Marco Schülke

Weihnachtsabend


Stickig war die Luft im Zugabteil und warm. Tamara öffnete das Fenster ein wenig und genoss die frische Kühle der Abendluft.
‚Wieder ein Weihnachtsabend unterwegs’ dachte sie sich. Vor dem Fenster huschte ein verschneites Dorf vorbei. Überall leuchteten Weihnachtsbäume.
Aber es war ihr schon lieber hier zu arbeiten, als alleine zu Hause zu sitzen und frustriert darüber nachzudenken, warum sie alleine war. Dabei war sie keineswegs unansehnlich.
Ganz im Gegenteil: lange, dunkelschwarze, glatte Haare, 65 Kilo auf 168 cm
sehr gut verteilt. Nun gut, einen größeren Busen hätte sie gerne gehabt, aber irgendwie passte an ihr alles zusammen fand sie.
Die Einfahrt in den nächsten Bahnhof riss sie aus ihren Gedanken. Sie ordnete schnell die Uniform und ging zum Ausstieg. Sie schaute über den Bahnsteig. Keiner, der mehr aus- oder einsteigen wollte und nur eine Tür geöffnet. Sie gab das Signal zum Abfahren, die Lok pfiff zweimal und dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung.
Tamara ging in ihr Abteil, nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und machte sich auf den
Weg, um den neuen Fahrgast zu suchen.
Zwei Wagen weiter vorne entdeckte sie ihn in einem Schlafwagenabteil.
Irgendwie hatte sie das Gefühl ihn zu kennen, aber sie wusste nicht woher. Und so einen Mann hätte sie sich bestimmt gemerkt. Er war bestimmt kein Adonis aber irgendetwas an ihm sorgte dafür, dass ihre Gefühle in ein Chaos stürzten. Kurze, dunkelblonde Haare, etwas größer als sie und ein angenehmer Kuschelbauch. Nein, er war bestimmt nicht dick, aber irgendwie kuschelig. Seine großen, dunklen Augen strahlten so eine Wärme aus, dass sie gar nicht aufhören konnte sie anzusehen.
Er bemerkte, dass er beobachtet wurde, drehte sich etwas und schaute ihr genau in die Augen.
Dieser Blick ließ sie in die Knie sacken. Er reagierte schnell, stand neben ihr und hielt sie fest.
Der sachte aber doch bestimmte Druck seiner Hände war zu viel für sie. Alles begann sich zu drehen und ihr wurde schwarz vor Augen.
Als sie wieder zu sich kam, hatte er sie vorsichtig auf das untere Bett seines Abteils gelegt
und unter ihren Beinen entdeckte sie seinen Koffer.
„Sie waren ohnmächtig, geht es ihnen nicht gut ?“ fragte er. Seine ruhige und tiefe Stimme vibrierte regelrecht in ihrem Bauch. ‚Bloß nicht schon wieder ohnmächtig werden’ ermahnte sie sich selbst. „Es geht schon, Danke !“ Sie stotterte ein wenig, aber irgendwie ging es ihr tatsächlich schon wieder besser. Sie fühlte sich wohl und geborgen in seiner Nähe.
Es war schon komisch, seit 8 Jahren arbeitete sie jetzt bei der Bahn, einige tausend Fahrgäste
hat sie gesehen, aber so was hatte sie noch nie erlebt. Irgendwie war er anders als alle Anderen.
„Äh, ich wollte eigentlich ihre Fahrkarte kontrollieren.“ sagte sie.
„Das habe ich mir gedacht“ sagte er und kramte in seiner Tasche.
Es dauerte einen Moment, bis er die Fahrkarte fand, er reichte sie ihr und ohne wirklich
drauf zu schauen, entwertete sie sein Ticket.
„Wie kommt es, dass eine so junge und schöne Frau am heiligen Abend arbeitet ? Haben sie denn keine Familie, die auf sie wartet ?“ wollte er wissen.
Sie hatte sich inzwischen wieder hingesetzt.
„Mein letzter Freund hat sich vor 4 Wochen eine andere gesucht und mich sitzen lassen.
Nein, zu Hause gibt es niemanden, der auf mich wartet ! Leider !“
Die Erinnerungen an eine schönere Zeit kamen in ihr hoch, und sie musste anfangen zu weinen. Irgendwie schämte sie sich nicht mal ihrer Tränen, obwohl er doch ein Fremder war.
Er gab ihr ein Taschentuch und setzte sich ihr gegenüber.
„Wenn sie reden wollen, dann höre ich ihnen gerne zu, wir haben ja Zeit. Der nächste Bahnhof kommt erst in vier Stunden.“ sagte er und beobachtete sie interessiert.
Nachdem sie die Tränen getrocknet und die Nase geschnaubt hatte, fing sie an zu erzählen.
„Wir waren fast 3 Jahre zusammen. Nach zwei Monaten sind wir zusammen gezogen und dann ging es irgendwie alles automatisch. Jeden Tag das Gleiche. Aufstehen, Frühstück, arbeiten gehen, nach Hause kommen und mit der Zeit redeten wir immer weniger miteinander. Alles wurde Routine auch unser Intimleben wurde immer langweiliger.
Und dann vor vier Wochen war er plötzlich weg. Nur ein Zettel auf dem Tisch: ‚Ich hab ´ne Neue ! Machs gut.’ da ist meine Welt zusammen gebrochen.“
Wieder kullerten ihr die Tränen übers Gesicht.
„Und, nun sind sie allein und wissen nix Besseres mit dem Weihnachtsabend anzufangen, als zu arbeiten ?“
„Was soll ich denn sonst machen ? Alleine zu Hause sitzen und heulen ? Da geh ich doch lieber arbeiten.“ sagte sie etwas trotzig.
„Und verpassen dabei ihr Leben ! Schauen sie doch mal aus dem Fenster ! Sehen sie, da draußen ist das Leben. Sehen sie wie es vorbeifliegt ?!“
Sie fand es etwas unfair, was er sagte und doch spürte sie, dass er irgendwie Recht hatte.
„Wenn ich heute nicht gearbeitet hätte, hätte ich sie nicht getroffen. Und dieses Gespräch hätte nie statt gefunden.“ entgegnete sie ihm.
Er runzelte die Stirn. „Hätten sie einen Wunsch frei, wie würde der aussehen ?“
„Ich weiß es nicht, darüber mach ich mir auch keine Gedanken mehr. Wer sollte mir den auch erfüllen ? Ich glaub nicht mehr an den Weihnachtsmann !“ sagte sie zynisch.
„Muss man denn an den Weihnachtsmann glauben, nur um sich was zu wünschen ? Sie können doch nicht wunschlos sein, nur weil das Leben nicht immer so läuft, wie sie es sich vorstellen !“
„Sicher muss man nicht an ihn glauben, um sich was zu wünschen, aber es macht’s leichter
wenn man Hoffnung hat, dass sich Wünsche auch erfüllen.“
„Versuchen sie es doch mal. Wünschen sie sich was. Etwas das aus tiefstem Herzen kommt !“
Sie musste etwas überlegen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ja, es gibt etwas, das ich mir wünschen würde !“ sagte sie. Er nickte leicht und sagte „ Sehen sie, es ist doch gar nicht schwer.“
Sie schaute aus dem Fenster und sah die Lichter der Stadt.
„Hier muss ich aussteigen.“ sagte er. Sie nickte und irgendwie merkte sie, dass sie der Gedanke traurig machte. Und doch hatte sie das Gefühl, ihn wieder zu sehen.
Der Zug fuhr in den Bahnhof und sie brachte ihn zur Tür.
„Machen sie es gut.“ sagte sie „ Es war ein sehr angenehmes Gespräch, ich danke ihnen !“
„Nix zu Danken, und ein schönes Weihnachtsfest wünsche ich ihnen !“ erwiderte er.
Einige Fahrgäste stiegen aus und ein, dann gab sie das Signal zur Abfahrt.
Sie ging in ihr Abteil, brachte ihr Aussehen in Ordnung und wollte gerade losgehen, um die
Fahrkarten zu kontrollieren, als ein junger Mann an ihre Tür klopfte.
Sie erstarrte. Er sah fast genauso aus, wie sich ihren Traummann immer vorgestellt hatte.
Ihr schossen die letzten Stunden durch den Kopf, der Unbekannte, von dem sie nicht mal wusste wie er hieß, ihr Wunsch…. Nein ! Sofort verwarf sie diesen Gedanken. Das war einfach unmöglich. Sie öffnete die Tür und stand dem jungen Mann gegenüber.
‚Oh man, dieser Duft… Ein aufregendes Eau de toilette !’ dachte sie. Irgendwie stimmte alles an ihm. „Verzeihen sie, ist das eine Überraschung der Bahn für Weihnachtsfahrgäste, oder hat das einfach jemand vergessen ?“ fragte er mit einer Stimme, die ihr wohlige Schauer über den Rücken jagten, und hielt eine rote Mütze mit weißem Flauschrand in die Höhe.
„Wo haben sie die Mütze denn gefunden ?“ fragte sie.
„Na in meinem Schlafabteil, zwei Wagen weiter vorne…“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.09.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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