Heike Groneberg

Seelenfeuer


Das Telefon klingelte laut und fordernd. Ärgerlich über die Störung nahm Vera den Hörer ab. Ihr Gesicht verfinsterte sich, als sich am anderen Ende der Leitung ihre Mutter meldete.
„Ich kann jetzt nicht kommen, Mama“, erwiderte sie ohne die Frage abzuwarten, „ich kastriere gerade einen Kater und im Wartezimmer bellen noch drei Hunde, die ebenfalls verarztet werden wollen.“
Vom anderen Ende der Leitung kam ein gequälter Laut. Behutsamer fuhr Vera fort: „Ich habe in zwei Stunden Mittagspause, dann schaue ich nach dir.“
Während sich Vera wieder über ihre Arbeit beugte, überlegte sie ‚So konnte es mit Mutter nicht weiter gehen. Seit ein paar Wochen stand sie nicht mehr auf, wartete bis Vera abends aus der Praxis nach Hause kam und erzählte verworrene Dinge von längst verstorbenen Menschen. In klaren Phasen rief die Mutter in der Praxis an, und bat sie nach Hause zu kommen.‘ ‚Ich werde mich wohl um einen Pflegeplatz bemühen müssen‘, seufzte Vera.
Als sie zwei Stunden später das Haus betrat, waren die Jalousien herunter gezogen. In der Küche stand das Mittagessen unberührt. Vera öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Eine Stimme flüsterte: „Setz dich zu mir meine Tochter, wenn ich dich so nennen darf.“
Vera runzelte die Stirn und erwiderte: „Im Mai feiere ich meinen 64. Geburtstag und in all den Jahren hatte ich keine andere Mutter als dich.“ „Doch“, kam es zögerlich aus den Kissen, „bevor ich dich verlasse, sollst du die Wahrheit erfahren“.
Nach einer kurzen Pause fuhr die Mutter fort: „Wir heirateten Ende 1940. Ich wollte meine Stelle als Blitzmädchen im Nachrichtendienst noch nicht aufgeben und war im Mai 1941 in Den Haag stationiert. Von meiner Schwangerschaft wusste niemand etwas, obwohl ich schon im siebten Monat war. Fred und ich freuten uns wahnsinnig auf das Kind. Am Morgen des
23. Mai setzten plötzlich Wehen ein und ich wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Am Nachmittag brachte ich meine Tochter zur Welt. Sie war ein schwächliches Baby, bekam kaum Luft und drohte zu ersticken. Am Abend wurde eine junge Frau, fast selbst noch ein Kind, in mein Zimmer gelegt. Sie trug ein Kleid aus blassblauem Leinen, das zu groß für sie wirkte. Ihre Füße steckten in klobigen Schuhen. Das weizenblonde Haar floss um ihre Schultern. Sie schaute mich aus grau-grünen Augen traurig an und sagte kein Wort.
In ihren Armen hielt sie ein Baby, das vergnügt krähte.
In der Nacht starb meine Tochter. Ihr Gesicht verfärbte sich bläulich. Sie schnappte nach Luft, röchelte und plötzlich setzte der Atem aus. Ich klingelte wie wahnsinnig nach der Schwester. Da legte mir die junge Frau ihre Tochter in den Arm und nahm mein Baby an sich. Stockend sagte sie:
„Sei ihr eine gute Mutter und besuche Noordwijk.“
Wie versteinert saß ich da, als die Schwester kam und die Frau mit dem Kind wegführte. Von dieser Sekunde an, warst du meine Tochter. Nicht einmal Fred kannte die Wahrheit.“
Das Reden hatte die alte Frau angestrengt. Um die letzten Worte verstehen zu können, hatte sich Vera tief über ihre Lippen gebeugt. Die gleichmäßigen Atemzüge verrieten ihr, dass sie eingeschlafen war. Gedankenversunken saß Vera am Bett. Erst ein Blick auf die Armbanduhr ließ sie aufspringen. Die Nachmittagssprechstunde hatte längst begonnen. Noch im Auto grübelte sie über die Worte der Mutter nach.
Als Vera Stunden später wieder das Haus betrat. hatte sich nichts verändert. Leise schlich sie ins Schlafzimmer. Die Mutter schlief. Kein Laut war zu hören. Vera fasste nach ihrer Hand, die kalt und leblos in der ihren lag. Da begriff sie und die Tränen schossen ihr in die Augen. Eine Ewigkeit mochte vergangen sein, bis der Arzt und der Leichenwagen eintrafen. Vera hatte mit Astrid, ihrer Tochter, telefoniert. Sie versprach, gleich am nächsten Morgen zu kommen. ‚Wie winzig klein waren manche Probleme am Abend, die sich am Morgen noch himmelhoch auftürmten‘, dachte Vera wehmütig, bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel.
Der nächste Tag war ein Samstag. Vera saß beim Frühstück, als Astrid eintraf. Sie war Anfang vierzig und schrieb ihrer Doktorarbeit. Nach erfolgreicher Promotion wollte sie in die Fußstapfen der Mutter steigen und deren Tierarztpraxis übernehmen.
Astrids Augen waren rot geädert. Sie hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen. Vera schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein und erzählte von den Ereignissen des Vortages.
„Habt ihr nicht häufig Urlaub in Holland gemacht, als du Kind warst?“, fragte Astrid, als sie geendet hatte.
„Ich habe mich auch schon gefragt, ob ein Zusammenhang bestand“, entgegnete Vera.
„Lass uns nach der Beerdigung dorthin fahren und nach den Spuren deiner leiblichen Mutter suchen!“, schlug Astrid vor.
Vera seufzte: „Ich weiß nicht, ob ich das möchte.“
Die Reifen summten über den glänzenden Asphalt. Astrid saß am Lenkrad und sang die Melodie aus dem Autoradio leise mit. Vera schaute gedankenversunken aus dem Fenster. Seit sie die deutsch-niederländische Grenze passiert hatten, tauchten die Bilder der Kindheit wieder auf. Ein großer Bauernhof inmitten grüner Wiesen, Kühe, die zufrieden wiederkäuten und ein Mädchen, das jeden Morgen durch die wilden Dünen lief, um am Sandstrand Burgen zu bauen. Sie erinnerte sich an die langen Spaziergänge mit ihren Eltern am Strand, wie sie Muscheln suchten oder Möwen fütterten und abends die glutrote Sonne im Wasser schlafen ging. Sie liebte die Ferien am Meer, weil die Eltern unendlich viel Zeit für sie hatten.
Mit einem Ruck kehrte Vera in die Gegenwart zurück. Mehr als ein halbes Jahrhundert war seit damals vergangen und vielleicht fand sie etwas, das die Idylle ihrer Kinderzeit für immer zerstörte.
Als sie mit Astrid eine Stunde später durch Noordwijk bummelte, erkannte Vera das einstige Fischerdorf nicht wieder. Ferienhäuser und Pensionen säumten die Straßen. Wo einst ihr Bauernhof gestanden hatte, breitete sich eine große Hotelanlage aus.
„Hier werden wir nichts mehr finden“, meinte Vera resignierend. Aber Astrid gab nicht auf und marschierte zielsicher auf die Rezeption zu. Überall erntete sie bedauerndes Kopfschütteln bis sich eine ältere Angestellte erinnerte:
Der Hof gehörte früher einer Familie Rickers. Ich glaube, die alte Frau Rickers lebte heute in einem Altersheim in Delft.“
Die Fahrt nach Delft verlief schweigend. Die Seniorenresidenz „Abendruh“ lag in einem Park, von großen Bäumen umgeben. Frau Rickers saß auf der Terrasse und blinzelte in die Nachmittagssonne.
„Besuch aus Deutschland rief die Schwester, bevor sie sich entfernte. Frau Rickers blickte die beiden Frauen neugierig an.
„Ich heiße Vera Starnberger und das ist meine Tochter Astrid“, stellte sich Vera vor, „ich bin auf der Suche nach meiner leiblichen Mutter.“ Und dann erzählte sie das, was ihre Mutter ihr kurz vor dem Tod anvertraut hatte.
„Da ich als Kind mit meinen Eltern häufig bei Ihnen im Urlaub war, hoffe ich, dass Sie mir weiterhelfen können“, fuhr sie fort.
Frau Rickers starrte auf einen Punkt am Horizont. „Es war nur so ein Gefühl.“ begann sie zögerlich.
“Als ich Sie das erste Mal als Kind sah, erinnerten Sie mich an meine beste Freundin Marianne Holsten. Mit den grau-grünen Augen und den blonden Zöpfen waren Sie ihr so ähnlich.“
„Wo ist Marianne?“, harkte Astrid nach.
„Ich weiß es nicht. Bis zum sechzehnten Lebensjahr waren wir unzertrennlich. Dann ging ich nach Amsterdam in Stellung und sie fand Arbeit in Den Haag.
Wir verloren uns aus den Augen. Erst nach dem Krieg kehrte ich auf den Hof meiner Eltern nach Noordwijk zurück. Marianne blieb verschwunden. Fragte ich nach ihr, stieß ich auf eisiges Schweigen. Es wurde gemunkelt, sie hatte ein uneheliches Kind. Aber vielleicht kann Ihnen Inga Delmers weiterhelfen. Sie lebt noch in Noordwijk und ist ihre Schwester.“ „Heute können wir Frau Delmers nicht mehr aufsuchen“, entschied Vera mit einem Blick auf die Uhr.
„Dann übernachten wir in Noordwijk und gehen morgen zu ihr“, erwiderte Astrid, als sie zum Auto zurückkehrten.
In dieser Nacht fand Vera keinen Schlaf. Sie wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere und verließ das Hotelzimmer im ersten Morgengrauen. Ein schmaler Weg schlängelte sich durch die Dünen und führte zu einer Anhöhe. Außer Atem setzte sich Vera auf einen umgestürzten Baumstamm und schaute hinunter auf den Strand. Wie friedlich sich das Meer vor ihr ausbreitete. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne tauchten es in ein glutrotes Licht. Fasziniert blickte sie auf das wechselnde Farbenspiel. Als die Sonne kreisrund am Horizont stand, kehrte Vera ins Hotel zurück. Astrid wartete bereits.
Nach dem Frühstück besuchten sie Frau Delmers. Das alte Fischerhaus, in dem sie wohnte, lag ganz am Ende des Dorfes und duckte sich hinter den Dünen. Frau Delmers war eine kleine zierliche Frau mit schlohweißen Haaren und freundlichen blauen Augen.
„Ich habe gewusst, dass Sie kommen werden“, entgegnete sie, als Vera geendet hatte, „und so gehofft, dass ich es noch erlebe“, fuhr sie leise fort. „Wenn ich in Ihre grau-grünen Augen blicke, erinnern Sie mich so sehr an Marianne.“ Bei den letzten Worten schossen Frau Delmers die Tränen in die Augen.
„Was ist damals passiert?“, fragte Vera. Frau Delmers begann zu erzählen:
Marianne war vier Jahre älter als ich und ging im Juni 1940 nach Den Haag. Wir hatten Angst um sie, weil die Stadt von den Deutschen besetzt war. Sie fürchtete sich nicht. Im Sommer besuchte sie uns und war total glücklich. Sie lachte viel und hatte einen strahlenden Glanz in den Augen. Beim Abschied verriet sie mir, dass sie sich verliebt hatte.
Ende November klopfte es spät abends ans Fenster. Die Eltern schliefen schon und ich öffnete. Draußen stand Marianne und weinte bitterlich. „Er musste fort“, schluchzte sie. »Was ist geschehen?“, fragte ich.
Sie erzählte mir von Fritz, ihrer ersten großen Liebe. Er war ein deutscher Soldat. Bevor er die Uniform anziehen musste, studierte er Medizin in Heidelberg. In diesem Sommer hatten sie sich in Den Haag kennen- und liebengelernt. Vorige Woche war seine Einheit versetzt worden und Marianne wusste sich keinen Rat.
„Ich bin schwanger“, fuhr sie fort, »Fritz weiß nichts von dem Kind.“ Die Eltern, die wach geworden waren, hatten die letzten Worte gehört. Das Gesicht der Mutter wurde aschfahl und der Vater schrie: »Du bist nicht mehr meine Tochter, verlasse auf der Stelle mein Haus!“ Marianne ging.
Ich besuchte sie noch einmal kurz vor der Geburt in Den Haag. Sie war in einem kirchlichen Heim untergekommen und wusste nicht wie es mit ihr und dem Kind weitergehen sollte. Später erfuhr ich, dass ihr Kind kurz nach der Geburt gestorben war. Sie blieb verschwunden.
Eines Abends im Spätherbst stand sie plötzlich vor mir. Ich erkannte sie kaum wieder. Das lange blonde Haar war kurz geschoren. Ihre grau-grünen Augen hatten jeden Glanz verloren.
„Ich wollte mich von dir verabschieden“, sagte sie leise. „Was hast du vor?“, fragte ich ahnungsvoll.
Statt einer Antwort erzählte sie: „Als die Leute erfuhren, dass ein Deutscher der Vater meines Kindes war, haben sie mir die Haare abgeschnitten, ein Pappschild mit der Aufschrift „Verräterhure“ um den Hals gehängt und mich durch die Straßen von Den Haag gehetzt. Sie behandelten mich schlimmer als eine Aussätzige.“ Die letzten Worte gingen in Tränen unter.
Ich legte ihr tröstend den Arm um die Schulter. Als sich Marianne etwas beruhigt hatte, fuhr sie fort: „Meine Tochter lebt. Ich habe sie kurz nach der Geburt einer jungen Deutschen gegeben, deren Baby gestorben war. Es hat mir fast das Herz zerrissen. Vielleicht erfährt sie später die Wahrheit über ihre Herkunft. Wenn sie dich jemals finden sollte, gib ihr das. Marianne reichte mir eine Fotografie. Ein junger blonder Mann lächelte mich an.
„Das ist Fritz“, fügte sie hinzu, drehte sich um und lief davon. Wenige Tage später wurde ihre Leiche am Strand angespült.
„Wo ist ihr Grab?“, fragte Astrid.
„Es gibt keins“, erwiderte Frau Delmers, „sie haben sie wie einen Hund verscharrt. Wenn Sie ihr nahe sein möchten, gehen Sie an ihren Lieblingsplatz am Meer.“
Und sie beschrieb den Aussichtspunkt am Strand, den Vera am Morgen für sich entdeckt hatte.
Schweigend erklommen Astrid und Vera die Anhöhe und blickten hinaus aufs Meer. Die Wellen kräuselten sich sanft im Wind. Die Strahlen der Sonne funkelten wie Edelsteine im Wasser. Hoch über ihnen kreischten die Möwen. Lange saßen sie auf den umgekippten Baumstämmen und nahmen Abschied von Marianne.
Auf dem Rückweg strich Vera zärtlich über das vergilbte Foto ihres Vaters, das Frau Delmers ihr gegeben hatte.
„Ich werde dich suchen“, flüsterte sie.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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