Martina Welack

Jim und Zaubererbse oder Rotkäppchen Part II

Frierend marschierte Jim die Landstraße. Es wurde langsam Herbst und ein starker Wind wehte. Jim trug nur eine dünne Strickjacke über dem zerschlissenen alten Pullover und durch seine Sandalen spürte er jeden Stein auf der Straße. Doch dies alles störte ihn kaum, denn Jim war zu traurig, um die stechenden Steinchen oder den eisigen Windzug zu spüren. Er war nämlich auf dem Weg zu seiner Großmutter. Und Großmutter war schwer krank. Schon seit einigen Monaten zog sich jetzt die Krankheit schon hin. Es hatte mit harmlosem Husten begonnen hatte, doch jetzt zwangen Fieber, blutiger Hustenreiz und unerträgliche Gelenkschmerzen die alte Frau zur Bettruhe. Der Junge war sich sicher.. lange würde seine Großmutter wohl nicht mehr überleben, denn sie war schon sehr schwach geworden in der letzten Zeit und ihr Lebenswille schien immer mehr zu weichen. Während er so in Gedanken versunken dem Verlauf der immer enger werdenden Straße folgte, bemerkte er nicht, dass er beobachtet wurde. Ein sanfter, kalter Luftzug verfolgte ihn, Schatten von unerkennbarer Gestalt.
 
Die Straße endete in einen schmalen Waldweg und Jim folgte ihm weiter. Die Großmutter wohnte am anderen Ende des Waldes und der Junge würde noch ein Weilchen unterwegs sein. Also fing er an sich abzulenken. Er pfiff ein fröhliches Lied, das er in der Schule gelernt hatte, hob ein paar bunte Blätter vom Boden auf und erriet Baumarten anhand der Rinde. Bald jedoch bemerkte er eine unheimliche Stille im Wald. Normalerweise waren immer irgendwelche Geräusche zu hören gewesen, wenn er diesen Weg zu seiner Großmutter gegangen war. Vogelgezwitscher oder der entfernte Ruf wilder Tiere, Eulen, Hirsche oder davon hoppelnde Eichhörnchen und Hasen. Doch heute.. nichts. Nur das ungemütliche Rauschen des Windes in den Blättern. Zitternd blieb Jim stehen und sah sich um. Er war kein ängstlicher Junge, doch so ganz alleine im Wald. Man wusste ja nie.
 
„Reiß dich zusammen!“ Dachte Jim laut sich und zwang sich zum Weitergehen. „Das kommt von den albernen Gruselgeschichten die du immer liest!“ Er entdeckte neben sich einen Strauch mit Wacholderbeeren und pflückte sich eine Handvoll davon. Einige der Beeren verschlang er gleich gierig, die Restlichen wollte er der Großmutter schenken. Kaum hatte er sie heruntergeschluckt verschwand  auch seine Angst und er pfiff weiter vor sich hin, während er immer weiter in Richtung Großmutter ging.
 
Es waren nur noch wenige Meter bis zum Haus der Großmutter, als Jim auf einmal schreckliche Bauchkrämpfe bekam. Er strauchelte, konnte sich nicht mehr halten und fiel zu Boden. Zitternd hielt er sich den Bauch und bemerkte, dass er nicht nur vor Schmerz zitterte, es war auf einmal auch eisig kalt geworden. Und die Bäume der Blätter waren mit einem Schlag still geworden. Nichts bewegte sich mehr. Kein einziger Ton war zu hören. Unheimliche Stille.
 
Jim wagte es kaum zu atmen, eine Gänsehaut krabbelte ihm langsam das Bein hinunter. Da plötzlich spürte er, wie sich von hinten ein eisiger Luftzug näherte. Der Junge wagte es nicht sich umzudrehen. Fest presste er beide Hände in den Jackentaschen zusammen... und bemerkte die Wacholderbeeren von vorhin. Ach daher vielleicht die Bauchschmerzen, vielleicht waren sie schon verdorben gewesen... Jim nahm die Beeren aus der Tasche und sah sie an. Da geschah etwas merkwürdiges. Die vielen dunkelvioletten bis rötlichen Früchte begannen zusammenzuschrumpfen, verwandelten sich in einen festen Klumpen, der schließlich in sich zusammensackte und immer kleiner zu werden schien. Er verfärbte sich dunkler und dunkler, bis er fast schwarz war. Schwarz mit einem leichten Grünstich. In Sekundenbruchteilen, sodass sich der Junge gar nicht sicher war, ob er sich das nur einbildete, verwandelten sich die Beeren in einen winzigen festen Gegenstand. Erbsenähnlich sah er aus, ja, wenn man genauer hinschaute konnte man fast meinen, es wäre tatsächlich eine Erbse.
 
Erschrocken sprang Jim auf. Da spürte er einen säuerlichen, heißen Atem in seinem Nacken. Voll Panik stopfte er die Erbse zurück in die Tasche und stürzte nach vorne, lief ein paar Meter auf das Haus der Großmutter zu und als er den Atem nicht mehr hörte drehte er sich aufgelöst um. Nichts. Der Wald sah aus wie immer. Doch das konnte täuschen. Lieber auf der Hut bleiben. Jim ging – den Wald nicht aus den Augen lassend – auf das Haus zu. Als er angekommen war klopfte er und wartete auf das „Herein!“ der Großmutter. Doch die alte Frau meldete sich nicht. Besorgt klopfte der Junge noch einmal, diesmal stärker. Wieder kein Zeichen von der Großmutter. Er fühlte, wie die Panik erneut in ihm wuchs. Mit aller Kraft trat Jim gegen die morsche alte Holztür, die sofort nachgab und mit einem lauten Rumpsen nach innen auf den Boden fiel. Vorsichtig spähte Jim um die Ecke. Nichts zu erkennen. Also lief er rasch und nach ihr rufend nach hinten ins Zimmer seiner Oma.
 
Da lag sie. Mit geschlossenen Augen und fahler Gesichtsfarbe. Die weißen Haare fielen wie Federn auf das Kopfkissen. Jim trat näher an sie heran und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Großmutter?“ flüsterte er, „Bist du wach?“
 
Ruckartig riss die alte Frau die Augen auf, doch was der Junge sehen musste, waren keine Augen, es waren stechend gelbe Punkte, die ihn böse blitzend musterten. Die Gestalt öffnete den Mund, eine Höhle von spitzen schwarzen Zähnen und einem lähmenden Verwesungsgeruch. Das Wesen – Jim erkannte es nicht mehr als seine geliebte Großmutter – setzte sich im Bett auf und wie aus dem Nichts ergriffen Wurzeln, die aus dem Laken zu kommen schienen Jims Knöchel und Handgelenke. Unfähig sich zu bewegen starrte der Junge das Wesen vor sich an, das ihn immer näher zu sich zog.
 
Da kam ihm eine Idee... die Erbse, die sich vorher in seiner Hand verwandelt hatte.. sie musste einen Zweck haben! Vielleicht war ja sie die Lösung! Eine vage und unsichere Hoffnung, aber zumindest eine Chance! Blitzschnell versuchte er sich loszureißen, doch die Wurzeln die ihn umklammerten waren zu stark. Jim biss und schlug und trat um sich, doch immer wieder fand eine neue Wurzel den Weg um ihn fest zu halten, es schienen immer mehr zu werden und der grausame Mund des Wesens kam immer näher. Lautes Rauschen, wie Wind, umgab die beiden Kämpfenden, unsagbar laut und unheilverheißend.
 
Schließlich gelang es dem Jungen irgendwie einen Arm freizubekommen. Ohne nachzudenken reagierte er, griff nach der Erbse in seiner Jackentasche, nahm sie und schleuderte sie mit aller Kraft in den Rachen der unheimlichen Gestalt.
 
Sofort ließen die Wurzeln von ihm ab. Sie fielen in sich zusammen und zogen sich Stück für Stück unter das Laken zurück. Die Augen des Wesens erstrahlten nicht mehr in stechendem Glanz, sondern wurden glasig, wie leer. Der Mund schrumpfte zusammen und die harten bösen Züge wurden geglättet, weich und friedlich. Je mehr sich zurückveränderte, desto mehr wurde Jims Großmutter wieder zu erkennen. Sie stöhnte leise, öffnete ihre sanften blauen Augen und blickte den Enkel an.
 
„Es ist vorbei, Junge.“, sagte sie „Ich werde jetzt in eine andere Welt gehen, doch ich werde immer bei dir sein. Du bist ein starker und mutiger Junge, du wirst das meistern. Und wenn du einmal Sorgen hast.. dann denke an mich.“
 
Sie schloss die Augen und neigte den Kopf zur Seite. Dann schlief sie sanft ein. Für immer.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.10.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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