Andreas Roller

Nagelt meine toten Knochen an die Wand

Valerie träumt, und das so heftig, daß sie den Traum nicht von der Realität unterscheiden kann. Sie träumt wie sämtliche Fotos von ihrer Wand gerissen werden, wie sämtliche Bilder ihrer Vergangenheit verschwinden und sich in Staub auflösen. Wie sich die Deckfarbe der Wand schält und einen kahlen, grauen Ton hervorbringt. Rauch steigt in den Raum und sie empfindet den ultimativen Verlust. Dann sieht sie, wie menschliche Knochen an die Wand genagelt werden. Einer nach dem anderen. Und ehe sie schweißüberströmt erwacht, weiß sie: Es sind ihre eigenen Knochen. Als sie in einem Straßencafé sitzt, erzählt sie Ralph davon am Telefon - „was bedeutet dieser Traum?“ Doch er kann keine Antwort geben. „Komm heim“ sagt er. „Schnell“.
Ihr Mann Ralph sitzt alleine in ihrer gemeinsamen Wohnung. Er sitzt auf der braunen Ledercouch, ist nackt bis auf eine Badehose und ein blaues Handtuch, das ihm auf der Schulter liegt. Er starrt apathisch in den Raum, hält in der rechten Hand eine Schere, in der linken ein Foto. Stunden vergehen. Dann kommt Valerie herein. Sie hält eine schwere Reisetasche. Als sie Ralph erblickt, geht sie zu ihm, umarmt ihn. Sie küsst ihn, da muß sie inne halten: Dieser Geruch.
 „Was fällt dir eigentlich ein?“ fragt sie. „Du hast doch getrunken. Du hast Schnaps getrunken.“ Er reagiert nicht, hat Augenränder. Hat er geweint? Auf dem Boden sind nasse Fußabdrücke, die zu der Couch führen. „Was glaubst du eigentlich, warum wir das durchmachen? Was glaubst du, warum ich mir das antue mit dir?“ Er leckt sich die Lippen, das kann er noch. „Was hattest du vor in deinem Aufzug? Nun sag schon was!“ - „Ich darf tun was ich will, wenn es mir schlecht geht“ spricht er monoton. Sie pustet aus „Was du willst? Das heißt, du darfst auch mit mir tun was du willst, ja? Das heißt, du darfst alle, die dich lieben kaputt machen, ja?“ Sie steht auf, läuft verwirrt durch den Raum, zittert. „Du...“ spricht sie, bricht ab. Dann wieder „Du...“ Sie zittert. Dann bricht es aus ihr heraus wie in einem Wahnzustand, es zuckt durch ihren Körper als würde ein Blitz darin einschlagen, ihre Arme springen an das Bücherregal, sie zerren es auf den Boden, es poltert im ganzen Haus, sie schreit mit aller Kraft „Scheiße!!!!!!“ - „Beruhig dich, du mußt jetzt Ruhe geben, sonst passiert irgendwas“ spricht er unentschlossen. Ralph steht auf, streckt seine Hand nach ihr aus. Diese zittert ebenfalls, er streicht über ihre zarte Wange, leckt sich die Lippen. „Es war nicht viel und ich höre wieder auf“. Valerie spottet „Du kannst gar nicht aufhören. Denn DU bist gar nicht mehr hier. Hier ist nur dieser Schwächling, der es nicht lassen kann. Weißt du eigentlich, was du deiner Familie antust?“ Tränen stehen in ihren Augen. In der Küche dreht sich alles, eine Whiskyflasche leert sich wie von selbst, stürzt zu Boden, zerschellt, die Flüssigkeit dringt in alle Ecken, fließt die Wände nach oben; doch es ist nur in seinem Kopf. „Ich konnte nicht anders. Es war notwendig“ flüstert er, möchte Mitleid erregen. Sie reißt sich los, geht rückwärts. „Ja, so wie es damals notwendig war, nicht? Wo du den Tisch auseinander genommen hast?“ - „Das ist zwei Jahre her, hör auf, mir wird schlecht“ sagt er. „Und wie es immer notwendig war an den Abenden, wenn du allein vorm Fernseher gesessen und dich besoffen hast? Wie es immer so notwendig war, daß du mich anbrüllst, wenn ich nach Hause komme“ - „Dieses Mal ist es anders, glaub mir, du verstehst mich nicht.“ Sie stößt im Rückwärtsgang an die Wand, erkennt, daß ein Foto aus seinem Rahmen genommen wurde. Es liegt auf der braunen Couch, neben der Schere. „Ich mach das nicht nochmal mit dir durch. Das halte ich nicht aus. Ich habe nicht nochmal die Geduld. Es ist deine Schuld wenn ich gehe, nur deine. Meine Sachen sind noch gepackt.“ Die Tasche steht noch in der Tür. Ralph spricht: „Ich schütt das Zeugs weg, ich... liebe dich doch.“ Sie kann sich ein flüchtiges Lächeln nicht verkneifen. Dann entdeckt sie das Foto auf der Couch. Sieht den leeren Rahmen. „Wo ist Lucia?“ fragt sie. Er lässt sich auf die Couch fallen, versteinert in derselben Haltung wie zuvor. Sie geht zum Kinderbett - es ist leer. „Wo ist sie? Ralph, wo ist Lucia?“ Danach eindringlicher: „Ralph, wo ist sie?“. Ralphs Blick ist so leer. Er leckt sich die Lippen, die einzige Bewegung zu der er jetzt imstande ist. Valerie geht zur Badezimmertür. Sie versucht sie zu öffnen, stößt auf Widerstand. Ist sie verschlossen? Sie drückt heftiger dagegen. „Ralph, warum ist die Tür zu? Wie hast du die Tür von der anderen Seite verschlossen? Lucia? Lucia!“ Sie drückt heftiger. Ralph nimmt das Foto in die Hand, die Schere. Er macht einen Schnitt. Auf dem Foto schneidet er einmal um seinen Daumen herum. Rechts und Links von dem Loch stehen Mama und Papa, Ralph und Valerie. Und das Loch zeigt alles, was es zeigen kann - daß etwas fehlt, daß der spezielle Fall eines Verlustes eingetreten ist. Am Rand ist noch ein kleines Ärmchen zu sehen. Wie von einem Säugling. Valerie schreit. „Ralph, was ist los? Sag mir jetzt, warum die Tür verschlossen ist!!!“ Sie rüttelt heftiger. Ralph blickt in die Küche. Scherben überall, darin der fließende Bach des Whiskys. Er scheint ihm langsam näher zu kommen. Valerie bettelt, zittert, keucht, atmet nicht, friert und brennt zugleich. Dann gelingt es ihr: Die Tür springt auf.

Ihr Blick zeigt die endlose Einsamkeit, die sie überkommt, ein Funken der Freude, dann Schmerz, tiefer Schmerz, der sich durch ihr Hirn bohrt. Sie ist verwirrt, kann das Gefühl nicht einordnen. Also lächelt sie. Und Ralph? Ralph sagt es:  
  „Wir wollten doch nur baden.“
Da wirft er seinen letzten klaren Blick zur Fotowand. Die Fotos daran fallen ab, ihre Rahmen zerbersten auf dem Boden, steigen als trockener Staub in die Luft, leichter Rauch dringt in alle Ritzen. Kahle Nägel bleiben an der Wand zurück. Sie fallen herab und die Wand selbst schält sich wie die Haut einer Schlange. Drunter ist karger, kalter grauer Fels. Glatt, dennoch rau, so dass es einen in den Fingerspitzen kitzelt, wenn man darüber streicht. Dann erscheint ein Knochen an der Wand, durchbohrt von einem Nagel. Es ist eine menschliche Rippe. Weitere Rippen erscheinen, ein Hüftknochen, ein Oberschenkelknochen, alle in einem dunklen Grau bis Schwarzton und durchbohrt von weiteren Nägeln. Als Krone prangt der menschliche Schädel über allem, diese morbide Fratze, hässlich und angsteinflößend, mit tiefen, finsteren Augenhöhlen. Und plötzlich hat Ralph verlernt, zu unterscheiden.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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