Nia Limthawin

Lauf der Zeit

"Heute ist unser Hochzeitstag ... unser 21. Hochzeitstag ...", hörte Tom seine Frau Celine mit brüchiger Stimme sagen.
Er schaute sie über seine Zeitung hinweg an und runzelte verwirrt die Stirn. Ihr Blick war gesenkt und er meinte eine Träne über ihre Wange kullern zu sehen. Er beobachte, wie sie ein Brötchen zu ihrem Mund führte und ein Stück abbiss. Zitterte ihre Hand? Was hatte sie denn? Er durchforstete sein Gedächtnis ...
Ja, sie hatte Recht. Heute vor 21 Jahren hatten sie geheiratet. Eine Traumhochzeit. In ihrem langen, weißen Kleid hatte sie wie eine zauberhafte Elfe ausgesehen ...
 
Er hörte sie ein Schluchzen unterdrücken. Was machte sie denn grade für einen Aufstand? Seit Jahren schon übergingen sie diesen Tag. Es war immer ein Tag wie jeder andere auch. Hatte sie etwa ein Geschenk erwartet? Sie wich sich mit dem Handrücken über die Wangen. Sie weinte also tatsächlich! Zum ersten Mal seit langer Zeit schaute er nicht durch sie hindurch, nein er schaute sie an und er sah sie auch. Er fragte sich, wann im Laufe der Zeit sie sich so sehr verändert hatte. Er hatte es nicht mitbekommen.
 
Als er sie vor 25 Jahren zum ersten Mal sah, hatte er sich augenblicklich in sie verliebt. Ihr weizenblondes Haar hatte ihn schon von Weitem geblendet und ihr helles, herzhaftes Lachen hatte wie Musik in seinen Ohren geklungen. Ihre blau grünen Augen hatten ihn an die Farbe des Ozeans erinnert. Er hatte seine Augen nicht von ihr wenden können. Fasziniert hatte er ihren schwebenden Gang beobachtet, bei dem ihr Haar immer leicht flatterte. Sie hatte es verstanden ihn zum Lachen zu bringen und seine ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen ...
 
Ein weiteres Schluchzen, dass sie nun nicht mehr zurückhalten konnte, riss ihn aus seinen Erinnerungen. Nun sah er sie etwas genauer an. Um ihre Augen hatten sich Fältchen gebildet. Aber das war ja vielleicht nichts Außergewöhnliches, schließlich war sie schon 42 Jahre alt. Sie schien es bemerkt zu haben, dass er sie fixierte, denn sie hob den Blick und schaute ihm in die Augen. Nur kurz, dann vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und schluchzte vehement. Sie hatte immer noch diese blau grünen Augen, fiel ihm auf, aber das lebendige Funkeln von einst, dass war nicht mehr da. Ihr Haar war zerzaust und graue Strähnchen zogen sich dadurch. Erst jetzt fiel ihm auf, wie wenig er sie in den letzten Jahren beachtet hatte. Die Frau, die er sah, schien ihm so ... fremd. Sie weinte mittlerweile so heftig, dass ihr ganzer Körper bebte. Er legte die Zeitung weg und ging um den Tisch. Er kniete sich, damit er mit ihr auf Augenhöhe war. Sie schaute ihn mit nassem Blick an. Erstaunt, ja, sie war eindeutig erstaunt. Nun, er war es ja genau so überrascht! Wann war er ihr das letzte Mal so nah gewesen? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern ...
 
Er hob seinen Arm und wollte ihr über den Rücken streicheln. Er wollte sie trösten ... Aber –war er nicht der Grund all ihrer Tränen? Es war ganz offensichtlich, dass er ihr weh getan hatte. Seine Unaufmerksamkeit und seine Distanz waren ihr sicherlich nicht gleichgültig gewesen. Warum hatte er sich überhaupt so verhalten? Er wusste es selber nicht. Irgendwann hatte er sie durch all den grauen Alltag einfach nicht mehr wahrgenommen. Es verwunderte ihn ein wenig, denn jetzt, wo er sie so ansah, ihr so nah war, fand er sie immer noch schön. Nicht so schön wie früher, sondern anders schön. Sie strahlte Reife, Klugheit und Wärme aus. Aber auch Zerbrechlichkeit ... Er ahnte, dass er es war, der sie zerbrochen hatte. Warum hatte er das getan?! Er liebte sie ... Er hatte es zeitweilig vergessen, zugegebenermaßen, aber er hatte nie aufgehört sie zu lieben, das spürte er jetzt ganz deutlich. Jetzt, wo er den süßen Mandelmilchduft ihrer Haare einatmete. Jetzt, wo er ihr hübsches Gesicht sah. Außer den paar Fältchen um ihre Augen, war ihre Haut straff und er verspürte den Wunsch sie zu berühren.Zögernd streichelte er ihr über den Rücken.
 
Sie schniefte, dann sagte sie: "Wenn wir Kinder gehabt hätten, dann wären wir vielleicht glücklich gewesen." Sie schluchzte immer weiter.
"Wir waren doch glücklich!"
Sie schüttelte den Kopf. "Ich nicht... Am Anfang, ja da war ich sehr glücklich. Aber mit der Zeit war ich nur noch einsam ..."
Er schloss kurz die Augen, schluckte und kämpfte gegen Tränen an, die in ihm aufstiegen.
"Es tut mir so Leid, Celine. Aber du musst mir glauben, dass ich dich immer geliebt habe und noch immer liebe. Und wir waren in der Vergangenheit vielleicht nicht sonderlich glücklich –aber wir werden es in der Zukunft sein!", sagte er, nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuss.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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