Noch nie fand sie sich so hässlich wie an diesem Morgen. Die kurze Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen und der Blick in den Spiegel erinnerte sie schmerzlich daran, dass nichts und niemand ihre Jugend zurückbringen konnte. Die Haare ergrauten schon wieder am Ansatz und sie hatte lange aufgehört, die verbrauchten Haartönungen zu zählen. Ihre Augen wirkten müde und verquollen und die Falten waren keine Fältchen mehr, sondern tiefe Krater. Selbst um den Mund waren die ersten zu erkennen. Etwas, das sie bisher immer als den ultimativen Anfang vom Ende betrachtet hatte.
Ihren Busen mochte sie schon lange nicht mehr sehen. Er war so unelastisch geworden wie ihre Bewegungen. Zum Glück musste sie sich verrenken oder einen zweiten Spiegel benutzen, um ihren Po zu betrachten. So blieb ihr wenigstens dieser Anblick erspart.
Er betrat das Bad und automatisch versuchte sie, mit einem Handtuch ihre Blöße zu bedecken. So weit war es gekommen, dass sie sich vor dem Mann zu verstecken versuchte, mit dem sie seit über zwei Jahrzehnten zusammenlebte.
Er strahlte sie an und schien vor Lebensenergie regelrecht zu platzen. „Du hast dich gar nicht verändert in all den Jahren“, bemerkte er stolz.
Sie sah ihn strafend an. Sie mochte diese Übertreibungen nicht, als sähe sie noch aus wie Mitte zwanzig. Nicht heute und nicht von ihm. Dass sein Haar immer dünner wurde, war nicht zu übersehen. Auch nicht sein immer größer werdender Bauchansatz. Zwar störte es sie überhaupt nicht, dafür liebte sie ihn viel zu sehr. Aber als 20-jähriger würde er auch nicht mehr durchgehen.
„Na ja, nicht ganz“, korrigierte er. „Ich finde ja, du bist noch hübscher geworden. Irgendwie würdevoll. Allein deine Ausstrahlung ist umwerfend.“
Er sah zur Uhr und küsste sie sanft. „Ich muss los. Bis heute Abend dann …“ gurrte er vielsagend. „Denn das, du weißt schon … ist noch immer genauso aufregend mit dir wie am ersten Tag.“
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Germaine Adelt).
Der Beitrag wurde von Germaine Adelt auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.10.2005.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Germaine Adelt als Lieblingsautorin markieren
Bringt mir den Dolch
von Germaine Adelt
Was haben eine Hebamme, ein Englischstudent, eine Bürokauffrau, ein Übersetzer, eine Technische Zeichnerin, ein Gymnasiast, eine Reiseverkehrskauffrau, ein Müller, eine Sozialpädagogikstudentin, ein Kfz-Meister, ein Schulleiter i.R., ein Geographiestudent und ein Student der Geschichtswissenschaften gemeinsam?
Sie alle schreiben Lyrik und die schönsten Balladen sind in dieser Anthologie zusammengefasst.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: