Florence Siwak
Anna und Leon - alte Frau und rote Karte
Das kleine muffige Zimmer war mit den drei Personen fast schon überfüllt.
Anna Rosenzweig saß kerzengrade auf dem unbequemen Holzstuhl; ihre grauen kurzen Haare akkurat frisiert, die Hände gefaltet.
Leon
lümmelte sich mit ausgestreckten Beinen über den Stuhl, wohl auch, um
dem uniformierten Kontrolleur, der ihnen gegenüber saß, seine
Verachtung zu demonstrieren. Seine dunklen Augen in dem braunen Gesicht
musterten misstrauisch die Umgebung.
Der Kontrolleur beugte sich über den Tisch und sprach laut und übertrieben deutlich - wie zu einer Schwerhörigen.
"Sie
wissen doch, Frau Rosenzweig, dass Sie sich Leistungen erschlichen
haben, die Ihnen nicht zustanden.... Ist Ihnen das klar?"
"Was heißt erschlichen" empörte sich Anna. " Ich hätte ja während der roten Zeit die Bahn benutzen können. Das stand mir zu ..."
Aber Frau Rosenzweig," schüttelte ihr Gegenüber betrübt den Kopf.
"Ihre
Nahverkehrs-Chipkarte ist nur für die graue Zeit gültig, also zwischen
10.00 und 12.00, 14.00 und 15.00 und ab 19.00 Uhr. Das müssen Sie doch
wissen, Sie sind doch schon 8 Jahre im Ruhestand, also kein Neuling
mehr."
"Aber, Herr Inspektor, ich hatte
ja eine silberne Einweg-Karte. Die Rentenversicherungsanstalt hat sie
mir doch für meine halbjährliche FFL-Untersuchung zugeschickt. Ich habe
dort heute um 9.15 meinen Untersuchungstermin gehabt."
"Und"
spuckte der Kontrolleur über den Tisch, "warum haben Sie sie denn dann
nicht benutzt, sondern die rote Karte von Herrn vandeSant?"
"Das
war doch das Problem. Ich habe heute früh noch ein paar Kleinigkeiten
im Haushalt erledigt. Ich war nervös. Das bin ich immer, bevor ich zum
Test muss. Außerdem konnte ich nicht schlafen. Mein Bett steht an der
Wand zum Bad der Nachbarwohnung. Sonst stört mich das ja nicht, aber
vor einer Inspektion..."
"Kommen Sie doch endlich zur Sache, Frau Rosenzweig"!
"Ja,
warten Sie doch, ich versuche doch nur, Ihnen klarzumachen, was heute
Morgen passiert ist. Also, ich habe noch etwas aufgeräumt, dann habe
ich gebadet. Ich hebe immer ein paar Heißwasser-Chips auf für solche
Gelegenheiten. Nach dem Bad habe ich den Müll sortiert und weggetragen.
Dabei muss es dann passiert sein..."
"Was passiert sein?"
"Dabei muss die Einwegkarte in den Müll geraten sein. Jedenfalls konnte ich sie nicht finden. Und es wurde immer später..."
Man
merkte Anna die Angst, die Panik noch immer an. Der Kontrolleur
klopfte jedoch belehrend mit seinem Stift auf den Tisch.
"Warum haben Sie nicht ein Taxi gerufen? Oder jemanden aus der Wohngemeinschaft gebeten, Sie mitzunehmen?"
Dazu lachte sie bitter.
"Taxi?
Wovon denn? Ich hatte nichts mehr zu tauschen. Die paar
Ernährungseinheiten, die ich mir gespart hatte, sind bei einer
Erkältung draufgegangen. Ich habe sie in einer Apotheke
eingelöst, weil ich doch keine Arzteinheiten mehr hatte.
Von
den Leuten in meiner Wohngemeinschaft hat keiner die Berechtigung zur
Fahrzeughaltung. Wen hätte ich also bitten sollen? Den Hausinpektor
vielleicht? Der hätte sofort Meldung machen müssen und meine
Schusseligkeit wäre in die Akten gekommen. Sicher - laufen hätte ich
noch können. Aber selbst, wenn ich das körperlich durchgestanden hätte
- immerhin sind es 15 km - wie hätte ich das in einer Stunde schaffen
sollen?"
"Und so
sind Sie zu Ihrem Nachbarn gegangen. Waren Sie sich denn nicht
klar darüber, welche Unannehmlichkeiten Sie ihm damit gemacht haben?"
Dieser Einwurf erregte die alte Frau sichtlich.
"Ich
wollte doch nur, dass er mir Suchen hilft. Da wusste ich doch noch gar
nicht, dass die Karte nicht mehr da war. Sagen Sie es ihm doch, Leon..."
Jetzt mischte sich der junge Mann ins Gespräch. Er war schon lange unruhig hin- und her gerutscht.
"Genau
so war es. Anna hat geklingelt. Sie war in heller Aufregung. 'Ach,
Leon, kommen Sie doch mal ganz schnell rüber Ich weiß nicht mehr, was
ich tun soll' hat sie geheult.
Was sollte ich denn da machen? Sollte ich sie vielleicht wegschicken?"
"Ja
- genau das hätten Sie tun sollen. Sie hätten Frau Rosenzweig zu dem
für Ruheständler und Sozialhilfeempfänger zuständigen Hausinspektor
schicken sollen. Der hätte dann dafür gesorgt, dass sie die Möglichkeit
erhält, pünktlich zu ihrer "Fit-For-Life-Inspection" zu erscheinen..."
"Und er hätte auch dafür gesorgt, dass
sie 20 Minuspunkte bekommt, noch bevor die Untersuchung überhaupt
angefangen hat" unterbrach ihn Leon spöttisch.
"So
sind nun mal die Bestimmungen, Herr vandeSant. Diese Richtlinien machen
uns ein relativ reibungsloses Zusammenleben doch erst möglich."
"Was
ist denn das für ein Zusammenleben, wo man jede Reibung vermeiden muss.
Und wo ein Mensch 20 Minuspunkte für eine kleine Schusseligkeit
bekommt?"
"Die einzige Art, die überhaupt noch möglich ist" dozierte der Inspektor.
"Das ist erwiesen. Studien haben bestätigt, dass dieses System das bestmögliche..."
"Jedenfalls
stand heute früh kein Mitglied des Systems, sondern eine liebe, immer
freundliche Nachbarin vor der Tür, die meine Hilfe brauchte. Und die
gab ich ihr" unterbrach ihn der junge Mann grob.
"Sie haben also gesucht - und nichts gefunden, nehme ich an."
"Jawohl, nichts gefunden. Dann hatte ich den Einfall, ihr einfach meine rote Chip-Karte zu leihen..."
"Nein, den Einfall hatte ich" fiel ihm Anna aufgeregt ins Wort.
"Ich
habe ihn angefleht. Ich wusste genau, mit 20 Minuspunkten im Nacken
hätte ich den Test nicht überstanden. Und was das bedeutet hätte,
wissen Sie ja wohl, Herr Inspektor."
"Ja, was denn schon?" zuckte er die Achseln.
"Sie
hätten sich in vier Wochen einer zweiten Untersuchung unterziehen
müssen. Eine weitere Chance also. Und selbst wenn Sie wieder
durchgefallen wären, was wäre denn dann schon passiert? Sie wären doch
nicht ins Gefängnis gekommen, sondern in eines unserer Feierabendheime.
Außerdem hätte ja noch die Möglichkeit bestanden, sich für 4 Wochen
Schlafruhe zu entscheiden…… Wie ich sehe, haben Sie laut Ihrer „L
E B E“ vom letzten Oktober noch gute 10 Jahre zu erwarten, was
sind da schon 4 Wochen tiefster Ruhe und Entspannung - ein Spaziergang
geradezu....“Er schaute Stirn runzelnd auf den Monitor.
„Sie hatten doch schon einmal einige Wochen Schlafruhe - vor exakt 6
Jahren. Und - Frau Rosenzweig. Danach haben Sie doch glänzend wieder
Fuß gefasst...“
"Da war ich auch noch 6 Jahre jünger; da habe ich die Zeit, die man mir
gestohlen hat, noch nicht so vermisst. Und die Lebenszeitberechnung ist
auch nicht so genau, wie immer alle sagen. Ich habe schon Leute
gekannt, die hätten im Feierabendheim noch 5 bis 6 Jahre gehabt und
haben ihren nächsten Geburtstag nicht mehr erlebt. Ganz gut vielleicht
so. Und - ich weiß ja auch nicht, ob ich nicht gleich im Anschluss an
die Schlafruhe ins Heim muss.“
Der Kontrolleur hob belehrend den Zeigefinger.
"Irgendwann muss jeder von uns diesen Schritt gehen. Ich auch und auch Sie, Herr VandeSant.
"Natürlich, das weiß ich" antwortete Anna.
"Aber doch noch nicht jetzt. Vielleicht habe ich ja auch das große Glück, dass ich vorher "heimgehen" kann."
"Was heißt 'heimgehen', Anna," unterbrach Leon sie empört.
"Ihr Zuhause ist bei uns, im Haus."
Energisch wandte er sich an den Uniformträger, der gerade liebevoll ein imaginäres Staubkörnchen von seinem Revers fegte.
"Ich hatte die Idee, Herr Inspektor, Frau Rosenzweig wäre nie darauf
gekommen. Sie hat sich wahrscheinlich gar nicht klar gemacht, dass ich
mit meiner roten Karte die Verkehrsmittel den ganzen Tag über benutzen
kann. Sie ist ja schon seit 8 Jahren im Ruhestand und diese verschärfte
Regelung gibt es erst seit etwa 4 Jahren. Ich musste ihr sogar zureden,
die Karte anzunehmen. Sie hatte nämlich Angst, dass sie überprüft
werden würde. 'Alte Frau und rote Karte - das passt nicht zusammen',
sagte sie zu mir. Aber ich habe sie überredet. Die paar
Kontrolleure...Warum sollten sie gerade auf sie aufmerksam werden."
"Ja, warum wohl. Frau Rosenzweig hatte ganz Recht. Alte Frau und rote Karte.
Herr VandeSant, haben Sie heute nicht eigentlich Dienst? Sie hätten die Karte doch selbst gebraucht, um zur Arbeit zu kommen."
Leon machte eine wegwerfende Bewegung.
"Ich hätte erst ab 13.00 Uhr Dienst gehabt, aber ich wusste ja, dass
Anna das nicht schaffen würde. So eine Untersuchung dauert
normalerweise 2 bis 3 Stunden und dann die Heimfahrt. Vor 14.00 Uhr
wäre sie auf keinen Fall zurück gewesen. Aber - das habe ich eben
riskiert. Notfalls hätte ich ja auch mit dem Rad fahren können. Ist
zwar weit, aber für einen guten Zweck ."
Diese letzte ironische Bemerkung passte dem Kontrolleur nun gar nicht.
"Guten Zweck...Das ja wohl nicht. Immerhin haben Sie mitgeholfen, einen
Tatbestand zu vertuschen. Für den Fehltag heute wird Ihnen ein
Urlaubstag abgezogen und Sie verlieren 5% Ihrer monatlichen
Ernährungseinheiten, das wissen Sie doch?
Nicken Sie nicht nur, antworten Sie mit ja oder nein. Ich brauche Ihre Äußerung für das Protokoll.“
Mit unnötig erhobener Stimme kam Leon seiner Aufforderung nach.
"Ja - für's Protokoll - ja, das wusste ich. Strafe muss ja wohl sein.
Außerdem - eine weitere Strafe - wird meine Freundin inzwischen auch
über alle Berge sein. Das nur zu Ihrer Information, Herr
Inspektor. Sie war gar nicht begeistert, als ich zu
Frau Rosenzweig rüber gegangen bin. Von Lena wären Sie echt begeistert,
Herr Inspektor. Die war vollständig Ihrer Ansicht. 'Was geht
Dich das an? Lass die Alte doch sehen, wie sie fertig wird.' "
Er winkte ab. "Na, Schwamm drüber. Wenn sie wirklich weg ist, habe ich nicht viel verloren. Dann würde sie mich wahrscheinlich auch im Dreck sitzen lassen."
Sein Gegenüber nickte beifällig.
"Sie hat ja auch wirklich nicht Unrecht. Ihr Mitgefühl in allen Ehren,
aber ist Ihnen nicht klar, dass schon Hunderte junger,
arbeitsfähiger Leute auf die Wohnung der Anna Rosenzweig warten? Leute,
die einen eindeutigen Anspruch darauf haben? Einer Ihrer Freunde
vielleicht sogar."
"Wer hat schon Freunde in dieser Zeit? Und den wenigen, die ich habe,
fühle ich mich verpflichtet. Denen versuche ich zu helfen. Wie eben der
Frau Rosenzweig heute morgen."
Kopfschüttelnd wandte sich der Inspektor wieder an Anna.
"Wären die 20 Minuspunkte denn wirklich so relevant für das
Untersuchungsergebnis gewesen, Frau Rosenzweig? Wie viel Punkte hatten
Sie denn?"
Anna rechnete mit zusammen gekniffenen Augen nach.
"50 hätte ich mir leisten können, 20 hatte ich nur. 20 weitere hätten
also nichts geschadet. Aber, verstehen Sie doch, wenn ich schon
angekommen wäre mit dem Gedanken im Hinterkopf: bloß nicht versagen,
mach nur keinen Fehler. Da wäre mir doch ein Ausrutscher nach dem
anderen passiert. Und so habe ich ganz gut abgeschnitten.
Hörtest, Lärmbelästigungstest - die liefen am besten."
Der Kontrolleur - selbst schon im fortgeschrittenen Alter - schob Papiere auf dem Tisch hin und her und fragte beiläufig.
"Ich weiß ja, man soll eigentlich nicht darüber sprechen, aber laufen da immer noch U-Bahn-Durchsagen ab bei dem Hörtest?"
"Genau" nickte Anna.
"Und ich habe alles prima verstanden. Der Sehtest war so einigermaßen.
Aber vor der nächsten Inspektion werde ich wohl eine neue Brille
benötigen. Das ist aber kein Problem, ich habe die letzten 4 Jahre alle
Bonus-Punkte sparen können. Körperliche Gesundheit ist auch zufrieden
stellend. Die 12 Treppen habe ich in 2 Minuten geschafft."
"Wo haben Sie sich denn die Minus-Punkte geholt?"
"Geistige Regsamkeit. So ein Quatsch. Diesmal hatten wir zwei Minuten
Zeit, aus einem Bahnsteigautomaten der Luftkissenbahn ein Ticket in
Richtung Hamburg zu ziehen. Ich habe fast drei Minuten gebraucht. Im
Ernstfall wäre ich in Stade gelandet. Na und wenn schon! "
"Warum Quatsch, ist doch sehr sinnvoll. Dann sind Sie wenigstens gewappnet, wenn Sie mal in die Verlegenheit kommen..."
"In die Verlegenheit werde ich wohl kaum kommen, so spontan mal eben
ein Ticket nach Hamburg zu ziehen. Mein Geld reicht gerade mal für die
nötigsten Überlebenseinheiten. Für Reisen bleibt da nicht viel. Und die
plane ich dann solange im Voraus, dass ich Tage Zeit hätte, um die
Bedienungsanleitung zu verstehen. Da gab's also 10 Minuspunkte und 10
Punkte für Meckern..."
Begierig fiel der Inspektor ihr ins Wort.
"Ach , dann sind Sie also als Querulantin eingestuft?"
"Querulantin erst ab 20 Punkte pro Test. Ich bin noch lange nicht soweit,"
Hier meldete sich Leon wieder zu Wort.
"Wieso gibt es Abzug, wenn man berechtigte Mängel zu melden hat? Und Sie hatten doch berechtigte Klagen, wie ich Sie kenne."
Eilig ging der Ältere dazwischen.
"Mit Mängeln muss man leben. Es bedeutet mangelnde Anpassungsfähigkeit,
junger Mann, wenn man sich von allem, was schief gehen kann, so
beeindrucken lässt, dass man die Beherrschung verliert. Merken Sie sich
das. Irgendwann werden Sie ja auch in diese Lage kommen."
"Das glaube ich kaum. Sie vielleicht noch. In ein, zwei Jahren, schätze
ich mal" musterte ihn Leon abschätzend, was den Mann zu reizen schien.
"Ach, Sie glauben wohl, nie alt zu werden?"
Gleichgültig zuckte der junge Mann mit den Achseln.
"Wahrscheinlich nicht. Ich nehme mal an, dass die Menschen meiner
Generation schon die 60 nicht mehr lange werden überleben dürfen. Die
meisten von ihnen jedenfalls.
Vielleicht werden wir ja nicht gerade eingeschläfert, aber bestimmt so
abgeschoben, dass uns keine Gesundheitsfürsorge, kein Licht und keine
Zuneigung mehr erreichen. Und dann - wer es nicht schafft, sich selbst
aus dem Weg zu räumen, wird dann bestimmt bald durch die Segnungen
unserer Zivilisation ins Jenseits befördert werden. Vielleicht auch
ganz gut so..."
Seine anfangs nachdenkliche, ruhige Stimme war rau geworden, aber der
ältere Mann wirkte doch beeindruckt und warnte ihn eindringlich.
"Lassen Sie diese 'Zukunftsmusik' niemanden hören. Sie machen sich nur
Schwierigkeiten. Ich habe Ihre Akte noch nicht auf dem Schirm, aber Sie
sind noch jung, machen Sie sich die paar schönen Jahre, die Sie vor
sich haben, nicht kaputt..."
"Das nennen Sie 'schöne Jahre'? Wenn Sie und ich Rechte nur dann
erhalten können, wenn sie anderen erst weggenommen werden müssen?"
"Ich darf mir das nicht länger anhören, Herr VandeSant.
Ich sage Ihnen jetzt etwas: Ich habe das Aufnahmegerät an der Stelle
ausgeschaltet, an der Sie unser anerkannt gutes System kritisierten.
Bitte, zügeln Sie sich jetzt. Ich habe ein Protokoll abzuliefern und
ich werde es abliefern. An Ihnen liegt es nun, ob nicht nur Frau
Rosenzweig die Folgen zu tragen hat, sondern ob auch in Ihre Akte ein
Eintrag erfolgen wird. Sie haben doch Pläne, wollen vielleicht mal eine
leitende Position einnehmen, Anrecht auf Auslandsreisen erwerben, mal
ins Gebirge fahren oder sich den Anspruch auf mehr als 11 Quadratmeter
erwerben. Das stellen Sie doch alles in Frage - nur wegen einer alten
Nachbarin, so nett sie auch sein mag. Warum nur?"
"Das kann ich Ihnen erklären - wenn Sie Wert darauf legen?!?!"
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort.
"Es war ungefähr vor 15 Jahren. Ich muss gerade 14 oder 15 gewesen sein.
Meine Eltern, mein Bruder und ich lebten mit meinem Großvater Tür an
Tür. Wir hatten 40 Quadratmeter zur Verfügung, das war schon ganz
schön. Mein Großvater hatte das große Glück, noch eine der wenigen
"freien" Wohnungen zu haben. Er hatte zwei große Zimmer, eine Küche und
ein Badezimmer ganz allein für sich. Wir - mein Bruder und ich - wir
waren oft bei ihm...."
Eifrig unterbrach ihn die überzeugte Amtsperson.
"Sehen Sie, das ist doch heute gottlob nicht mehr möglich. Heute hat
jeder Anspruch auf ein Minimum an Quadratmetern und jedes
Zentimeterchen darüber hinaus muss ehrlich verdient werden. Ist das
nicht viel besser so, als riesige Wohnungen an allein stehende, alte
Leute zu verschwenden, die sie sich vielleicht durch Bestechung
verschafft haben?!?"
Leon winkte zornig ab.
"Erzählen Sie mir doch nichts. Als ob es nicht heute genug Leute gibt,
die in weitaus größeren Wohnungen oder Häusern lebten... Und mein
Großvater hat niemanden bestochen. Er hatte die Wohnung eben noch.
Meine Großmutter war gestorben und er blieb halt da."
Er zögerte; es schien ihm schwer zufallen, weiter zu erzählen.
Dann fasste er sich jedoch.
"Irgendwann war mein Großvater auf einmal weg. Einfach so. Ich habe
nach ihm gefragt und meine Eltern sagten, er sei in ein Feierabendheim
gegangen. Freiwillig. Ich wollte es zuerst nicht glauben. Doch nicht
mein Großvater. Aber als ich ihn dann besucht habe,……. Ich war ja nur
zwei-, dreimal da. Der Weg war weit. Die Heime liegen ja alle ganz an
der Peripherie. Als ich ihn dann besucht habe, war er scheinbar ganz
zufrieden. Er hatte ein Bett in einem Vierpersonen-Zimmer, einen
eigenen Schrank. Das Bad war auf der Etage. Und Betreuung war ja auch
da. Gut, dachte ich, warum auch nicht. Er war ja alt, vielleicht wollte
er nicht mehr da leben, wo er mit seiner Frau so lange glücklich
gewesen war."
Beifällig nickte der ältere Mann.
"Er hatte sich seine Ruhe ja auch verdient."
"Ruhe, ja ruhig war es wirklich. Nebenan das Heizkraftwerk. Der Himmel
immer gelb, aber ruhig war es. Greinende alte Leute nebenan, aber die
Türen schlossen gut. Also, auch von dort keine Belästigung. Fernsehen
im Aufenthaltsraum, schön auf die "Heile-Welt-Programme" justiert.
Alles paletti also. Und dazwischen mein Großvater, gebrochen, kraftlos,
unter Vormundschaft gestellt. Das hat mich am meisten getroffen, wissen
Sie, dieser starke, alte Mann unter Vormundschaft..."
Ungeduldig unterbrach ihn der Kontrolleur.
"Das ist doch aber völlig in Ordnung. Diese Vormundschaft, lieber
junger Mann, wird doch so gut wie gar nicht ausgeübt. Das ist doch nur
zum Besten der alten Leute und der Angehörigen. Der Vormund ist doch
mehr ein Ansprechpartner, eine hilfreiche Person..."
"...von Amts wegen. Ja, ja. Wenn er das selbst gewollt hätte, wäre das
ja auch in Ordnung gewesen. Aber - es muss so zwei, drei Monate später
gewesen sein - mein Großvater war gerade gestorben - als ich mich mal
mit den neuen Mietern unterhalten habe. Meine Eltern waren auf einer
Kreuzfahrt. Mein Bruder und ich wussten nicht, wie sie dazu gekommen
waren, aber an diesem Tag habe ich es erfahren.
Meine eigenen Eltern haben dafür gesorgt, dass er bei seiner
"Fit-For-Life-Untersuchung" versagt und ihn dann 'überredet', umgehend
in ein Feierabendheim zu gehen. Fragen Sie mich nicht, wie sie es
geschafft haben. Jedenfalls konnten damals freiwerdende Wohnungen von
den Angehörigen noch so richtig schön verhökert werden. Kennen Sie noch
die schöne Sendung 'Wheel of Living' von 'Happy-Hour-TV'? In der
Sendung wurde mit mehreren anderen schönen Sachen auch die Wohnung
ausgespielt. Und unsere neuen Nachbarn waren die glücklichen Gewinner.
Meine Eltern haben als kleines Dankeschön Luxus-Bons für ihre Reise
bekommen."
Hier nickte Anna erfreut und war voll des Lobes.
"Das ist keine schlechte Sache. In der anderen Sendung 'Wheel of
Health' hat meine Bekannte letztes Jahr eine Frischzellenkur gewonnen.
Sie hätte ja lieber den OP-Gutschein gehabt, aber immerhin... Die
Frischzellenkur hat sie dann allerdings auf der Tauschbörse in der
Sendung danach gegen ein Paar neue Einlagen und 12 Kalziumspritzen
getauscht - wo sie doch so sonnenallergisch ist..."
Empört und sehr energisch widersprach Leon seiner alten Freundin.
"Anna, stellen Sie sich doch mal vor, Ihre Wohnung wird da in der
Sendung verlost und Sie müssen das mit ansehen... Und wenn eine
Operation nötig ist, müsste sie gemacht werden, egal, ob jemand
arbeitsfähig und jung oder schon älter ist. Jeder hat doch das Recht
auf Leben und Gesundheit."
"Ja, ja, ist schon gut, Leon, das war dumm von mir" besänftigte ihn
Anna. "Entschuldigen Sie bitte. Aber ich sehe diese Sendungen so
gerne. Diese freudigen, jubelnden Menschen, die beschenkt werden, der
Beifall, das Lachen" seufzte sie.
"Ja, und was hat das mit Frau Rosenzweig und ihrem Problem zu tun?" fragte der ältere Mann ihn verständnislos.
"Verstehen Sie das nicht? meinem Großvater konnte ich damals nicht
helfen. Aber heute, heute bin ich alt genug. Einen Menschen, der gut zu
mir war, möchte ich mir solange wie möglich erhalten.. Was würde denn
auf sie warten, dort draußen? Ein Bett in einem unfreundlichen, kalten
Raum, mürrisches Pflegepersonal, ein paar rosa Pillen, um die Leute bei
Laune zu halten, die noch fähig zur Kritik sind. Grüne Pillen, um die
ruhig zu halten, die zuviel Kritik üben. Fahrerlaubnis nur an den
Wochenenden..."
"Und an Feiertagen, vergessen Sie das nicht. Aber das ist doch nur zu
Ihrem Besten, Herr VandeSant. Stellen Sie sich mal vor: all die
Ruheständler, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger würden die
öffentlichen Verkehrsmittel jederzeit benutzen können. Dieses Gedränge,
diese Fülle. Wir schützen damit doch nur die arbeitende Bevölkerung,
die ja schließlich alles verdienen muss..."
Bei diesen salbungsvollen Worten wurde nun Anna wieder rebellisch.
"Hören Sie doch bloß auf, uns brauchen Sie diesen Unsinn doch wirklich
nicht zu erzählen. Es reicht, wenn er in den Medien wie Medizin dreimal
täglich verabreicht wird. Ich würde ja gar nicht zu Stoßzeiten fahren,
aber wenn ich es könnte...allein das Gefühl, etwas zu können, reicht
schon aus. Dann braucht man es gar nicht mehr zu machen. Verstehen Sie
das."
"Ich verstehe Sie schon, aber es gibt ja nun mal die Vorschriften und Sie beide haben dagegen verstoßen.
Sie, Frau Rosenzweig, haben sich Leistungen erschlichen und dadurch das Ergebnis Ihrer FFL-Untersuchung verfälscht.
Sie, Herr VandeSant, haben hierbei mitgeholfen und sich dadurch gleichfalls schuldig gemacht.
Sie wissen, es liegt in meinem Ermessen, die Sache zur Anzeige zu
bringen oder Sie - kraft meines Amtes - hier im Schnellverfahren
abzuurteilen und einen Eintrag in Ihrer Akte vorzunehmen.
Sie können sich beide noch einmal abschließend hierzu äußern."
Anna war müde.
"Warum ich das getan habe, wissen Sie ja, dazu will ich nichts mehr
sagen. Ich würde gern noch eine Weile in meiner kleinen Wohnung
bleiben, so hässlich und laut und muffig sie auch ist. Aber sie gehört
mir, ich kann mal allein sein, wenn ich will und ich kann für mich
selbst entscheiden.
Aber - wenn ich verhindern kann, dass Leon irgendwelche Nachteile durch
meinen Fehler hat, nehme ich die Minuspunkte und Strafpunkte und einen
Vormund in Kauf und gehe in ein Heim. Vielleicht kann ich ja doch die 4
Wochen Schlafruhe antreten. Ich möchte jedenfalls Leon nicht schaden,
gerade ihm nicht. Wo er doch fast wie ein Sohn für mich ist...."
Hier brach sie in Tränen aus.
"Und Sie, Herr VandeSant."
"Was soll ich dazu noch sagen? Ich wollte an Anna etwas gutmachen, was
meinem Großvater zugefügt wurde. Soll ich nun wirklich nicht die Chance
dazu haben? ich verstehe das nicht. Wenn ich jetzt die Schuld auf mich
nehme, können Sie dann Frau Rosenzweig nicht aus allem heraushalten?"
"Wie soll ich das machen? Ich habe eine Frau mit einer falschen
Chip-Karte aufgegriffen. Diese Karte gehört Ihnen. Sie gibt an, Sie
überredet zu haben. Sie sagen aus, dass Sie der treibende Keil waren."
Warten Sie einen Augenblick, ich diktiere jetzt das Protokoll in den Computer.
Ich werde Sie, Leon vandeSant soweit wie möglich heraushalten.
Ganz geht das natürlich nicht; aber wenigstens werden Sie keinen
Eintrag ins Führungszeugnis bekommen.
Leon protestierte, jedoch Anna unterbrach ihn mit fester Stimme.
„Nein, nein, das ist schon in Ordnung so, Leon. Ich brauche Sie doch - nachher.“
Inzwischen war der Kontrolleur zurück gekommen und blätterte in den Computerauszügen.
"So, hier sind sie ja. Mal sehen.
- Also:
Zuerst Anna-Christina Rosenzweig, geboren 27.9.1946. Stimmt das?"
"Dann, Leon VandeSant, geboren 1.10.1990. Auch in Ordnung?"
Das zustimmende Murmeln nahm er nickend zur Kenntnis.
"Jetzt brauche ich noch Ihre Daumenabdrücke. Hier - direkt unter das Datum. So, sehr gut. Danke.
Jetzt noch für den Computer die Iris-Identifikation. Sehen Sie hier hinein, Frau Rosenzweig, Augen auf, nicht zwinkern. Gut so.
Herr VandeSant bitte
"Hier ist dann Ihre Kopie, Frau Rosenzweig und hier Ihre, junger Mann.
Hier ist ein Oneway ticket für den Antritt morgen früh im Spital, Frau Rosenzweig, ein silbernes.
Nicht verlieren!“
Sein raues ungeübtes Lachen endete in einem trockenen Hüsteln.
„Glück auf den Weg für Sie beide.“
Draußen - vor dem Gebäude - bevor sie sich auf den Heimweg machten,
schloss Leon Anna verlegen in die Arme und tätschelte ihr unbeholfen
den Rücken, als sie ihm schluchzend versicherte, wie leid ihr alles
täte.
„Mir ist doch nichts passiert, Anna.
Etwas weniger Futter - na und? Ein freier Tag weniger - na und?
Ich weiß sowieso nicht, was ich ohne Arbeit anfangen soll. Die haben
mir glatt einen Gefallen getan……“ lachte er.
„Aber Sie - wollen Sie wirklich 4 Wochen Schlafruhe nehmen?“
Anna schnäuzte sich energisch; sie wirkte schon wieder viel kämpferischer.
„Ja, was denn sonst. Soll ich vielleicht aufgeben? Gleich ins Heim und
dann - vergessen von allen...ja, auch von Ihnen, Leon. Das ist doch so,
ist doch ganz normal. Das ist nun mal der Lauf der Welt. Sie haben doch
gesehen, wie es bei Ihrem Großvater war. Der weite Weg, die viele
Arbeit, die Sie jetzt haben. Da bleibt keine Zeit mehr. Kinder habe ich
nicht. Also - wozu dann noch versuchen, am Leben zu bleiben in dem
Heim? Am Leben, aber nicht lebendig. Da versuche ich doch, nach den 4
Wochen im Zwangskoma, noch einmal den Test zu bestehen. In vier Wochen
bin ich doch schon zurück.“
Leidenschaftlich widersprach ihr Leon.
„Ich werde Ihnen helfen, Anna. Ganz bestimmt. Sie haben dann ja 3 Tage
Zeit, um sich vorzubereiten. Ich trainiere mit Ihnen, Sie werden sehen,
Sie werden Tagesbeste………Sie werden "Senior of the month “
Jetzt weinte er. Tränen liefen über seine Wangen und Anna beruhigte ihn zärtlich.
"Ruhig, ruhig, Leon. Ja, wir werden üben. Üben bis wir umfallen. Ich freue mich schon jetzt darauf."
Inzwischen waren sie in dem alten Mietshaus angekommen und standen inmitten von Lärm und Gestank vor Annas Wohnungstür.
"Aber nun müssen Sie gehen, mein Junge. Ich brauche etwas Zeit; muss
noch alles richten. Ein paar Sachen zusammenpacken. Achten Sie auf
meine Wohnung, ja?“
"Nicht nicken, Leon. Sagen Sie ‚ja‘. Das brauche ich fürs Protokoll.“
Beide lachten unter Tränen und Anna betrat ihre Wohnung.
Sie sah sich um; ganz genau - und flüsterte:
„Zeit, um Abschied zu nehmen. Man weiß ja nie, man weiß ja nie………“
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.11.2005.
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