Tino Schade

Quater past Eleven

Die Tragfläche
erschien ihr wie ein Effekt aus einem siebziger Jahre Film. Ein schlechter
Trick. Sie wusste ja, dass die Tragfläche wirklich sein musste, denn sie hatte
für ihr erster Klasse Ticket bezahlt, etwas über zweitausend Dollar, war in das
Flugzeug gestiegen und hatte auch den Start erlebt. Alles sprach dafür, dass
die Tragfläche da war, wo sie sie sah.
Dennoch, es
wirkte unwirklich. Die Wolken zogen unter der Tragfläche vorbei und irgendwo
darunter tobte der Pazifische Ozean. Sie befanden sich nach ihrer Uhr, etwa
eine Stunde westlich von San Fransisco, wo sie noch, im Auftrag ihres Vaters,
eine Charity – Gala organisiert hatte. Sie sollte dabei helfen, eine heimische
Vogelart vor dem Aussterben zu bewahren. Public Relations für den Ölkonzern
ihres alten Herren. Alle Bezugsgruppen waren zufrieden, sie hatte einen perfekten
Ablauf organisiert und ihr Verlobter wartete in Kuala Lumpur auf sie, wo er ihr
auf einem der Dächer der Petronas Twin Towers, das Ja – Wort geben würde.
Ein Schluck
Bloody Mary noch und auch das zweite Glas des Tomatenpunsches war geleert. Sie
stellte ihr Glas auf dem kleinen Tisch vor ihr ab und begann sich in den Wolken
zu verlieren, die an der unwirklichen Tragfläche vorbeizogen. Ein Druck auf
ihren Ohren holte sie in das Flugzeug zurück, so dass sie ihre Nasenlöcher mit
ihren Fingern schloss und den Druck aus ihren Ohren gegen diese Blockade schob.
Jetzt ging es ihren Ohren wieder besser, ein leichtes Summen noch, doch im
Großen und Ganzen alles wieder in Ordnung. Sie hätte ein Kaugummi mitnehmen
sollen. Das half. Nun musste es eben auch so gehen.
Ein blonder
hagerer Mann nahm neben ihr Platz, eben so, als wäre er gerade in zehntausend
Metern zugestiegen. Ein schüchternes Lächeln zur Begrüßung und sie wand sich
wieder den Wolken zu. In Paris, wo sie den Antrag ihres Freundes angenommen
hatte, bevor sie weiter nach New York geflogen war und er sich nach Dubai
aufgemacht hatte, war sie einem ähnlich aussehenden Mann in einer kleinen
Parfümerie auf dem Mont Matre begegnet. In einem Club in New York, den sie für
eine Party eines hiesigen Hip Hop Tycoons hergerichtet hatte, wurde sie wieder
von einem Mann mit identischer Erscheinung studiert und auch in San Fransisco
lief er ihr über den Weg. Immer er, oder immer einer wie er? Kein flüchtiger
Blick vermochte es, ihr eine Antwort auf diese Frage zu geben. Sie würde ihn
kurz vor der Landung fragen. Besser nicht vorher, erst kurz vor der Landung.
Sie behandelte
das Personal freundlich und so wurde ihr ein weiteres Glas voll Wodka, Saft,
Soße, Rinderbrühe und Gemüse gereicht. Dieses Mal aber bitte nicht so viel
Salz. Danke. Und sie machen ihre Arbeit wirklich toll.
Sie verrührte
das Salz mit den restlichen Zutaten und legte den Sellerie auf einer roten
Stoffserviette ab. Sie hatte gesehen wie manche den Sellerie mitaßen. Meist
Leute aus Kentucky oder Utah oder irgendeinem Staat dessen Name eine der
Himmelsrichtungen beinhaltete. North Dakota, South Carolina, West Virginia und
East? East? Im East End wurde der Sellerie nicht mitgegessen.
Einige Stunden
noch, bis zur Landung. Zu viel Zeit, um über den Mann neben ihr nachzudenken. National Geographic. Nicht was sie sich
für gewöhnlich zu Gemüte führte. Sie kannte weder die meisten Länder, noch die fremdesten
Probleme die hier beschrieben wurden und das ärgerte sie, war sie doch eine
Frau von Welt. Seite zwölf  Kongo, ein
Staat dessen Reichtum eine Sandart für Handys sein könnte. Das hatte sie nicht
gewusst. Ihre Handys bestanden zu einem großen Teil aus einem besonderen Sand.
Seite zweiunddreißig, Nigeria. Kannte sie. Ihr Vater unterhielt dort
Geschäftsbeziehungen. Nette Menschen, aber so arm. Sie würde einmal eine
Charity - Gala für sie organisieren.
Auch das dritte
Glas war nicht mehr so gefüllt, wie sie es sich gewünscht hätte. Zwei an einem
Abend waren normal, drei in einer Stunde zuletzt häufiger passiert. Die
Stewardess füllte ihr ein viertes Glas, ein wenig Salz, nur nicht zu viel, und
hielt es ihr entgegen. Ein lautes Puffen, gefolgt von einer starken
Erschütterung und die Flugbegleiterin vergoss ein wenig von dem roten Saft über
dem blonden Mann. Verzeihung. Vor Scham sah sie den Mann nicht einmal an,
sondern hauchte die schüchterne Entschuldigung an ihm vorbei, so dass sie sich
angesprochen fühlte. Ein kurzes Kopfschütteln und alles war vergessen. Dem Mann
schien das nichts auszumachen. Ein weiteres Beben und dieses Mal ergoss sich
ein wenig von dem Bloody Mary auf ihren Schoß. Verdammt. Viertausendzweihundert
Dollar mit Tomatensaft besprenkelt. Perfekt.  
Sie Stimme nach
dem Knacken der Lautsprecher gebot den Fluggästen sich anzuschnallen und auch
die Flugbegleiterinnen hörten auf Spirituosen zu vermischen und gurteten sich an ihre Sitze. Der Wodka
verlor den Kampf gegen das flaue Gefühl, was in ihr aufkommen wollte und ihre
Hände begannen unruhig zu werden, als sie versuchte den Sicherheitsgurt um
ihren Bauch zu schließen. Der Mann neben ihr sah ihr gelassen dabei zu und
schien sich nicht darum zu scheren, dass es unhöflich war einen Fremden,
besonders eine fremde Dame, einfach so anzustarren. Sie versuchte ihn zu
ignorieren und wendete sich wieder den Wolken zu. Bloß ablenken von ihm und dem
Beben und dem Lautsprecher. Nicht an den Fleck auf ihrem Schoß denken. Nur
keinen Stress.
Die Wolken. Sie
waren dunkler und zogen schneller an ihr vorbei. Sie schienen ihren Ursprung an
der unwirklichen Tragfläche zu nehmen, dem Triebwerk entflohen zu sein. Wieder
ein Beben und die schwarzen Wolken schlugen gegen ihr Fenster, zogen sich kurz
zurück, um, begleitet vom nächsten Beben wieder schwärzer gegen das Glas zu
schlagen. Je stärker das Beben, um so stärker der Schlag der schwarzen Wolken.
Das Beben wurde stärker, häufiger, die Wolken schwärzer. Panik.
Nicht der
richtige Zeitpunkt für Etikette. „Was passiert hier?“, dem Mann zugewandt,
leise, weil ihr Atem stockte.
„Überraschung.
Wir feiern eine Party. Deine Party. Deine Geburtstagsparty.“ Er wurde lauter,
begann zu posaunen. „Ja Baby, eine Party nur für Dich, weil wir dich alle so
verdammt, verdammt, verdammt, verdammt, verdammt, verdammt, verdammt lieben.“
Was zum Teufel?
Wer? Warum?  „Was?“ Verdutzter hatte sie
noch nie ausgesehen. Dümmer auch nicht. Ängstlich.
„Der Tag deiner
Geburt. Dein Geburtstag, Baby.“ Er stand dabei auf und begann auf seinem Sitz
zu tanzen. Niemand schien das zu stören. Alle starrten nur den Lautsprecher an.
Der schwieg.
„Nicht heute.“,
stammelte sie dem Springenden und Tanzendem entgegen. „Im Dezember erst.“
„Heute, Baby.
Der Tag deiner Geburt.“, rief dieser überschwänglich.
Was konnte er
wollen? Er musste verrückt sein. Vielleicht ein wahnsinniger, der sie um die
ganze Welt verfolgt hatte. Aber warum jetzt? Ein Wahnsinniger.
„Was? Warum? Wer
sind sie?“, schon ein wenig wütend, verunsichert. Das Pärchen auf der anderen
Seite des Ganges sah sie stirnrunzelnd an und schien sich mehr an ihrem Unverständnis, als an dem lauten
seltsamen Verhalten des Mannes neben ihr zu stören, der nun ständig, wie einen
Zählreim, immer wieder die selben Verse singend, auf und absprang und sich
dabei mit der Euphorie eines Kindes im Kreis zu drehen begann.

 
Dein Geburtstag ist heut’

Oh wie sehr dich das doch freut

Deine Geburt steht heut’ an

Dein neues Leben beginnt dann


 
Es sah aus wie
ein Hexentanz. Er flösste ihr furchtbare Angst ein. Ein Wahnsinniger, der sie
um die halbe Welt verfolgt hatte.
„M’am, alles
OK?“ Die Stewardess, die ihr so viele von den Bloddy Mary gereicht hatte, war
nun über sie gebeugt und wedelte ihr Luft mit einer der Sicherheitsbroschüren
zu.
Ihr Schädel. Wie
explodiert. Schmerzen, wie sie sie noch nie erlebt hatte.
„M’am, alles OK?
Wir hatten ein kleines Problem mit einem der Triebwerke, aber die Piloten haben
alles im Griff. Wir werden auf Hawaii notlanden. Keine Sorge. Sie waren
Ohnmächtig.“ Kurze Pause. „Sind sie Epileptikerin, M’am?“
Nein. War sie nicht.
Die Flugbegleiterin fragte das, weil sie, sich wild verkrampfend und völlig
abwesend, von ihrem Sitz gerutscht war, als der Pilot gerade eine Entwarnung
durchgegeben hatte. Nein, sie war keine Epileptikerin. Etwas, das zu diesem
Zeitpunkt noch so groß war, wie eine 25 Cent Münze, übte Druck auf ihr Hirn aus
und wuchs von Minute zu Minute weiter. Der Mann, den sie seitdem nie wieder
gesehen hatte, hatte Recht behalten. Ein neues Leben.    


 
 

        

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Tino Schade).
Der Beitrag wurde von Tino Schade auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Tino Schade als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Spiegelungen des Daseins: HImmel und Erde: Hommage an das Leben von Jürgen Wagner



Die Gedichte aus den Jahren 2013-16 erzählen von der ‚Hochzeit‘ von Himmel und Erde. Ob in der kraftgebenden Schärfe des Rettichs oder in der Vitalität der Jahrtausende schon lebenden Eibe, ob in der Weisheit alter Geschichten oder im Wunder der Liebe, ob in spirituellen Erfahrungen oder in den Weiten des Alls: überall begegnen sich Licht und Dunkel, oben und unten. Unsere gewohnte Alltagswelt bekommt etwas von ihrem wahren Glanz wieder, wenn wir uns ein Stück dafür öffnen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wie das Leben so spielt" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Tino Schade

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Ein Tag der besonderen Art von Susanne Kobrow (Wie das Leben so spielt)
Familienbesuch von Uli Garschagen (Wie das Leben so spielt)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen