Claudia Lichtenwald

Das Urteil

"Miteinander werden wir unsere Erde retten oder miteinander in den Flammen ihres Brandes umkommen! (J.F. Kennedy)

Großmutter,
Du sagst wir sind uns ähnlich – doch wir sind es nicht.

Vielleicht liegt es daran, dass deine Jugend über ein halbes Jahrhundert zurückliegt, ich dagegen bin jetzt jung – in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit.
Vielleicht liegt es an deinem Charakter, denn zweifellos warst du ganz anders ans ich jemals sein werde.
Vielleicht liegt es aber auch an deiner damaligen Umwelt, deinen Mitmenschen und dem System das dich gefangen hielt und dem du nicht entkommen konntest. Weil du es für eine Tatsache und nicht für Willkür, eine fixe Idee hieltest.
Du mußt daher unter einem unvorstellbaren Druck gelitten haben, dich anzupassen, ganz anders als ich.

Dennoch:
Ich versuche diesen Gedanken normalerweise nicht einmal zu denken, doch heute will ich offen sprechen: Ich verurteile dich zutiefst.

Vor sechzig Jahren ging dein Krieg zuende, ja, dein Krieg.
Wenn ich Bilder der jubelnden Menge sehe, sehe ich dich, denn du hast mitgejubelt.
Wenn ich Berichte der fast zu Tode gequälten "Aussenseiter" lese, sehe ich dich, denn du hast geschwiegen.
Wenn ich über die Gräber der gefallenen Soldaten laufe, sehe ich dich, denn du hast sie ziehen lassen.
Auch die Zeugnisse der Hilflosigkeit erinnern mich an dich, denn du hast resigniert.
Du hast die, die sich gegen das Unrecht gewandt haben, getötet, weil du dich nicht hinter sie gestellt hast.
Du hast das Unrecht gekannt und bist sitzengeblieben.
Weil es bequem ist sitzenzubleiben und weil es in Ordnung ist sitzenzubleiben, wenn es die Anderen auch tun.
Wenn ich an dich denke, erscheint vor meinem geistigen Auge das Bild von der gesichtslosen Menschenmasse:
Das Bild, in dem die vielen tausend Menschen Schulter an Schulter stehend, die Augen verdrehen, stöhnen und denken:
"Was kann ich armer, einzelner Mensch schon tun?!"
Dieses Bild begegnete mir in meinem Schulbuch, und ich habe es nie vergessen.



Doch Kind,
Du sagst wir ähneln uns nicht - du hast Unrecht.

Vielleicht liegt es daran, dass du jung bist, zwar in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit, doch auch ich bin jung gewesen. Auch wenn meine Jugend bereits über ein halbes Jahrhundert zurückliegt.
Vielleicht liegt es an unserem Charakter: Zweifellos bist du ganz anders als ich es jemals gewesen bin, dennoch finden wir unzählige Parallelen, wenn wir genau hinsehen.
Vielleicht liegt es aber auch an deiner Umwelt, an deinen Mitmenschen und an dem System das dich gefangen hält und dem du nicht entkommen kannst. Weil du es für eine Tatsache hälst und nicht für Willkür, eine fixe Idee.
Du mußt unter einem unvorstellbaren Druck leiden, dich anzupassen, genau wie ich damals.

Jeden Morgen, wenn ich die Zeitung aufschlage und lese, dass die Wälder krank und die Ozeane verpestet sind, dass der Nordpol schmilzt und die Ozonschicht voller Löcher ist, muss ich an dich denken, die du den Mund nicht öffnest, obwohl du weisst dass unsere Welt keine eigene Stimme hat.
Jeden Tag, wenn ich vor die Haustüre gehe, und keine Vögel mehr singen höre, weil die Gemeinde dort alle Bäume fällte, die ihnen als Kinderstube dienten, denke ich an dich, denn du hast noch nicht einmal versucht, sie davon abzuhalten, obwohl du wußtest, dass es unrecht ist.
Jeden Abend schalte ich den Fernseher an und der Bildschirm ist rot von all dem Blut, dass die Menschen auf dieser Welt in all den Kriegen vegiessen. Und auch du befindest dich schweigend in ihrer Mitte.
Wenn ich krank werde, von all den vergifteten und manipulierten Dingen die ich gegessen habe, frage ich mich, wie musst du dich fühlen, mitschuldig daran zu sein. Da du nicht gehandelt hast. Nicht handelst. Und nicht handeln wirst. Sogar ich alte Frau habe ein Recht auf unverseuchte Nahrung.

Um uns herum brennt die Erde, sie lodert lichterloh.

Jedesmal, wenn die Frau von gegenüber mir von der abgestumpften und tatenlosen Jugend erzählt, muß ich an dich denken, die du ebenfalls resignierst.

Ich weiß wie bequem es ist zu schweigen.
Ich weiß wie bequem es ist sitzenzubleiben.
Ich weiß wie bequem es ist, zu resignieren, die Augen zu verdrehen und zu stöhnen:
"Was kann ich armer, einzelner Mensch schon tun?!"

Am besten aber weiß ich, wie bequem es ist, mitzumachen.
Du selbst zeigst es mir jeden Tag aufs Neue, wenn du morgens gedankenlos in dein T Shirt schlüpfst, das auf der anderen Seite des Globus von Kinderhänden genäht wurde.
Wenn du morgens in dein Auto steigst, den Zündschlüssel im Schloß drehst und ich schon in aller Frühe vom Kampfgeschrei deines aufheulenden Motors geweckt werde.
Wenn ich kurze Zeit später die unzähligen Mülltüten in den Hinterhof trage, die sich füllten, als du mit deinen Freunden gestern abend ausgelassen im Wohnzimmer feiertest. 

Jede Stunde jeden Tages werde ich durch dich daran erinnert, dass sich überhaupt nichts geändert hat.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.11.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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