Germaine Adelt

Große Brüder

    Als er plötzlich grinsend vor ihr stand, ahnte sie insgeheim, dass er keine guten Absichten verfolgte. In der Größe überragte er sie um einiges und sein Gewicht entsprach mit Sicherheit dem doppelten von ihren fünfzig Kilo. Seine verschränkten Oberarme in ihr Blickfeld gerückt, versuchte sie abzuschätzen ob es tatsächlich Muskelmasse war, was ihn so wuchtig erscheinen ließ.

Dann spürte sie, dass noch jemand hinter ihr war und bei ihr breitete sich die Panik aus. Mit ihrem Gegenüber würde sie vielleicht noch fertig werden. Indem sie ihn einfach zuquatschte und an seinen männlichen Beschützerinstinkt appellierte. Aber womöglich zwei Männern etwaige Triebe auszureden, war nicht so einfach, wenn überhaupt machbar. Zumal sie noch immer nicht wusste, was er eigentlich von ihr wollte. Sie versuchte ein Lächeln, aber es war wohl zu verkrampft, denn es beeindruckte ihn nicht.

Vorsichtig drehte sie sich um. Der andere war das komplette Gegenteil. Klein, drahtig, schmierig, mit einem Ziegenbart und in Lederklamotten, die ihn absolut albern aussehen ließen. Wenn sie jemanden als gefährlich einstufte, dann ihn. Der Große, der noch immer unbeweglich vor ihr stand, hatte trotz allem eher etwas Gutmütiges. Vielleicht entsprach es aber auch nur ihrem Wunschdenken, angesichts dieser fast aussichtslosen Situation.

„Belästigt dich der Typ etwa?“, fragte der Große mit fester Stimme. Sie fühlte sich wie in einem Märchen. Dieser Fremde würde sie einfach so beschützen. Er verkörperte das, was sie sich ein Leben lang sehnlichst gewünscht hatte. Einen großen Bruder.

Am liebsten hätte sie ‚ja’ gesagt, aber das konnte sie ihrem Hintermann dann doch nicht antun. Ein Ziegenbart war kein Vergehen, egal wie schwachsinnig es auch aussah. Und so versuchte sie ein erneutes Lächeln um Zeit zu gewinnen und diese Situation richtig einzuschätzen. Aber sie war in einem ganz normalen U-Bahn-Bahnhof. Eigentlich nichts ungewöhnliches, davon abgesehen, dass es nachts um eins war. Zwar hatte sie keinen der beiden bemerkt, bis der Große ihr am Treppenabsatz den Weg versperrte. Doch es blieb dabei. Sie wurde nicht belästigt. Genießerisch schloss sie die Augen um sich noch einmal dieser mädchenhaften Illusion hinzugeben, wie es wäre einen großen Bruder zu haben.

„Na ja“, murmelte sie, „eigentlich ...“

„Lass’ die Finger von ihr!“. drohte plötzlich der Kleinere. Mit erstauntem Blick drehte sie sich erneut zu ihm um und mit gefletschten Zähnen versuchte der tatsächlich, den Muskelprotz zu beeindrucken. Dieser hob beschwichtigend die Arme und trat zur Seite. „Schon gut, ich dachte nur ...“

Der Ziegenbart packte sie am Handgelenk und zerrte an ihr. Sie war sich nicht sicher, ob sie das so wollte. Allerdings war sie sich auch nicht sicher, wem sie trauen sollte. Sie kannte keinen der beiden, wusste aber nicht ob sie sich untereinander kannten und der Schmächtige allen Grund hatte sie zu warnen.

„Nun komm doch schon!“ Er zerrte noch immer an ihr und es gefiel ihr überhaupt nicht, wie er sie behandelte. Andererseits wusste sie aber auch nicht, was sie tun sollte.

„Lass mich los“, bat sie leise.

Doch er löste seinen festen Griff nicht und in seinem Blick sah sie, dass es für sie kein Entkommen mehr geben würde. Ihre Angst nahm ungeahnte Ausmaße an und ihr war plötzlich klar, dass sie in der Falle saß, wenn es denn eine Falle war. Hilfesuchend sah sie noch einmal zu dem großen Fremden. Doch sie blickte nur in sein verwundertes Gesicht und sie ahnte, dass er ihr zwar helfen würde aber die Notwendigkeit nicht mehr erkannte. Zumal die Angst sie nun so sehr lähmte, dass sie kein Wort mehr über die Lippen brachte.

    „Schwesterchen, Schwesterchen“, sagte der aber plötzlich, „muss ich mich denn um alles kümmern?“

Der Mann mit dem Ziegenbärtchen ließ sie augenblicklich los.

„Sie ist deine Schwester?“, stammelte er.

Noch ehe sie auf irgendetwas reagieren konnte, kam die prompte Antwort. „Was glaubst du denn was ich hier nachts um eins tue? Und nun zieh Leine!“

Noch nie hatte sie einen Mann so davonrennen sehen und als sie endlich ihre Sprache wiederhatte murmelte sie: „Du hättest ihn festhalten sollen.“

Er schüttelte nur mit dem Kopf. „Vielen Dank, edler Fremder. Vielen Dank für die Hilfe. Zu dieser Zeit, an diesem Ort.“

„Tschuldigung, tut mir leid“, stotterte sie verwirrt und bemerkte erst jetzt, dass ihre Hände zitterten.

„Was machst du eigentlich hier, allein um diese Zeit!?“, fragte er vorwurfsvoll.

„Arbeiten ... ich hatte Spätdienst. Im letzten Moment kam noch ein Unfall rein. Soll ich meine Kollegin allein schuften lassen?“

Er grinste. „Müsste ich als Bruder eigentlich wissen, oder?“

Doch sie konnte nicht darüber lachen. Zu tief saß noch die Angst, was alles hätte passieren können.

    „Hey, vergiss das alles einfach. Den siehst du nicht wieder. Beim nächsten Mal passt du eben besser auf.“

Staunend sah sie ihm hinterher, als er den Gang entlang ging, den sie gekommen war. „Besser aufpassen“, als ob das so einfach wäre. Aber große Brüder waren wohl so.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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