Hast du ihn schon mal gesehen, deinen Seelenvogel? Meinen
sehe ich oft; er sitzt auf meiner Schulter, oder er kreist hoch über mir unter
dem blauen Himmel. Manchmal ist er dann nur als ein kleiner Punkt zu erkennen.
Und wenn ich ihn mal überhaupt nicht sehen kann, höre ich an seinem Schrei,
dass er über mir ist.
Es ist ein merkwürdiges Ding mit diesem Vogel. Ich weiß
nicht, ob ich ihn wegen seiner Buntheit mit einem Papagei vergleichen soll oder
mit einem Falken ob seiner Flugeigenschaften. Die Ironie treibt mich sogar zum
Vergleich mit einem Chamäleon. Denn es gab Zeiten, da erschien mein Seelenvogel
mir schwarz wie eine Krähe oder gar als ein gerupftes Huhn.Damals hätte ich ihn gerne umgetauscht. Aber irgendwie geht
das nicht, seine Treue ist nicht auf andere Menschen übertragbar. Also musste
ich lernen, mich mit ihm abzufinden und dann, mit ihm umzugehen.Als ich ihn das erste Mal bemerkte, saß er in einem Käfig
auf dem Boden in der hintersten, dunkelsten Ecke. Schwarz erschien das Gefieder
und stumpf, und die Flügel hingen ihm an den Seiten hinab. Traurig schaute mein
Seelenvogel mich durch die Gitterstäbe an, kraftlos wirkte er dabei. Mit ein
paar leckeren Brocken, die ich ihm vorwarf, versuchte ich zwar, ihn zu Kräften
zu bringen, aber wir beide hatten wohl verschiedene Vorstellungen von dem, was
ihm schmecken würde.Die erste Veränderung in seinem Verhalten bemerkte ich, als
ich einmal die Käfigtür öffnete. Es schien mir, als würde er aufmerksamer
blicken – irgendwie wacher als sonst. Als ich dann bei geöffneter Tür ein paar
Schritte zurück trat, schien seine Haltung sich zu straffen. Als ich die
Käfigtür wieder schloss, sackte er in seiner Ecke wieder in sich zusammen. Ich
vermutete, er wartete nur auf eine günstige Gelegenheit, mir zu entwischen, der
Schlingel.Doch so, wie er da saß, konnte es auch nicht weiter gehen.
Umso mehr ich ihn wahr nahm, desto mehr tat er mir leid, der arme Kerl. Eines
Tages beschloss ich deshalb, mich von ihm zu verabschieden. Irgendwie hatte ich
ja so gar nichts von ihm. Also ließ ich die Käfigtür offen und zog mich von
seinem Gefängnis so weit zurück, dass ich’s gerade noch beobachten konnte.Diesmal hatte ich nicht nur das Gefühl, er würde sich
straffen, sondern ich sah es ganz deutlich. Langsam tastete er sich an die
offene Tür heran und hüpfte dann mit einem Satz auf die kleine Stange, die als
eine Art Schwelle davor befestigt war. Dort traf ihn das erste Mal das
Sonnenlicht, und ich erkannte, dass er gar nicht schwarz war, sondern ein
buntes Gefieder hatte. Es glänzte zwar nicht und tendierte ein wenig ins Grau,
doch die Farbigkeit war nicht mehr zu übersehen.Sein erster Flugversuch endete beinahe schon so 15
Zentimeter vom Käfig entfernt in einer Bauchlandung. Aber nur fast – irgendwie
schaffte er es dann doch, mit aufgeregtem Flügelschlag der Kollision mit dem
Boden zu entgehen, höher in die Luft zu steigen und sich aus meinem Sichtfeld
zu entfernen.Ich saß einfach da, und ließ meine Gedanken mit ihm
fliegen...Baff erstaunt sah ich etwas später, dass er zurück kam.
Punktgenau landete er auf seiner Stange. Er schien sehr außer Atem. Das
Gefieder war ein wenig zerzaust, in seinem kleinen Brustkorb sah ich das Herz
bullern, und pfeifend vernahm ich seinen durch den Schnabel gepressten Atem.An diesem Tag ließ ich die Käfigtür offen. Und auch an jedem
folgenden Tag. Mir gefiel die Veränderung, die ich an meinem Seelenvogel
beobachten konnte. Mehr und mehr begann sein Gefieder samten zu leuchten, und
irgendwann sang er sogar – ich hatte den Eindruck, es wäre für mich.Seit ich ihn fliegen lassen kann, meinen Seelenvogel, macht
es mir Spaß, mich daran zu erfreuen, dass er lebt – dass er ist. Die Freude
darüber hat die Angst vertrieben, ihn zu verlieren. Und es ist ein echt gutes
Gefühl, mit einem solchen Seelenvogel zu leben. Schau mal, wie er fliegt...
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Robert Kuehl).
Der Beitrag wurde von Robert Kuehl auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.09.2005.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Robert Kuehl als Lieblingsautor markieren
Payla – Die Goldinsel II
von Pierre Heinen
Sobald der Winter vorbei ist, wird der Kampf um die Goldinsel Payla beginnen. Zwei Reiche werden sich gegenüberstehen und die Welt auf Jahre hinaus in ein Schlachtfeld verwandeln ...
Oder gibt es jemanden mit diplomatischem Geschick, der einen solch blutigen Krieg verhindern kann?
Pierre Heinen, Jahrgang 1979, ist seit frühester Jugend begeistert von Geschichtsbüchern und Verfasser unzähliger Novellen. In Form des zweiteiligen „Payla – Die Goldinsel“ veröffentlicht er seinen Debütroman im Genre Fantasy. Der Autor lebt und arbeitet im Großherzogtum Luxemburg, was in mancher Hinsicht seine fiktive Welt beeinflusst.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: