Hans-Peter Zürcher

Der verlorene Augenblick

2. Oktober 2005

< Alle großen Leute sind einmal Kinder gewesen > Antoine de Saint – Exupéry.

Diese Geschichte, die ich hier erzähle, handelt von einem Mädchen, das auch einmal ein Kind war. Nur, der kleine Prinz entschwand eines Tages zurück auf seinen kleinen Planeten, und Johanna?

Die kleine Johanna war nicht nur ein hübsches Mädchen, sie war steht’s fröhlich, lachte gerne und viel, sie war zu allen, ob Mensch oder Tier immer gut. Ihre Lieblings -spielplätze waren zu allen Jahreszeiten der Garten, der nahe Wald und die Alp in den Bergen. Vor allem wenn sie jeweils mit ihre Eltern den Sommer auf der Alp verbrachte, war sie überglücklich. Da konnte sie Stundenlang durch die Natur streifen, Blumen pflücken und Tiere beobachten. Und noch etwas liebte sie über alles, ein kleines Buch mit vielen Zeichnungen, es hiess < Der kleine Prinz >. Dieses Buch war ihr ständiger Begleiter, wie früher, als sie noch klein war, ihre Puppe. Sie hatte es immer bei sich, ob im Garten oder in den Ferien. Johanna kannte dieses Buch inzwischen in – und auswendig. Es widerspiegelte auch ein wenig ihre eigene Geschichte, die Geschichte von der Suche nach der Wahrheit, den Menschen, der Freundschaft und der Liebe.

Die Jahre vergingen und aus der kleinen Johanna wurde eine hübsche junge Frau. Eines Abends im Frühsommer saß sie auf der großen Steinbank, die am anderen Ende des Gartens unter der großen Linde stand. Ihre Gedanken folgten ihrem Blick, denn sie beobachtete seit geraumer Zeit das Spiel zweier Falken, die drüben über dem Feld ihre Flugkünste demonstrierten. < So frei und unbeschwert müsste man sein >, ging ihr durch den Kopf. Der Himmel war klar und tief blau. Erste Sterne begannen zu funkeln und kleine Wölkchen leuchteten rötlich – gelb in den Abendhimmel. Die Sonne war bereits untergegangen, es wurde merklich kühler. Sie hatte alles, was sie sich nur wünschen konnte, nur eines hatte sie nicht, einen Freund. Nein, nicht irgendwelche Kameraden, die hatte sie zur genüge, einen richtigen guten Freund, der mit ihr Sorgen und Kummer, aber auch Freude teilen könnte. Einen Freund, der für sie da wäre und zuhören könnte, für den aber auch sie da sein könnte. Umgeben von den Abend -gesängen der Vögel und eingehüllt in den Duft von blühenden Sträuchern und Bäumen wurden in ihr Erinnerungen an ihre Kinderzeit wach, in die sie ihre Gedanken entführten. Augenblicke der Unbeschwertheit des Kind seins, des Spielens, des fröhlich und glücklich seins. Sie erinnerte sich an einen Abschnitt im < Der kleine Prinz >: ... Der Fuchs verstummte und schaute den Prinzen lange an: „ Bitte ... zähme mich! “ sagte er. „ Ich möchte wohl „, antwortete der kleine Prinz, „ aber ich habe nicht viel Zeit. Ich muss Freunde finden und viele Dinge kennen lernen. „ „ Man kennt nur Dinge, die man zähmt „, sagte der Fuchs. Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgendetwas kennen zulernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr. Wenn du einen Freund willst, so zähme mich! “

- Es war vor zwei Jahren um die gleiche Jahreszeit. Johanna streifte eines Nachmittags durch die Wälder der nahen Umgebung. Plötzlich hörte Sie ein klagendes, leises wimmern im Unterholz. Sie schenkte diesem jedoch keine Achtung, denn im ganzen Wald waren Laute und Geräusche zu vernehmen, ob die krächzenden Rufe des Eichelhähers, die Klopfgeräusche der Spechte, die Rufe der Falken und der Gesang der vielen Vögel. Der ganze Wald schien in Aufbruchstimmung zu sein. Diese Stimmung steckte auch Johanna an, sie begann ein Lied vor sich hin zu singen, pflückte da und dort eine Blume und erfreute sich des schönen Tages. Doch die klagenden Laute aus dem Unterholz liessen ihr plötzlich doch keine Ruhe. Sie kehrte am Abend, kurz vor dem Eindunkeln nochmals an diesen Patz zurück und siehe da, es war nichts zu hören, außer einer Amsel, die ihr Abendlied darbot. „ Das war doch hier, unweit der großen Buche, das weiss ich ganz genau „ murmelte sie vor sich hin. Ab und zu das leises knacken von Ästen und ein leise säuseln vom Wind, der durch die Baumwipfel strich, das Abendlied der Amsel, sonst war nichts zu hören. Am anderen Morgen ging sie nochmals an diesen Platz. Ein leises Wimmern aus dem Unterholz. Ja. jetzt hörte sie es ganz deutlich, dasselbe klagen und wimmern wie gestern Nachmittag. Nun durchstreifte Johanna vorsichtig das Unterholz. Es dauerte nicht lange, da fand sie ein kleines eingerolltes, braunes, zitternde etwas, das gut geschützt durch ein Grünzeug versteckt war. Grosse blaue Augen schauten ihr entgegen. Das etwas entpuppte sich als kleiner Fuchs, nicht älter als einige Wochen. Abgemagert und geschwächt liess er sich aufnehmen. Sie trug das Häufchen Elend nach Hause, richtete in ihrem Zimmer einen großen Korb zurecht, der als Nest dienen sollte. „ Ein Bad schadet dir wohl nicht „ sagte sie zum Füchslein „ du stinkst und nach dem Bad werde ich dich mit etwas feinem füttern. „ So kam es, dass sie dieses Füchslein fütterte, erst mit der Flasche, später mit fester Nahrung. Beim nächsten Gang in die Stadt kaufte sie ein breites schwarzes Halsband mit dazu passender Leine. Somit wurde es möglich, das Füchslein im Garten auszuführen. Schon nach kurzer Zeit erholte sich das Tier und wuchs zu einem kräftigen, starken Fuchs an. Speziell zu zähmen brauchte Johanna den Fuchs nicht, denn durch das aufziehen mit der Flasche wie auch die liebevolle Pflege steuerte das Übrige dazu bei. Im Garten braucht sie ihm die Leine nicht mehr anzulegen, der Fuchs wich kaum von ihrer Seite. Sie brachte ihm einiges bei, als wäre es ein Hund und so wurden sie zu untrennbaren Freunden. Ein Jahr zog ins Land, die beiden waren ein Herz und eine Seele, aber trotzdem hatte Johanna das Gefühl, dass der Fuchs seine Freiheit, die ihm  von Natur aus auch zu stand, benötigt. Denn wenn er auch zahm war, er war ein Wildtier und gehörte nicht in ein Haus. So versuchte sie sich immer mehr von ihm zu Distanzieren, nicht mehr an der Leine zu führen, wenn sie über Land spazierten und ihm so immer mehr Freiheit zu gewähren. Anfänglich nahm der Fuchs dies als Spiel war, merkte wohl bald dass dem nicht so war, denn Johanna folgte ihm nicht mehr nach, wenn er versucht hat, sich im Wald zu verstecken. Auch im Garten wurde er nicht mehr an die Leine gebunden und konnte somit frei entscheiden, wohin er ziehen soll und wann er gehen und wieder kommen soll. Die Malzeiten wurden weniger, da nutzten auch sein Blick aus seinen großen, blauen Augen wenig. Es kam, wie es kommen musste, unser Fuchs kehrte immer seltener von seinen Streifzügen in die Umgebung zurück. Anfänglich waren es Stunden, dann Tage. Manchmal dauerte es eine Woche, bis er wieder zurückkam. Die Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten immer riesig. Dies war gut so, aber Johanna schmerzte es, denn zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie einen wirklichen Freund. -

... so zähme mich, Johanna fühlte plötzlich einen tiefen Schmerz in ihrem Herzen. Erinnerung kamen hoch, Erinnerungen an die schönen Stunden mit ihrem Freund und Gefährten, dem Fuchs auf. Erinnerungen an die schönen Augenblicke, die sie mit ihm erleben durfte.

- Letzten Herbst kehrte ihr Freund, der Fuchs plötzlich nicht mehr zu ihr zurück. Einfach so, ohne Vorwarnung, ohne dass etwas vorgefallen wäre, das auf diese Veränderung hingedeutet hätte. Kein Abschied, einfach weg. Im Januar, es war bitter Kalt und es auch hatte viel Schnee, da kam er eines Tages zurück, der Fuchs. Schön war er in seinem Winterpelz anzusehen und kräftig. Das schwarze Halsband immer noch um, kam er über den Garten zum Haus, als wäre er nie weg gewesen. Die Freude, die auf beiden Seiten aufkam, als sie sich wieder sahen, war unbeschreiblich. Johanna heulte los wie ein kleines Kind, sie balgten und rauften sich und liessen voneinander nicht mehr ab. Er beobachtete mit seinen listigen, blauen Augen jede Bewegung und Handlung, die Johanna ausführte. „ Ein Bad schadet dir wohl nicht „ sagte sie zum Fuchs „ so wie du riechst und nach dem Bad werde ich dich mit etwas feinem füttern. „ Nun war es wieder so wie letzten Sommer, unser Fuchs ging und kam wie es ihm passte. Beide genossen die Augenblicke, spielten miteinander und freuten sich, dass sie zusammen sein konnten. Doch diese Idylle dauerte nur wenige Tage und von da an war er wieder verschwunden. -

All dies ging Johanna durch den Kopf, während sie auf der steinernen Bank unter der Linde in ihrem Garten saß. Umgeben von den Abendgesängen der Vögel und ein -gehüllt in den Duft von blühenden Sträuchern und Bäumen wurden in ihr Erinnerungen an ihre Kinderzeit wach, in die sie ihre Gedanken entführten. Augenblicke der Unbeschwertheit des Kind seins, des Spielens, des fröhlich und glücklich seins. Sie dachte an ihren Freund, den Fuchs, an die schöne Zeit mit ihm. Zwischenzeitlich war es schon fast dunkel geworden. Das Spiel der beiden Falken ist vorbei, wie auch dieser Tag nun zu Ende geht. Alles verlorene Augenblicke.

Nur die Hoffnung, dass ihr Freund eines Tages wieder kommen würde, gab ihr die notwendige Kraft, ihren Pflichten und Arbeiten nachzugehen. Und wer weiss, vielleicht wartet Johanna heute immer noch... 

© 2005   Alle Rechte bei Hans-Peter  Zürcher

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Hans-Peter Zürcher).
Der Beitrag wurde von Hans-Peter Zürcher auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Hans-Peter Zürcher als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Paloma von Paul Riedel



Paloma ist eine geheimnisvolle Figur, die eine Faszination für Mode und ein altes Tagebuch hat. Paloma ist eine durch die dominante Mutter geprägte Frau, die sich ohne Hilfe durchkämpfen muss.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wie das Leben so spielt" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Hans-Peter Zürcher

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Flickflauder von Hans-Peter Zürcher (Kindheit)
Eine Überraschung von Marija Geißler (Wie das Leben so spielt)
Pilgerweg...letzte Episode von Rüdiger Nazar (Sonstige)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen