Jessica Idczak

Ein Sommer

Jessi saß am Ufer des Tümpels und hing wieder einmal ihren Gedanken nach. Weder vom Wasser noch vom Weg aus war sie zu sehen, so gut verbargen sie die Zweige der Trauerweide. Diese Stelle war zu ihrem Lieblingsplatz geworden, hier hatte sie in diesem Sommer oft gesessen und nachgedacht.
Langsam aber sicher ging der Sommer, und der Herbst färbte bereits die ersten Blätter. Jessi war froh, dass der Sommer zuende ging und somit das Ende des Jahres immer näher rückte. Es war ein schlimmes Jahr für sie, es war ein schrecklicher Sommer. Sie dachte ungern an ihn zurück, doch sie musste es. Sie musste sich mit all dem, was geschehen war, auseinander setzen, sonst würde sie innerlich daran zerbrechen. Schon immer konnte sie durch das Schreiben Geschehnisse und Erlebnisse besser verarbeiten, und sie wußte, dass es auch diesmal besser werden würde.
Sie zückte ihr Notizbuch, in dem sie all ihre Gedanken der letzten Wochen und Monate bereits festgehalten hatte. In ihrer Federtasche kramte sie nach ihrem Lieblingskugelschreiber, den sie vor gar nicht allzu langer Zeit von einer sehr guten Freundin geschenkt bekommen hatte. Diese Freundin, Nine, hatte sie in einer schlimmen Phase besucht, als Jessi wirklich Freunde brauchte, da sie den Halt ihres Lebens verloren hatte. Zumindest dachte sie das zu jenem Zeitpunkt. Sie lächelte, als sie an das Wochenende dachte. Sie hatten Spaß, und Jessi konnte nach langer Zeit endlich wieder von Herzen lachen. Sie war Nine dankbar für die Zeit, in der sie sie von ihrem Kummer abgelenkt und ihr neuen Lebensmut gemacht hatte. Auch Reini, der an selbigen Tagen ebenfalls bei Jessi war, war nicht unschuldig daran, dass es ihr wieder besser ging. Schon vor seinem Besuch hatte er ihr zugehört und immer wieder aufgebaut, wenn sie kraftlos am Boden lag. Er half ihr auf, machte dumme Sprüche, die sie zum Grinsen brachten, und war einfach für sie da. Und dann war da noch Daniel. Jessi lächelte, als ihre Gedanken zum wanderten. Daniel kannte sie noch nicht persönlich, doch das würde sich bald ändern. Sie würde demnächst über ein Wochenende wieder alleine sein und er hatte sich angeboten, ihr Gesellschaft zu leisten. Sie freute sich auf ihn, war doch auch er ein wirklich guter Freund für sie geworden.
Jessi unterbrach diesen Gedanken, denn eigentlich wollte sie sich mit den anderen Geschehnissen dieses Sommers auseinandersetzen. Sie dachte zurück an den Zeitpunkt, an dem alles begann. Es war der 09. Mai 2005, an dem sie wieder anfing, ihre Gefühle in Gedichten auszudrücken. Ihre verwirrten Gefühle fingen bereits früher an, doch wann genau, konnte sie nicht mehr einschätzen. Irgendwann hatte das Schicksal seinen Lauf genommen, und jetzt im Nachhinein wußte sie, dass sie es nicht hätte ändern können, hätte sie gewußt, was passieren würde. Sie lebte nach dem Motto, dass alles seine Gründe hätte. Früher oder später wäre alles so gekommen, wie es gekommen war.
Sie schlug ihr Notizbuch auf, nahm den Kugelschreiber zur Hand und begann zu schreiben.
 
Etwas mehr als fünf Monate ist es jetzt her, dass ich meine poetische Ader wieder gefunden habe. Fünf Monate... eine lange Zeit, die doch schnell vorbei ging... wenn ich darüber nachdenke, was in dieser Zeit alles passiert ist, wird mir ganz schlecht. Ich weiß gar nicht mehr, wie alles angefangen hat, vielleicht habe ich das auch verdrängt. Ich war in David verliebt. Oder hab ich mir das nur eingebildet? Ich weiß es nicht. Er gab mir das, was ich von Jan zu diesem Zeitpunkt nicht bekam, nämlich Aufmerksamkeit. Heute fällt es mir leicht zu sagen, dass es nachvollziehbar ist oder war, da Jan mit der Uni genug Streß hatte. Doch damals fühlte ich mich einfach ungeliebt und irgendwie auch einsam. David gab mir das Gefühl, geliebt zu werden. Ja, ich glaube, er hat mich von Anfang an geliebt. Und ich weiß, dass er es noch immer tut, obwohl wir uns gegenseitig wirklich weh getan haben. Weh getan... hab ich in diesen letzten fünf Monaten wohl nicht nur ihm. Sondern vor allem Jan und auch mir selbst. Und wahrscheinlich auch noch einem Haufen anderer Leute. Na ja, was soll ich machen, ich kann es eh nicht ändern.
Verliebt... war ich verliebt in David? Oder war ich einfach nur in das Gefühl verliebt, das er mir gegeben hat? War ich verliebt in das Gefühl, verliebt zu sein? Oder war ich vielleicht in das gefühl verliebt, begehrt zu werden? Ja, begehrenswert... das wollte ich sein. Ich wollte wieder begehrt werden und ich wollte merken, dass ich begehrt werde. Jan gab mir lange nicht mehr das Gefühl des Begehrtwerdens. Ich weiß heute, dass er mich immer begehrt hat. Und ich weiß heute auch, dass es nicht seine Schuld war, dass ich es nicht gemerkt habe. Mein Unterbewußtsein wollte es einfach nicht merken, ich habe es nicht an mich rangelassen. Ich fühlte mich gut damit, dass David mich umgarnte und mir Komplimente machte. Auch das ist ein Punkt, der mir bei Jan seit langem fehlte. Wenn ich im Badezimmer stand und mich schminkte, sagte er immer nur in einem trockenen Ton: „Du bist doch schon hübsch genug.“ Aber selten und meist nur, wenn ich nachfragte, ob ich mich so auf der Straße blicken lassen könnte, sagte er, dass ich gut aussehe. Na ja, ist jetzt auch egal... Vergangen ist vergangen, und das sollte es auch bleiben. Es bringt mir sowieso nichts, wenn ich mir darüber weiter Gedanken mache. Ich habe Jan verloren... weil ich zu vorschnell eine Entscheidung traf und mir nicht bewußt war, was ich auf’s Spiel setzte.
Ich war doch glücklich mit ihm?! Und ich liebte ihn, ich liebe ihn auch heute noch. Wie konnte ich zulassen, dass sich jemand zwischen uns stellen konnte? Zwei Jahre hatte ich um ihn gekämpft... und wegen einer kurzen aufflammenden Liebelei hab ich alles verspielt. Haben meine Gefühle mich betrogen? Oder war ich einfach zu blind um zu sehen, wie viel ich Jan wirklich bedeute? Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, wird mir klar, dass jeder Blick, mit dem er mich bedachte, voller Liebe und Schmerz steckte. Ich habe diese Gefühle nur nicht gesehen. Weil ich sie nicht sehen wollte? Ich weiß es nicht... ich weiß sovieles nicht. Der Schmerz frisst mein Herz auf. Wir hatten irgendwann einmal gesagt, dass wir für einander die Liebe des Lebens darstellen. Wir sind jung, vielleicht zu jung, um so etwas behaupten zu können. Doch ich halte an dieser Meinung fest. Und dabei ist es mir scheiß egal, was die anderen davon halten. Meine Mutter war ja sowieso nie begeistert von Jan, nach allem, was er mir die ersten zwei Jahre angetan hat. Ich habe ihm alles verziehen, weil ich wußte, dass er sich erst selbst finden musste, bevor er zulassen konnte, dass ich ihn finde. Ich wußte, dass er mir nie weh tun wollte. Und ich wußte, dass der Kampf um ihn ein gutes Ende finden würde. Deshalb habe ich nie aufgegeben... bis zu dem Zeitpunkt, an dem mein Herz sich zu David hingezogen fühlte. Ich war verwirrt, ich wußte weder ein noch aus ... und traf die falsche Entscheidung, weil ich mich von diversen Leuten hatte drängen lassen. Jan hatte mich nie gedrängt und das hätte mir zeigen sollen, was ich ihm bedeute.
Das Ganze erinnert mich an eine Geschichte von König Salomon. Irgendwie stritten da zwei Frauen um ein Kind. König Salomon sollte entscheiden, wer die rechtmäßige Mutter war. Er ließ beide Frauen und das Kind kommen, stellte das Kind zwischen die beiden Frauen und sagte ihnen: „Wer von euch beiden das Kind auf seine Seite ziehen kann, ist die wahre Mutter.“ Beide Frauen griffen nach je einem Arm des Kindes und zogen, doch schon bald ließ eine Frau das Kind los und überließ es der anderen. Da wußte Salomon, dass diese Frau, die das Kind losließ, die wahre Mutter war. Denn lieber überließ sie ihr Kind einer anderen Frau als dass sie ihm noch weiter Schmerzen zufügte.
Jan drängte mich nicht zu einer Entscheidung, sondern sagte immer, dass er mir die Zeit geben würde, die ich für eine Entscheidung bräuchte. Und dass er hoffe, dass ich die für uns richtige Entscheidung treffe. Nun, ich denke, ich habe die für ihn richtige Entscheidung getroffen, nur wußte er das zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht. Ich entschied mich für David und gegen Jan. Ich dachte, ich würde etwas verpassen, wenn ich die Chance nicht nutzen würde. Schnell merkte ich allerdings, dass Jan mir alles bedeutete. Nur war ich zu stolz, ihm das zu sagen. Also ließ ich ihn weiter in dem Glauben, dass er mich verloren hätte. Bis meine Klassenfahrt kam... ich wußte, dass seine beste Freundin kommen würde. Und ich wußte auch, dass sie nicht nur als Freundin kommen, sondern auch mehr laufen würde. Der Gedanke daran zerfraß mich innerlich und ich hatte immer weniger Lust, wegzufahren. Doch heute weiß ich, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät war. Sie waren ineinander verliebt und selbst Jan’s Liebe zu mir hätte nichts daran geändert. Ich war verletzt, fühlte mich einsam, saß in einem fremden Land fest und wußte, dass sie bei ihm war. Trotz dieses Wissens habe ich ihm am Telefon immer wieder verletzende Dinge an den Kopf geworfen, obwohl ich doch wußte, dass er bei ihr Trost suchen und finden würde.
Ich habe meine Liebe verloren und im Gegenzug? Was habe ich gewonnen? Meine Freiheit. Eine Freiheit, die nicht mit der Freiheit zu vergleichen ist, die ich mit Jan verspürt habe.
Ich habe viel verloren, doch ich weiß, dass ich auch viel gewonnen habe. Nine, Daniel und Reini sind echte Freunde für mich geworden, und ich weiß, dass ich mich immer auf sie verlassen kann. Und ich habe das Wissen gewonnen, dass man aus allem etwas Gutes ziehen kann. Ich habe drei wunderschöne Jahre mit Jan verbringen dürfen. Und die Zukunft wird zeigen, ob wir noch einmal zueinander finden.
Ich gönne Jan sein Glück mit seiner besten und mittlerweile auch festen Freundin von Herzen. Ich weiß, dass sie ihn glücklich macht. Lange genug habe ich mich an ihm festgekrallt, statt ihn gehen zu lassen. Es war falsch, vielleicht habe ich ihn auch direkt in ihre Arme getrieben. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er mir fehlt, dass ich ihn vermisse und dass mir der Gedanke weh tut, an all dem Verlust selbst schuld zu sein. Doch dieser Schmerz wird vorbei gehen, da bin ich mir sicher.
 
Tja... es war ein langer Sommer... es war ein harter Sommer. Doch auch nächstes Jahr wird es wieder einen Sommer geben. Und ich werde das Beste daraus machen!
 
Jessi schloss das Notizbuch und ließ sich ins Gras zurückfallen. Sie schloss die Augen und rief sich noch einmal die schönsten Momente der letzten drei Jahre ins Gedächtnis. Sie wußte, es würde nicht einfach für sie werden. Doch sie wußte auch, dass sie es schaffen musste... schaffen würde. Sie würde sich nicht weiter grämen und Vorwürfe machen. Das Leben ist, wie es ist. Das Schicksal wird schon gewußt haben, was es tat. Es hatte sie einmal wieder zusammen geführt. Vielleicht würde es das auch ein zweites Mal tun.
Jessi wußte und fühlte, dass ihre Liebe nicht sterben würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sie wieder aufleben lassen durfte. Und Zeit hatte Jessi viel. Dieser Sommer war vorbei... Doch der Nächste würde kommen und wieder viele Überraschungen für sie bereit halten. Sie freute sich darauf.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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