Barbara I.

Die Königin und der Narr


Es war eine Königin, die hatte einen großen Hofstaat und zu diesem gehörte auch ein Narr. Er selbst hatte ihr seine Dienste angetragen und seitdem entzückte er sie immer wieder aufs Neue mit den kurzweiligen Geschichten, die er zu erzählen wußte, seinen Späßen und der treffenden Ironie, mit der er sich über das Leben am Hofe äußerte. Er war ein rechter Narr; gerade so, wie ihn sich die Königin immer gewünscht hatte. Denn das muß man sagen, obwohl ihre Freunde, Minister und Gefolgsleute ihr allesamt recht lieb waren, ein Narr hatte ihr gefehlt, bis eben jener aufgetaucht war.

Die Königin fragte ihn nie, woher er gekommen war, denn sie wollte auch nicht erzählen, woher sie gekommen war. Sie war ja nicht von jeher Königin in diesem Reich gewesen; man hatte es ihr angetragen, nachdem der einstige Herrscher ohne Nachkommen verstorben war. Um ihre Vergangenheit jedoch gab es ein Geheimnis. Niemand wußte darum bescheid, aber da sie das Regieren in so vorzüglicher Weise verrichtete, kümmerte sich auch niemand darum.

Mit Geheimnissen hat es nun - und das nicht nur in Märchen - eine besondere Bewandtnis. Sie müssen ans Tageslicht kommen. Denn ein Geheimnis, um das niemand weiß, ist kein Geheimnis, sondern eine schwelende Last, die alles um sich herum vergiftet.

Der Narr, der vieles beobachtete, um ein Sujet für seine Geschichten und einen Angriffspunkt für seine Späße zu finden, war gezwungenermaßen auch ein Meister darin, Geheimnisse zu entdecken - und das kann nur, wer selbst eines hat. Er wußte um ihre Gefährlichkeit und da er bei seinem Dienstantritt der Königin geschworen hatte, ihr zu dienen mit all seinen Kräften, und sich geschworen hatte, auch wenn es über seinen eigentlichen Dienst hinausginge, forschte er danach, wie er ihr in diesem Punkte hilfreich sein konnte.

Sein Geheimnis war dies: Er hatte ein Herz, der Narr.

Die Königin also fand Gefallen an ihm und er fand Gefallen an der Königin. Er kam unaufgefordert zu ihr, wann immer sie seiner bedurfte - und manches Mal noch darüber hinaus, der Narr. Und sie kam zu ihm, wann immer sie sich von ihren Amtsgeschäften freimachen konnte und sich die Gesellschaft ihres Narren wünschte. Im Klang seiner Worte und im Nachhall seiner Späße lockerten sich die Bande ihres streng reglementierten Lebens.

„Ach, lieber Narr.“ sagte sie dann. „Ohne Dich würde mir mein Leben trist erscheinen.“

„So bin ich das Salz in Deiner Lebenssuppe, Königin?“ fragte der Narr dagegen.

„Du hast wie immer den angemessenen Ausdruck gefunden.“ lachte sie. „Was wären die fetten Fleischbrocken und das zarte Gemüse ohne das Salz in der Suppe. Was wären Macht und Reichtum ohne Dich, mein Narr.“

Das waren Worte, die das Herz des Narren wärmten. Er machte sich nicht bewußt, daß für ihn die Essenz war, was für sie bloße Zutat sein konnte. Daher schmerzte es ihn, als sie ihn eines Nachmittages beiseite nahm und ihn eindringlich bat: „Höre zu. Heute abend mußt Du Dich ein wenig zurücknehmen. Wir bekommen Gäste, an denen mir sehr viel liegt. Du magst mir morgen die Lächerlichkeiten erzählen, die Du an ihnen entdeckt hast. Vor ihnen aber halte Deine scharfe Zunge im Zaum.“

„Was soll von einem Narr übrigbleiben, wenn er seine Narrheit beiseite läßt?“ fragte er sie.

„Du wirst uns alle unterhalten, aber niemanden verletzen.“ bestimmte die Königin ungeduldig.

Der Narr tat sein Bestes, diesem Wunsch zu willfahren, auch wenn er dabei das Gefühl hatte, er könne mit billigen Possen weder den Anwesenden noch sich selbst dienen. Das fröhliche Gelächter der Gäste bewies seine Meisterschaft ebenso, wie der zufriedene und amüsierte Blick der Königin. Doch er selbst amüsierte sich so wenig dabei, daß er die Königin am nächsten Tag bat, sie möge ihm in Zukunft lieber erlauben, der Gesellschaft an einem solchen Abend fernzubleiben, als daß er noch einmal sich selbst derart zuwiderhandeln müsse.

Die Königin tat so, als hielte sie dies für einen seiner humorigen Einfälle.

„Warst Du denn so unglücklich mit unseren Gästen?“ fragte sie. „Hat Dir Deine Zurückhaltung nicht auch ermöglicht, sie genauestens zu beobachten? – Erzähle mir, was Du an ihnen festgestellt hast; nun sind wir ganz unter uns. Laß’ Deinem Witz die Zügel schießen. Ich freute mich die ganze Nacht über zu hören, was Du Dir dachtest.“

Der Narr hatte sich in seinem Kummer gar nichts gedacht, aber nun, derart aufgefordert, kamen ihm doch Bilder und Worte in den Sinn, die er unwillkürlich aufgenommen hatte. Seine Gedanken, seine Gefühle, seine Zunge gerieten in Bewegung und schon bald lachte die Königin laut auf in offensichtlichem Vergnügen. Ein wenig zu laut. Das fiel dem Narren auf.

„Wie gut Du ihn kennst!“ rief sie ein über das andere mal. „Wie treffend Du das alles herausgefunden hast: Seine übertriebene Ernsthaftigkeit, sein Bestreben aus allem ein Problem zu machen, das er selbst sofort im Augenblick lösen muß. Seine zur Schau gestellte Behutsamkeit, die einen im ersten Augenblick gar nicht daran denken läßt, wie zielsicher er damit die Situation an sich reißt.“

Sie sprach nur von dem einen Gast, obwohl ihrer sechs anwesend gewesen waren. Das fiel dem Narren auch auf.

„Ihr scheint meiner Ausführungen nicht zu bedürfen, meine Königin.“ sagte er schließlich. „Wolltet Ihr die Bestätigung Eurer Ansichten hören, über jemanden, den Ihr offensichtlich schon seit langem kennt?“

Die Königin wurde augenblicklich ernst.

„Ja, ich kannte ihn.“ gab sie dann ärgerlich zu. „Ich kannte ihn vor vielen Jahren einmal sehr genau. Er hat sich nicht verändert. – Was Du mir nach nur einem Abend sagen konntest, erschloß sich mir selbst leider erst langsam in vielen Wintern und Sommern.“

Dies war der Augenblick auf den der Narr gewartet hatte. Das Kästchen des Geheimnisses stand offen. Hier war die Königin zum ersten Mal selbst ganz wahrhaftig und ihm aus diesem Grund kostbarer als jemals zuvor.

„Dann wird Euch die Aufrichtigkeit, die in all dem steckt, nicht entgangen sein.“ warf er ihr achtlos hin um zu sehen, wie sie darauf eingehen würde.

„Wie, Du nimmst ihn in Schutz?“ rief sie unbeherrscht. „Ich warne Dich! Ein Wort weiter in diese Richtung und ich lasse Dich auspeitschen!“

„Verzeiht Eurem Narren!“ bat er mit gewinnendem Lächeln und einer kleinen Verbeugung. „Von mir werdet Ihr Aufrichtigkeit dieser Art nicht zu erwarten haben.“

„Das hoffe ich!“ Sie drohte ihm mit dem Finger, fand dann aber zu ihrer charmantesten Art zurück. „Wir wollen doch Freunde bleiben, nicht wahr?“ und sie tat etwas, was sie noch nie getan hatte: Sie legte ihre Hand auf den Arm des Narren und sah ihn mit so heiterem Blick an, daß ihm ganz schwindelig wurde.

„Er ist geblieben.“ raunte sie ihm zu. „Heute abend magst Du mit ihm nach Deiner Lust und Laune verfahren. Ganz wie Du willst, hörst Du, ich gebe ihn in Deine Hände.“

Der Narr trat einen Schritt zurück und sah die Königin abschätzend an.

„Die Hände Deiner Soldaten sind für Racheakte sicher besser geeignet als die Deines Narren.“

„Rache! – Wer würde so grausam und kleinlich sein. – Ich wünsche ihn weder tot noch verletzt. Aber nein, laß ihn sich erkennen, Du hast Talent dazu. Das ist alles, was ich mir wünsche, daß er begreift, was er tut. Schone ihn nur nicht.“

Der Narr sagte sich, daß dies unter Umständen nicht weniger grausam ausfallen mochte, ginge es ganz nach dem Willen der Königin. Er sagte sich auch, daß sie wohl weniger wünschte, der Gast würde begreifen was er täte, als daß er begreifen sollte, was sie, die Königin, dabei empfände. Würde das nicht auch sie selbst bloßstellen und konnte sie dies ebenfalls wünschen? Und wäre dies schließlich der Punkt, in dem er ihr dienlich sein konnte?

Bis der Abend schließlich kam, hatte er seine Gedanken geordnet. Es war ihm nicht ganz wohl bei der Sache, denn neben den Belangen der Anwesenden waren ja auch seine eigenen nicht aus den Augen zu verlieren. Und gerade deswegen, nicht weil er feig gewesen wäre, erschien er schließlich, anstatt der Königin rundheraus zu sagen, er weigere sich die Aufgabe zu übernehmen.

Anfangs zögerte er, weil ihm die ruhige Aufgeschlossenheit des Gastes kaum einen Angriffspunkt bot. Als dieser jedoch begonnen hatte, seine Ansichten über die Bedeutung der hohen Verantwortlichkeit einer Herrschenden in allen Einzelheiten auszubreiten, unterbrach ihn der Narr mit den Worten: „Ihr wollt mit Euren Ausführungen andeuten, daß wir andern uns alle unverantwortlich benehmen dürften?“

Der Gast war verblüfft. Er wehrte sich gegen die Unterstellung, schüttelte sie ab und fuhr fort, wobei er die Königin, die ganz in seine Rede vertieft schien, eindringlich ansah.

„Doch wenn Ihr die ganze Verantwortung immer nur der Königin zuschiebt,“ ließ sich auch der Narr nicht beirren. „werdet Ihr kaum jemals erfahren, wieviele Möglichkeiten in der eigenen Verantwortung liegen.“

Der Gast unterbrach, wandte sich ihm zu und meinte nach einigen Sekunden ernsthaften Überlegens: „Es liegt in Eurer Art, Einzelheiten in den Worten oder dem Auftritt Eures Gegenübers unter einer Lupe zu betrachten. Dieser Blick scheint manches der Lächerlichkeit preiszugeben. Er amüsiert uns, sollte uns aber nicht davon abhalten, Gedanken, die wir als wertvoll erachten, mit der nötigen Achtsamkeit zu behandeln.“ Dann fügte er nachdrücklich hinzu: „Die Aufgaben einer Herrschenden beinhalten große Verantwortlichkeit für den gesamten Bereich, der ihr unterstellt ist. Die Verantwortlichkeit niedriger gestellter für den eigenen Bereich ist davon überhaupt nicht betroffen.“

„Nun, seht Ihr.“ lachte ihn der Narr freundlich an. „Da habt Ihr es auf den Punkt gebracht. Besser auf zwei Punkte. Und so, in zwei einzelne Einzelheiten zerlegt, kann auch ein Narr wie ich Eure wertvollen Gedanken durchaus verstehen.“

„Die Frage ist aber doch, wie wir den Diskurs, den Ihr nun einmal eröffnet habt, beenden werden.“

„Welchen Diskurs, edler Herr? Ich stimme Euch zu. In jedem der beiden Punkte. Und ich nehme an, die Ansicht ist so allgemein, daß Ihr in niemandem hier am Tisch einen Gegner darin finden werdet.“

Derart seines Gesprächsthemas enthoben, sah man den Herrn ärgerlich auf seinen Teller blicken. Die Gäste waren erleichtert, weiterer Langatmigkeit zu entgehen. Die Königin aber sah überaus zufrieden in die Runde und schenkte dem Narren ein Lächeln.

„Oh, lächle nicht, meine Königin.“ rief der Narr aus und machte gerade dadurch den Gast auf diesen Umstand aufmerksam. „Die Verantwortung ist doch ein sehr ernstes Thema. Wir wollen sie nicht der Lächerlichkeit preisgeben. – Wie wir nun wissen, tragt gerade Ihr sie doppelt.“

„Davon habe ich nichts gehört.“ Ihre Stimme war spröde geworden und schwankte ein bißchen.

Auch der Gast sah verunsichert zwischen der Königin und dem Narren hin und her. Schließlich war er jedoch arglos genug, im entgegenkommenden Blick des Narren eine Aufforderung zu erkennen.

„Aber ja, Majestät,“ sagte er. „das war es eben, was ich Euch zu vermitteln versuchte. Eine Herrschende ist nicht nur für die Belange ihrer Untertanen verantwortlich. Daneben trägt sie die Verantwortung für das eigene Leben, die auch jeder andere trägt. Als Herrschende bestimmt und entscheidet sie für die, deren Wohl ihr am Herzen liegt, von einem hohen Standpunkt aus. Als Mensch ist sie mehr um Balance zwischen sich und dem anderen bemüht.“

„Wie gewöhnlich.“ entgegnete die Königin gelangweilt. „Nein, ich mache da keinen Unterschied. Ich bin Königin zu jeder Stunde des Tages und der Nacht. Als Königin treffe ich Entscheidungen für mich und für andere in gleicher Weise. Ein hoher – wohlgemerkt geistiger – Standpunkt ist in beiden Fällen unabdingbar. Balance gibt es dort, wo man sich meiner allseits anerkannten Überlegenheit fügt.“

Man wechselte das Thema. Der Gast wurde zurückhaltend, der Narr lebhaft. Es mag Zufall gewesen sein, daß sie das Fest in kurzem Abstand voneinander verließen. Der Diener, der aber mein Gewährsmann für diese Geschichte ist, behauptet steif und fest, er hätte sie sich draußen im Flur die Hand reichen sehen. Der Gast hätte sich bei dem Narren bedankt.

Am nächsten Morgen eilte die Königin dem Narren entgegen:

„Das hast Du fein gemacht, mein Lieber.“ rief sie in einem Jubel, der wie ein Schluchzen klang. „Er ist fort, dieser schreckliche Mensch. Noch in der Nacht abgereist. Nun sind wir wieder ganz unter uns. Erheitere mich, lieber Narr. Ich habe schlecht geschlafen.“

Der Narr sah die Königin an, wie er sie noch nie zuvor angesehen hatte. Und dieser Blick lenkte den ihren auf sein Gewand, das schlicht aussah, an diesem Morgen. Gerade so wie das Gewand eines beliebigen ihrer Untertanen.

„Ich kann Dich nicht mehr erheitern, meine Königin.“ sagte er achtsam. „Und darum bitte ich Dich, mich gehen zu lassen.“

„Du willst mich verlassen?“ rief sie erschrocken aus. „Aber was soll ich ohne Dich anfangen? Das Leben ist trist und gleichförmig ohne Deine Späße. – Was soll das heißen, Du könntest mich nicht mehr erheitern?“

„Ich kann keine Späße machen, ohne die Balance aufrechtzuerhalten.“ erklärte der Narr. „Und ich kann mich Deiner "allseits anerkannten Überlegenheit" nicht fügen.“

„Aber warum nicht?“ Die Königin stampfte zornig mit dem Fuß auf.

„Weil ich gestern in das Herz eines Menschen gesehen habe und weil ich selbst ein Herz habe.“

Die Königin sah ihn verblüfft an. Da verbeugte sich der Narr und ging.

Sie sah ihm eine Weile nach, setzte sich dann auf den nahen Brunnenrand und sagte enttäuscht zu sich selbst: „Ach, Gott, er war gar kein Narr. Er war ja ganz gewöhnlich. Genauso gewöhnlich wie der andere.“

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Barbara I.).
Der Beitrag wurde von Barbara I. auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.11.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Barbara I. als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Philippo oder die Meise auf dem Blechschrank von Swen Oliver



In diesem Roman schildert der Autor authentische Erlebnisse über sexuellen Missbrauch und die Folgen davon. Schicksale, die unter die Haut gehen, werden begleitet von psychologischen Erläuterungen. Die Mechanismen, die durch sexuellen Missbrauch ausgelöst werden, befinden sich meist im Abseits der konventionellen Gesellschaft, an und jenseits der Grenze der Legalität.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Märchen" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Barbara I.

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Ritter ohne Kopf und Tadel von Barbara I. (Kinder- und Jugendliteratur)
Die fünf Hühner von Christa Astl (Märchen)
Are you crying? von Andrea G. (English Stories)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen