau achtgeben. Zu beiden Seiten des Pfades, der diesen Namen jetzt wieder verdient, ist nun kein Moorrast mehr, sondern hässlicher, dicker Sumpf. Leise blubbernd steigen kleine Blasen aus unergründlichen Tiefen nach oben und geben beim Platzen übelriechende Gase frei. Die Oberfläche dieser tückischen Brühe ist größtenteils mit Entengrütze bedeckt und lockt den ahnungslosen Spaziergänger in einen Hinterhalt. Aber hierher verirrt sich keiner.
Mir läuft es plötzlich kalt über den Rücken. Wieso gehe ich überhaupt hier entlang? Gibt es keine schöneren Wanderwege? Ich bin die Strecke automatisch, wie im Trance gelaufen. Abrupt bleibe ich stehen und schaue mich unschlüssig um. Jana sieht mich verständnislos an. Ich schwanke zwischen Umkehr und weiterlaufen.
‘Ach was! Nun sind wir einmal hier, da gehen wir auch weiter.’
Der Teich liegt linkerhand hinter einer undurchdringlichen, mannshohen grünen Schilfwand. Es gibt einen schmalen Durchgang zum Wasser, den jedoch niemand zu kennen scheint. Ich habe ihn zufällig bei einem Spaziergang entdeckt. Damals stolperte ich über eine Wurzel, die in diesem Moment aus dem Boden zu wachsen schien. Um das Gleichgewicht zu halten, machte ich einen Schritt zur Seite und versank nicht wie erwartet im Sumpf, sondern trat auf festen Boden. Durch vorsichtiges Tasten fand ich einen engen kleinen Weg durch das Ried und stand nach wenigen Metern vor dem Waldteich.
Seit jenem Tag komme ich immer wieder hierher. Etwas fasziniert mich an diesem Fleckchen Erde. Ist es die Abgeschiedenheit, die Ruhe, der Frieden, der an diesem Ort zu herrschen scheint? Ist es ein Zauber, der mich in seinem Bann geschlagen hat? Ich kann es nicht erklären, aber manchmal scheint mir, als lenken sich die Schritte ohne mein Zutun in Richtung des kleinen Gewässers.
Die Sonne hat sich hinter einem Dunstschleier verkrochen. Es ist noch drückender geworden. Rechts vom Weg verwandelt sich der anfängliche Mischwald in einen Birkenfriedhof. Zwischen vereinzelten, gesunden Bäumen, die auf kleinen grasbewachsenen Inseln stehen, liegen umgestürzte Stämme im Moor und recken ihre zersplitternden Reste nach oben. Obwohl ich schon oft hier war, erkenne ich nichts wieder. Fast als ob sich der Wald ständig verändert.
Jana trottet vor mir her. Ihr ist sichtlich unwohl. Irgendetwas scheint anders als sonst. Erst jetzt bemerke ich die völlige Lautlosigkeit, die mich schon eine Zeitlang umgibt. Kein Rascheln, kein Zwitschern, kein Blätterrauschen, nichts. Richtig unheimlich. Still ist es immer im Wald. Jedoch sind es die Hintergrundgeräusche, die eine Ruhe angenehm machen. Das leise Zwitschern der Meisen, der ferne Ruf des Kuckkuck, das unermüdliche Zirpen der Grillen. All das fehlt jetzt gänzlich. Die Stille ist schmerzhaft, fast unerträglich. Meine innere Stimme sagt mir, ich soll so schnell wie möglich von hier verschwinden. Blödsinn. Unwillig wische ich den Gedanken beiseite. Bisher haben mir Spaziergang und die besinnlichen Minuten am Weiher immer gut getan. Stets bin ich erfrischt und mit neuer Kraft vollgetankt nach Hause gegangen.
Da ist der Durchgang! Vor längerer Zeit habe ich einen starken, gegabelten Ast als Markierung mit einem Stein fest in den Boden geschlagen. Vorsichtig bei jedem Schritt nach dem Untergrund tastend, gehe ich auf den Schilfgürtel zu. Jana muss hinter mir laufen. Sie fügt sich willig. Wie von selbst gleiten die langen Halme auseinander. Sie streicheln mich sanft, liebkosen Gesicht und Arme. Am Weiher heißt mich angenehm kühler Lufthauch willkommen. Ein kleines, mit trockenen Gräsern bedecktes Fleckchen Erde lädt zum Verweilen ein. Erleichtert lasse ich mich zu Boden gleiten. Jana legt sich an meine Seite und schließt die Augen. Es droht keine Gefahr. Was für eine Gefahr denn? Was soll mir hier passieren? Hier bin ich sicher wie in Abrahams Schoß. Das ist ein Ort des Friedens und der Ruhe.
„Ja, hier findest du deine Ruhe!”
Was war das? Hat jemand zu mir gesprochen?
Erschreckt suche ich das Ufer ab. Nichts! Wer sollte hier auch sein? Außer mir kennt diesen Ort keiner. Anderenfalls hätte ich längst schon Spuren ungebetener Gäste entdeckt. Leere Getränkedosen, Kaugummipapier, Zigarettenschachteln. Müll halt, wie ihn jeder zivilisierte Mensch überall hinterlässt. Nichts davon war bis jetzt zu finden. Das ist auch gut so. Ich möchte dieses Fleckchen Erde mit niemandem teilen. Der Platz gehört mir.
„So soll es sein!”
Wieder war mir eben so, als hörte ich eine Stimme deutlich und klar diese Worte sagen.
‘Mach dich nicht verrückt’, sage ich mir.
Langsam sinke ich auf meine Ellenbogen zurück, strecke mich auf dem weichen Boden aus und tue es dem Hund gleich. Mit geschlossenen Augen atme ich die würzige Waldluft. Von der Wasseroberfläche steigt ein süßer und zugleich schwerer Duft, vermischt sich mit dem Geruch des Sommertages und bringt mich zum Träumen. In der Luft schwingt ein feiner, heller Ton. Fast wie das Summen dieses winzigen Flugzeugmotors vorhin und doch wieder ganz anders. Unwirklich, fremd und zugleich wundervoll entspannend.
Als ich erwache ist es Abend.
Ich habe bestimmt zwei Stunden geschlafen. Jetzt aber los. Meine Frau wird sich schon Sorgen machen. Jana liegt immer noch neben mir. Schläft und rührt sich nicht. Komisch! Meine Glieder sind steif vom Liegen auf dem Waldboden. Mühsam erhebe ich mich, klopfe mir den Hosenboden sauber und starre gebannt auf den Weiher. Die sonst lückenlose Decke aus Entengrütze ist aufgerissen. Das anfangs tellergroße Loch in der Mitte wird rasch größer, bis zu einem Durchmesser von ein, zwei Metern, bleibt kurze Zeit, vergrößert sich weiter, bis es etwa vier Meter erreicht hat. Kreisrund und glatt wie ein Spiegel.
Obwohl  kein Lüftchen weht, kräuselt sich jetzt die Wasseroberfläche, wird wellig, schwingt in sanften Wogen vom Zentrum zu mir. Nur in meine Richtung! Gegenüber bleibt der Teich völlig ruhig. Das gibt es doch gar nicht! Ich stehe am Ufer. Die Wellen werden länger und kräftiger. Benetzen meine Füße. Ich will umdrehen und davonlaufen, kann mich jedoch nicht von der Stelle rühren. Der Hund schläft noch immer da. Spürt er nichts? Jana mit ihren feinen Sinnen hätte doch schon längst Alarm schlagen müssen. Sie rührt sich kein Stück. Über dem kreisrunden Loch tanzen Nebelschwaden, verdichten sich. Es flimmert.
Das Summen ist lauter geworden, durchdringender und scheint von überallher zu kommen. Die Wellen umspülen meine Knöchel, angenehm schmeichelnd und lockend. Von der Mitte her hat sich ein schmaler freier Korridor in der Entengrütze gebildet, der in gerader Linie zu mir führt. Ich kann mich noch immer nicht bewegen. Der Nebel formt sich, bildet wirre Figuren, ballt zusammen, löst sich auf. Das Summen ist an der Grenze des Hörbaren angelangt und schmerzend hell. Aus den tanzenden Schleiern löst sich ein Gesicht, verweht, kommt wieder, wird deutlich und bleibt. Der Anblick raubt mir fast den Verstand.
Sollte es irgendwo im Universum vollkommene Schönheit geben - dann hier!
Sollte es jemals einen Ort gegeben haben, zu dem ich unterwegs war - dann dieser!
Sollte jemals ein Mensch auserwählt worden sein - dann ich.
„Du kommst spät.”
Die Worte wehen über das Wasser, treffen auf meine Haut, dringen in mich ein und lösen mich auf. Mein Körper wird transparent, schwerelos und hört auf zu existieren. Mein Geist schwingt sich auf Engelsflügeln empor in den azurblauen Himmel und schwebt im Nirgendwo.
Wer bin ich?     Wann bin ich?     Warum bin ich?
In mir ist das größte Glücksgefühl, das man empfinden kann. Es gibt nur diesen Augenblick, und er dehnt sich zur Unendlichkeit. Ich weiß nichts und doch alles. Ich bin Mensch und Gott zugleich. Die Welt ist mein. Ich kann sie haben, wenn ich will. Es genügt ein Wimpernschlag. Tief unter mir stehe ich am Rand des Weihers, über dessen Oberfläche das unglaublichste Wesen schwebt, das jemals existierte - die Moorhexe.
Seidig glänzendes Haar wellt ihr mahagonifarben bis weit über die Hüften. Hauchzarte Schleier spielen in ständiger Bewegung mit ihrem Körper. Ein schmales, goldenes Band, besetzt mit tausend winzigen Edelsteinen umspannt ihre Stirn. Ihre Haut hat die Farbe des Erntemondes um Mitternacht. Ihr Lächeln zu beschreiben, fehlen mir die Worte. Ich sehe sie an und verliere mich in ihrem Blick. Ihre Augen wechseln vom Blau der Südsee zum Grün der saftigen schottischen Wiesen und wieder zurück. Sie schaut mich an und weiß alles von mir. Ihr Blick dringt in den letzten Winkel meiner Seele. Sie taucht in mich ein und ich in sie. Hinter ihr hat sich das Tor zur Ewigkeit geöffnet, und sie bietet mir ihre Hand zum Geleit. Meine Sehnsüchte, meine Träume und meine Hoffnungen - alles ist in diesem Augenblick. Alles ist leicht und klar. Ich brauche nur einen Schritt zu tun und bin frei.
„Aber nun bist du hier und das ist gut.”
Die Worte wischen den letzten Gedanken an etwas anderes als das Hier und Jetzt hinweg. Mein Wille weht auseinander, wie eine Pusteblume im Wind. Tief in mir habe ich es immer gewusst. Sie war es, deren Stimme mich seit langem erreichte. Sie lenkte meine Schritte. Bei meinem ersten Besuch legte sie den Samen der Sehnsucht in mein Herz, und unmerklich war dieser aufgegangen. Jetzt ruft sie mich. Ihrem Ruf kann ich nicht widerstehen und will es auch nicht. Wie konnte ich bisher nur leben?
„Komm!”
Lockend hallt es herüber und löst meine Erstarrung. Langsam gehe ich vorwärts. Das Wasser umspült meine Waden, reicht bis ans Knie. Es ist sanft und seidig. Der Grund fällt hier gleich steil ab, bis ins Bodenlose. Ich weiß es von einem Bad, dass mich im vorigen Jahr an einem heißen Sommertag erfrischte. Heute jedoch gehe ich nicht zum Schwimmen hinein. Ich zögere, will umdrehen.
„Komm!”
Plötzlich ist sie ganz nah, reicht mir die Hand und zieht mich zu sich. Ein Hauch frischer Bergwiesen erfüllt die Luft. Ihre Schleier streifen meine Wangen. Das Haar wechselt vom Mahagoni zum Tizianrot. Ihre Augen sind nun Tiefgelb und lassen mich nicht mehr los. Alles was bis heute wichtig schien, existiert nicht mehr. Ich bin am Ziel.
Wütendes Gebell reißt mich aus meinem Traum. Mühsam öffne ich die Augen. Bis zu den Knien stehe ich im Wasser, kurz vorm Abhang im Teichgrund. Am Ufer hinter mir bellt sich mein Hund die Seele aus dem Leib. Janas Nackenhaare sind aufgerichtet, der Schwanz zuckt nervös hin und her, sie fletscht die Zähne. So wütend habe ich sie noch nie gesehen. Ich drehe mich um und starre entsetzt auf das Wasser.
Die Entengrütze ist aufgerissen. Das Anfangs kleine Loch wird rasch größer, erreicht einen Durchmesser von ein, zwei Metern. Bleibt ein paar Sekunden, wächst weiter auf drei, vier Meter. Blasen steigen hoch, erzeugen Wellen, die in leichten Schwingungen mich erreichen. Ein frischer Duft weht über das Wasser.
Nach Sekunden der Erstarrung kann ich mich von dem Anblick losreißen und ans Ufer springen. Jana bellt immer noch. Ich nehme sie an die Leine und ziehe sie hinter mir her zum Durchgang. Aber der ist verschwunden! Ich bin gefangen!
Jana schnuppert am Rand. Zielsicher dringt sie in das Schilf ein und ich folge ihr blindlings. Die hohen Halme schlagen mir von beiden Seiten ins Gesicht, während ich in Panik den winzigen Pfad entlanghaste. Endlich sind wir draußen, wieder auf dem schmalen Rundweg. Ohne nachzudenken wende ich mich in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Jana findet auf der eigenen Spur sicher zurück, ohne im Sumpf zu landen. In der Luft ist wieder dieses durchdringende Summen, und aus weiter Ferne, gleich einem Hauch, glaube ich einen leisen Abschiedsgruß zu hören.
„Bis bald”, ruft es.
"Ich warte auf dich.”
Im gleichen Moment schießt eine Hand aus dem Moorrast, umklammert mein Fußgelenk und bringt mich zu Fall.
’Jetzt ist es aus’, kann ich gerade noch denken, ehe ich in voller Länge hinschlage. Mit Kopf und Oberkörper ins brackige Wasser. Ich rapple mich wieder hoch und renne weiter. Die Hand war nur eine knotige alte Wurzel. Jana ist weit voraus. Sie läuft, als wäre der Teufel hinter ihr her. Ich bin nicht weniger schnell. Fast gleichzeitig erreichen wir die Kiefernschonung. Ich kann nicht mehr. Auch Jana hechelt wie eine Dampflokomotive. Wir sind fix und fertig und lassen uns ins Gras fallen. Das Summen wird wieder lauter und schwillt weiter an, bis es schmerzhaft in den Ohren dröhnt.
’Sie lässt dich nicht geh’n’, denke ich.
Wie konnte ich nur annehmen, der Moorhexe zu entkommen. Lächerlich! Im gleichen Moment schießt der rote Rettungshubschrauber des DRK über uns hinweg und nimmt das schmerzende Geräusch mit sich fort. Meine Angst entlädt sich in einem lauten idiotischen Lachen. Das Herz rast wie ein Dampfhammer. Sicher liegt der Puls bei einhundertsechzig oder mehr. Wären meine Sachen nicht vom sumpfigen Wasser nass geworden, hätte sie bestimmt der Angstschweiß völlig durchweicht. Noch dazu sehe ich aus, als hätte ich mindestens eine Woche im Wald übernachtet. Meine Frau wird sich freuen. Tüchtig schimpfen wird sie und mich vor allem gehörig auslachen. Recht hat sie. Ich habe ihr nie von dem kleinen Weiher erzählt. Es sollte mein Geheimnis sein. Und wer weiß, vielleicht wäre ich doch noch auf mystische Kräfte gestoßen. Vorerst jedoch bin ich von solchen Gedanken kuriert.
Ich liege einfach da und sehe in den blauen Himmel. Mein Gott, was habe ich mir da zusammen fantasiert. Aber der Traum war so real, fast zum Greifen. Unwillig schüttle ich den Kopf. Schuld an dem Ganzen sind nur meine spinnerten Gedanken, meine ständige Suche nach dem Mystischen und meine Bereitschaft, daran zu glauben. Langsam werde ich ruhiger. Höchste Zeit für den Nachhauseweg. Ich habe zwar angekündigt, dass es später wird, jedoch macht sich meine Frau bestimmt schon Sorgen. Es ist bereits Abend. Die Sonne hat sich hinter einer Wolkendecke versteckt. Vereinzelt fallen erste dicke Tropfen.
Unterwegs habe ich genügend Zeit zum Nachdenken. Ich entschließe mich, meiner Frau nichts von meinem Erlebnis zu berichten. Meinen Zustand werde ich mit einem Sturz am Wässerungsbrunnen in der Apfelplantage erklären, durch die wir noch gehen müssen.
Werde ich dem Weiher noch einen Besuch abstatten?
Nun, wer kann schon sagen, was geschieht.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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