Der erste Schnee
Er hatte sich schon lange angekündigt, der erste Schnee.
Seit Tagen fror es, und sein Geruch lag in der Luft. Seit heute morgen standen
die Wolken tief am Himmel, dunkel und so schwer, als würden sie vom Himmel
fallen wollen. Windstill war es, doch die Luft so klar, dass sie mich zu diesem
Waldspaziergang verführt hatte.
Raschelnd fuhren meine Füße durch das trockene Herbstlaub; ein
wenig holperig zu gehen war der gefrorene Waldweg. Wie kleine Nebelwölkchen
stob mein Atem aus dem Mund und stieg empor, so, dass mein Blick, der ihm
folgte, durch die kahlen Wipfel der Buchen immer wieder den fruchtbaren Himmel
erblickte.
Still war es, als hätten die Tiere sich in warme Behausungen
zurück gezogen - selbst die Luft schien still zu stehen. Die erste Flocke
spürte ich auf der Nase, die weiteren sah ich auf mich zufliegen - verhalten
erst und ziemlich klein. Wenn man genau hinhörte, vernahm man das feine
Rascheln der Schneeflocken im Laub.
Doch die Flocken wurden dicker. Fett und fruchtig und in
immer größerer Zahl sanken sie um mich herum zu Boden, wurden dort zu einem
feinen Schleier, der, umso dichter er wurde, die Farben des Unterholzes mehr
und mehr verbarg.
Ich freute mich auf die Zeit des Nach-Schneiens - auf jene
kurze Spanne, in der die Welt wie unberührt da liegen würde in ihrem weißen
Kleid. Das Kind in mir würde Spuren in den Schnee treten wollen oder toben in
dem feinen Pulver, das noch zu jung wäre, um aus ihm einen Schneemann zu
formen.
In der Stadt würde dieser Schnee schon bald die Kinder von
den Spielekonsolen ins Freie locken. Der Schlitten wäre wieder eines der
Spielzeuge, das sich über Generationen bewahrt hat. Und der Verkehrslärm wäre
angenehm gedämpft.
Ich muss an weiße Weihnachten denken - an das Gedicht von
Matthias Claudius und einen Spaziergang durch die Straßen, die gerade am
Heiligen Abend wie ausgestorben scheinen. Die Fenster, die goldenes Licht auf
die Straße werfen und hinter denen man so manchen erleuchteten Baum sieht.
Friedlich wirkt das, wenn man nicht darüber nachdenkt, wie es Menschen
"unfriedlich" geht. Der alten Frau zum Beispiel, die ich Samstags
beim Einkaufen treffe und von der ich weiß, dass sie eigentlich niemanden hat
außer dem kleinen kläffenden Hund, mit dem sie spricht. Fühlt sie jetzt
friedlich? Oder die Schwester im Städtischen Krankenhaus, die kranken Menschen
das Sterben erleichtern hilft. Der abgerissene Mann, der mich vor ein paar
Tagen anbettelte "Hast' ma' 'ne Mark?" Oder auch die Frau, die
angstvoll ihren Mann erwartet, der wieder betrunken aus der Kneipe nach Hause
kommen wird? Was denken Kinder in solchen Momenten und was denken die Kinder,
die Weihnachten als Waisen in Wohneinrichtungen erleben?
Was denkst du, die in meinen Gedanken am erleuchteten
Wohnzimmerfenster steht und auf den Marktplatz hinunter blickt? Ja, jetzt,
gerade jetzt kann ich dich sehen. Siehst du die schemenhafte, dunkle Gestalt,
die still im Schneefall verharrt? Ich wünsche mir sehr, dass du mich siehst.
So, wie ich dich und die anderen Menschen sehen will...
Es ist kalt geworden, die Dämmerung setzt ein und die Kälte
kriecht über meine Beine den Körper hinauf. "Ich bin froh, dass es dir gut
geht," denke ich und lenke meine Schritte heimwärts, deren Spuren der
fallende Schnee schon bald überdeckt.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Robert Kuehl).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.09.2005.
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