Silvia Pree

Der 8. Dezember


Gerd Fischer stand in seinem Büro.
Es war schon lange nach Mitternacht.
Er stand leicht gebeugt vor dem PC.
Starrte ein Loch in den Boden.
Sein Sakko hing achtlos über dem Drehstuhl.
Die ersten beiden Knöpfe seines Hemdes waren offen.
Er wusste im Grunde nicht worauf er wartete.
Seit einer halben Ewigkeit ging er nur unruhig im Büro seiner kleinen Firma auf und ab.
Oder starrte irgendwo hin.
Er wollte nicht heim.
Obwohl er wusste, Doris wartete auf ihn.
Doris.
Seine Frau.
Was hatte sie ihm vor einer halben Stunde am Telefon gesagt?
Komm nach Hause.
Ruh dich aus.
Bitte.
Aber wie konnte er schlafen?
Wie?
Morgen würde der Auftrag vergeben.
Der Auftrag für das Frühjahr.
Wenn er ihn nicht bekam, konnte er zusperren.
Kein Geld mehr von der Bank.
Keine Gehälter für die Leute.
Sein kleines Team im Graphikstudio.
Gerd zündete sich eine Zigarette an.
Seine Finger zitterten.
Gierig inhalierte er den Rauch.
Er musste den Auftrag bekommen.
Sollte er denn vor seine Leute treten?
Wir müssen zusperren!
Nein.
Gerd griff nach seinem Sakko.
Rechts in der Außentasche befand sich der Autoschlüssel.
Er sperrte das Büro ab.
Ging nach unten.
Sein Kopf schmerzte.
Er konnte nicht mehr klar denken.

Fünf Minuten später fuhr er auf der Bundesstraße nach Hause.
Doris würde sich freuen.
Ganz sicher.
Aber er?
Völlig egal, wo er sich den Kopf zerbrach…
Schlafen würde er doch nicht können!
Plötzlich tauchte etwas Dunkles vor der Windschutzscheibe auf.
Gerd bremste.
Wo war er nur mit seinen Gedanken gewesen?
Ein heftiger Schlag.
Zu spät.
Gerd legte hektisch die Handbremse an.
Öffnete die Autotür.
Ein lebloser Körper lag am Boden.
Langes Haar.
Gerd kniete sich nieder.
Ein junges Mädchen.
Vielleicht 16 Jahre.
Gerd versuchte den Puls zu fühlen.
Als er seine Finger ansah, waren sie blutverschmiert.
Ein dünnes Rinnsal aus dem grellroten Mund des Mädchens.
Gerd atmete schwer.
Ausgerechnet jetzt musste ihm das passieren!
Hatte er nicht genug Sorgen?
Warum musste ihm dieses Mädel vor das Auto torkeln?
Womöglich betrunken?
Auf dem Heimweg von der Disco?
Irgendwo weiter hinten?
„La Cave“ hieß sie…
Mein Gott!
Er selber hatte auch getrunken.
Nicht so viel.
Aber ein Test würde sicher positiv ausfallen.
Führerschein weg.
Auftrag weg…
Gerd stand auf.
Wischte die Finger ab.
Hatte er auch kein Blut am Sakko oder am Hemd?
Er öffnete den Kofferraum.
Holte die Taschenlampe heraus.
Begutachtete das Auto.
Intensiv.
Kein Kratzer.
Kein Lackschaden.
Dem Kind da konnte man ohnedies nicht mehr helfen…

Doris blickte Gerd irritiert an.
Stimmt was nicht?
Du wirkst so fahrig.
Machst du dir so viele Gedanken wegen des Auftrages?
Sie drückte seine Hände.
Wirst sehen.
Alles wird gut.
Sie küsste ihn sanft.
Zerbrich dir den Kopf nicht.
Gerd sagte nicht viel.
Er dachte an die Polizei…
Hatte er irgendetwas übersehen?
Gegen fünf Uhr früh schlief er dann doch ein.
Träumte unruhig.
Er fuhr im Auto.
Ein Reh lief auf der Straße.
Und plötzlich war es ein Mädchen mit langem Haar…
Doris riss ihn aus dem Albtraum.
Gerd.
Da ist jemand an der Tür.
Kannst du schnell aufstehen?
Schlaftrunken folgte er seiner Frau an die Tür.
Sein Puls raste.
Er kannte den groß gewachsenen Mann nicht.
Entschuldigen Sie die Störung am Feiertag.
Ich habe ein Anliegen.

Gerd starrte den Mann an.
Verstand er ihn richtig?
Es gab einen Unglücksfall in der Nachbargemeinde.
Schon vor einem Monat.
Ein Familienvater ist nach schwerer Krankheit verstorben.
Hinterließ Frau und Kinder.
Wir versuchen der Familie zu helfen.
Wo es geht.
Aber es fehlt halt an allen Ecken und Enden…
Gerd atmete schwer.
Deshalb unsere Bitte auch an Sie.
Um eine Spende.
Für Weihnachtsgeschenke der Kinder.
Gerd nickt wortlos.
Holte seine Geldbörse aus der Hosentasche.
Drückte dem Mann ein paar Geldscheine in die Hand.
Der Mann lächelte.
Ich danke sehr.
Herzlichen Dank.
Frohes Fest.

Gerd duckte sich jedes Mal, wenn das Telefon klingelte.
Oder es an der Tür klingelte.
Innerlich.
Doris fuhr einkaufen.
Als sie Mittag heimkam, war sie ganz empört.
Stell dir vor.
Ein junges Mädel ist heute Nacht überfahren worden.
Sofort tot.
Und auch noch Fahrerflucht.
Wahrscheinlich ein betrunkener Führerscheinneuling.
Furchtbar!
Gerd erstarrte.
Ihre Verachtung für den Autofahrer tat ihm weh.
Sie ahnte ja nichts, dass er es gewesen war.
Nicht das Geringste.
Doris begann in der Küche zu werken.
Schweinsmedaillons.
Wir essen gleich.
Gerd stand auf.
Er hatte keinen Hunger.
Nicht den geringsten.
Aber konnte er ihr das sagen?
Doris und er waren fast zwanzig Jahre verheiratet.
Aber würde sie sein Verhalten heute Nacht verstehen?
Er brauchte den Auftrag.
Wie sagt man?
Der Zweck heiligt die Mittel.
Und er wollte das Mädchen nicht töten.

Er brauchte den Auftrag.
Wer verstand das schon?
Ein kleiner Unternehmer wie er.
Stets am Rande des Abgrunds.
Und helfen konnte man dem Mädchen ohnedies nicht mehr.
Warum musste sie ihm auch vor das Auto laufen?
Gerade hier?
In jener Nacht?
Verdammt!
Gerd ballte die Faust.
Warum musste er so ein Pech haben?
Ausgerechnet er?
Der immer fair und anständig zu seinen Leuten gewesen war?
Doris musterte ihn kopfschüttelnd.
Du bist so anders.
Was ist los?
Du wirst den Auftrag bekommen!
Alles wird gut werden!
Gerd wandte sich ab.
Schenkte sich einen Kognac ein.
Verdammt!
Warum er?

Gerd starrte auf den Wecker.
Halb sechs Uhr morgens.
Er fühlte sich wie gerädert.
Sein Rücken schmerzte.
Er musste heute morgen nach Wien fahren.
Wegen der Auftragsvergabe.
Er und seine beiden Mitbewerber.
Oder sollte er doch den Zug nehmen?
Er fühlt e sich nicht besonders.
Die halbe Nacht war er immer wieder hoch geschreckt.
Im Glauben die Polizei hole ihn.
Eine halbe Stunde später setzte er sich ins Auto.
Gurtete sich an.
Die Fahrt zog sich endlos.
Obwohl wenig Verkehr auf der Strecke war.
Aber er fuhr relativ langsam.
Fast unsicher.
Nur kein Risiko!
Er war nicht in der Verfassung schnell zu reagieren.
Seine Hände zitterten.
Auch als er in der Tiefgarage parkte.
Im Foyer des Firmenkomplexes traf er seine beiden Mitbewerber.
Man grüßte sich.
Eisig.
Gerd suchte noch einmal die Toilette auf.
Richtete sein Sakko.
Es war aschfahl.
Schweiß auf der Stirn.
Die Sitzung begann.
Die Minuten dehnten sich zu Stunden.
Gerds Bauch schmerzte.
Sein Kopf hämmerte.
Ich brauche den Auftrag!
Der Vorsitzende hob die Stimme.
…und deshalb haben wir uns für das Angebot der Firma Schaller entschieden.
Tut mir leid, meine Herren.
Sein Blick traf Gerd wie eine Lanze.
...die Entscheidung ist uns schwer gefallen.
Aber ein paar Aspekte gaben den Ausschlag.
Herzliche Gratulation, Herr Schaller!
Gerd stand auf.
Er zitterte am ganzen Körper.
Ohne ein Wort verließ er die Sitzung.
Er starrte seine Hände an.
Und wieder sah er das Blut an seinen Fingern…

Vivienne

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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