Vasilios Tsamaris

Der Hoffnung Trauerspiel

Mein Herz ging mit dem Sommer dahin. Der Totenfeier letzter Niederlegung Kranz war der erste Tag des Herbstes.
Kalt und grau. Kein Flecken Himmel. Der Wolkenteppich spannte sich bedrückend gleichförmig bis zum Rand. Nirgendwo wollte er das Graue lichten. Nirgendwo mochte er sich zusammenballen. Keiner Stelle erlaubte er, ein Gebilde formend, die graue Eintönigkeit zu durchbrechen - ihr etwas Rhythmus zu verleihen. Schaute man nicht genau hin, wollte man glauben, es handle sich gar nicht um Wolken, sondern der Himmel sei seines blauen Gewandes überdrüssig und habe sich ein schmutziges, graues übergeworfen.
Es regnete nicht. Zumindest konnte man es nicht so nennen. Lediglich feinste Tröpfchen, Perlchen, glitzernd Sternchen, vom Winde angeregt zum Tanz, im eignen Glanz, wie lichte Tränchen, fielen auf des Sommers Kranz. Der Wind konnte sich auch nicht so recht entscheiden ob er stürmen oder sterben sollte. Die Stimme meines fernen Herzens hallte in meiner Seele wider, ganz Schmerz, ganz Feind der Heiterkeit und Freud, gleich bitterem Geläut; den Kopf nach hinten neigend, das blonde Haar den Nacken streichelnd und gen Himmel zeigend: „Wieder mal kein Wetter heut!“ Ich hörte es, mein Herz, hörte sein Begehr nach Licht, nach Leben - mein Begehr.
Ich packte meine Gedanken, warf sie ins Tal der Traurigkeit und ging hinaus. Ich musste hinaus! Ich wollte Leben! Doch ganz so recht wusste ich nicht, wie ich mich auf die Zwiegespräche mit der sich auf den Winterschlaf vorbereitenden Natur freuen sollte. Nach Erheiterndem wollt' ich schauen, nach Heilendem, Linderung bedurfte ich. Mein fernes Herz schlug sehr, schlug schwer im Verlauf meines Weges. Dieser führte mich durch rostgelbbraune Wälder und mit Welkem übersäte Felder. Eindrücke sammelte ich, so weh wie meines Herzens Augen. Leidig Stimmen riefen mich, so ach wie meines Herzens Trauer.
Nach einer Weile müden Schreitens tauchte an meiner Linken der Umriss eines kleinen Dorfes auf. Am Fuße eines Berges schlafend, duckten seine Häuser sich, dicht an dicht gedrängt, vor dessen gewaltigem Wuchs. Den Berg kannte ich – selbstverständlich, so nah an meiner Stätte. Das Dorf nicht – sonderbar, so nah an meiner Stätte!
Der Gedanke an etwas Warmes lächelte mir zu, verdrängte den Letzteren und zog mich hin. Kleine schmucklose Häuser zerfielen vor sich hin und nahmen keine Notiz von mir. Hingewürfelt bildeten sie enge gehweglose Gassen und verwinkelte Treppenpfade. Frierend umherschauend machte ich eine Herberge aus. Der weich aufsteigende Rauch des Kamins, zärtlich mit dem Winde tändelnd, versprach Wärme und Behaglichkeit. Auf meinen Trunk mich freuend setzte ich behänden Schrittes an.
„Hast du wohl mein Herz gesehen?“
Ich stockte. War ich damit gemeint? Ich schaute um mich und erblickte an meiner Rechten, ein paar Schritte hinter mir, einen alten Mann. Er hockte zusammengekauert auf der Straße vor einem Hauseingang, dessen Tür leicht offen stand.
„Meinst du mich, alter Mann?“
Er rührte sich nicht. Ich musterte ihn. Den Rücken an der Hauswand lehnend, den Kopf vornüber geneigt und die Schultern schlaff nach unten hängend, einen abgewetzten altmodischen Mantel zum Schutz vor der Kälte und abgetragene Schuhe, bot er eines jener bekannten Bilder, welchen man in unseren Tagen immer öfter begegnet. Ein Habenichts, der den Abstieg vom Berg der Ziele längst angetreten. Ein Vagabund, ein Straßenkönig, der seine Schlachten längst geschlagen. Seit langer Zeit schien sich nichts mehr bei ihm geregt zu haben. Nur noch sein verfilztes krauses Haar wetteiferte mit seinem wirr treibenden Bart um des schnellsten Wuchses Gunst. Ein armer Wicht, dacht ich mir, erloschnes Licht mit eingefallenem Gesicht, der sinnlos vor sich hinmurmelt und schickte mich an, meinen Weg fortzusetzen - nicht ohne Vorsatz dem alten Herrn wenigstens was Warmes vorbeizubringen.
„Wenn du es siehst, mein sehnlichst Herz, die Traurigkeit vermissen, wenn du es siehst im Blumenmeer den Rosenreigen führen, Narziss´ und Eros´ lieblich Reiz an seiner Seele rühren, sag ihm vom tosend Schmerz in meiner Brust, seit es von mir gerissen“.
Ich drehte mich abermals um. Er sah mich an. Nein, er sah durch mich hindurch – leere, tote Augen, die ferne, unbekannte Welten schauten. Ich betrachtete ihn genauer. Seines Lebens Fülle schien mir nicht sehr groß. Er verblich, still in sich; verglomm, des Nachrufs Segen harrend bloß; verging, wie morsches Holz, geronnen und verstummt der Stolz. Doch was mir an dieser tragischen Szene beim ersten Blick entging, erschien mir nun um so merkwürdiger. Das bedauernswerte Bild, das er bot, wollte nicht so ganz in das seiner Leidensgenossen passen. Manch Ungereimtheit drängte sich auf. Zum Einen saß er da vor einer halb geöffneten Tür. Kein Licht, kein Laut drang nach draußen. War er womöglich hier zuhause? Gehörte er zum Haus? Wenn, dann gehörte er bei dieser Kälte sicherlich in diesem. Zum Anderen fiel mir seine Kleidung auf. Genauer hingeschaut schien sie mir gar nicht mehr so abgetragen. Gewiss, vom Gesamtbild schließend dürfte sie ihm etliche Jahre gedient haben. Das war es aber was meine Aufmerksamkeit erregte. Alte Sachen, sicherlich, und abgewetzt, aber in einem insgesamt doch zu gutem Zustand als es ihrem Alter gebührte. Er genügte dem Verfall der Zeit, nicht dem des Gebrauchs. Überhaupt war er für meinen Geschmack hier fehl am Platz; wusste ich doch, die engen familiären Bindungen in einer kleinen Gemeinschaft wie dieses Dorf sie sicher bot, würden jeden auffangen, der vom Schicksal geschlagen so zu enden droht – im Gegensatz zur gesichtslosen Seele einer Großstadt. Am meisten verwirrte mich jedoch die Haltung seiner Hände. Vor ihm, auf dem Schoß ruhend, die eine hohle Handfläche über der anderen, war es mir, als ob er etwas in ihnen aufbewahrte und schützend umschloss.
„Wie werde ich es erkennen, dein Herz, wenn ich es sehe?“ versuchte ich etwas verstört auf ihn einzugehen. Mehr woanders sterbend als hier lebend hörte er mich wohl nicht. Wahrscheinlich gewahrte er nicht einmal recht, dass ich vor ihm stand. In vager Ahnung bot ich ihm eine Zigarette an. In seinen wunden Augen blitzte es – kaum merklich. Ohne seine Haltung zu verändern, hob er seine rechte Hand, ein wenig, und streckte sie mir hohl entgegen. Ich zündete ihm eine an und schob sie vorsichtig zwischen seinen Fingern.
Ich sah ihn! Den Vogel in seiner Linken! Es durchfuhr mich.
Farben duftend derart nie gesehen, samtnes leuchtendes Geschmeide. Schreiend hörte ich meine Seele flehen: Monde haben mich betört, Sonnenäcker Frieden mir gewährt, wähnen durft ich mich in Gottes Heide... alles Lüge, alles Trüge, eingewebt in morsch Gefüge. Göttliches erst jetzt vernommen, reich, weich, engelsgleich, im purpurn lodernd Federkleide!
Er bemerkte mein Erschauern, schüttelte die Zigarette ab und legte abermals seine Hand, die rechte, überm Vogel, gleichsam einem Sterngeflechte. Er schloss die Augen. Sein Kopf fiel nach vorn.
Da stand ich nun, angewurzelt. Unfähig einen anderen Gedanken zu fassen, wusste ich, nie zuvor sah ich vergleichbares; nie zuvor war mir derart herrliches begegnet. Trost und Linderung gewahrte ich. Erlösung schaute ich. Als mich aber von fern her auch noch wundersame Weisen riefen, deren Klänge bittersüßer nie in mein Ohr gedrungen und die das wiedererblühen meines Gartens besangen, war mir, als wenn zugleich der Tod in Pein und Leid mir winkte. In mir rang die Glückseligkeit, die der Anblick des Vogels und sein Gesang mir bescherten, mit einem bedrohlich aufkeimenden Geheiß, ich solle mich eilends aus diesem unwirklichen Traumgebilde stehlen. Ohnmächtig meiner Beine Herr zu werden, machten sie von alleine kehrt und zogen mich geradewegs zur Herberge. Dort angekommen saß ich reglos vor meinem Glas und starrte stundenlang hinein. Wer war dieser Mann? Was war das für ein Vogel? War das ein Vogel? Ich konnte es nicht sagen. Was ich sagen konnte war, er war nicht von dieser Welt. Doch was machte mir Angst? Was war es was mich von den beiden wegtrieb? Was für eine Bedrohung ging von ihnen aus?
„Wir schließen!“
Ruckartig wurde ich aus meinem Nachsinnen herausgerissen, legte geistesabwesend ein paar Münzen auf den Tisch und trat ins Freie. Es war spät. Die Wolkendecke war stellenweise aufgebrochen und hie und da lugten ein paar Sternlein hervor und blinzelten mir zu. Auch die leuchtendfeine Neumondsichel gesellte sich dazu und stibitzte herunter. Rein und fein, wimpernklein, erschien sie mir und hob mich hoch, empor zu dir, mein fernes Leid. Mach mich dein, schließ mich ein, hinter Glas und halt mich fern der Schmerzen Hain, wenn mein Kummer nach dir schreit.
Mit gemischten Gefühlen spähte ich zum Haus. Der alte Mann war verschwunden. Die Tür zum Haus stand immer noch offen. Ein letztes Mal verstohlen um mich blickend machte ich mich auf den Nachhauseweg.
Die Melancholie des Herbstes, machtlos im Bestreben dem zornigen Einmarsch des Winters die Stirn zu bieten, räumte übergangslos das Feld und überließ es ihrem strengen Vetter. Dieser ließ nicht mit sich feilschen. Wild und ungestüm peitschte er über Berg und Feld, durch Scheunen und Gebälk. So um sich wütend verbrauchte er seine Kraft, des klirrend Frostes eisige Macht, sehr schnell und heftig, nicht allgemach und sacht, bedächtig, und merkte nicht wie der Frühling, zart aber beständig, sich von hinten anschlich und unmerklich ihn zur Seite schubste.
Viele einsame Herbst- und ebenso viele Winternächte kehrten mir endlich den Rücken. Es war höchste Zeit! Obwohl es seit meinem wundersamen Erlebnis nicht mehr so arg auf mir zu lasten schien. Jedes mal nämlich, wenn die Sehnsucht mich bezwang, und die Einsamkeit dem kalten Grau um mich die Hand reichen wollte, hörte ich Vogelblumenglocken läuten und sah ich Vogelschimmerndfedern leuchten und die Nebel meines Gemüts zerstieben genau so schnell, wie sie Besitz von mir zu ergreifen drohten. Lange konnte ich aber in diesem Zustand der Geborgenheit nicht weilen. Wie der einkehrende Friede, ließ auch die Bedrohung nie lange auf sich warten. Fortwährend sinnte ich darüber nach was es war, was mir beim Gedanken an den alten Mann Angst machte. Was trieb mich im Geiste von ihm fort? Was ängstigte und lähmte mich? Doch wie beim ersten Mal, sollte meine Müh stets vergebens sein.
Was kümmerte es mich? Jetzt wo der Frühling sinnlich stimmte seine Saiten? Jetzt wo er kraftvoll knüpfte seinen Blumenteppich und zerriss des Winters bleiches Leichentuch? Jetzt wo er sprengte das vereiste Füllhorn der Gerüche? Ich wurde stark! Konnte an mein Herz, weitab blutend, denken und hatte trotzdem Kraft mir Mut zu schenken. Doch wie lange noch? Wie lange musste ich noch warten, bis mir wieder blüht ein Garten?
Ja, so stand es.
Der bei jedem Naturerwachen aufleuchtende und meine Wunden kosende Hoffnungsschimmer, wurde von Jahr zu Jahr immer blasser. Meine Kraft schwand, seit mein Herz mir genommen, von Jahr zu Jahr immer mehr. Die Sehnsucht schlug mich, immer mehr, von Herbst zu Herbst, von Winter zu Winter, fraß mich auf, verhöhnte mich, sprach es leise, sprach es vor, mit finstren Mächten wie im Chor...
Dummer kleiner leidend Tor! Mag die Hoffnung noch so ringen, beten, flehen, Feen sehen, werd ich dich bezwingen. Der Frühling nächster noch so blühen, keimen, reimen, Hexen meiden, wirst auf Kohlen glühen. Dummer kleiner leidend Tor! So will ich dich ab jetzt nun heißen. Helfen wird nicht Mutabor, so werd ich sicher ohne Gräuel, mit höllenknirschendem Geheul, die Hoffnung dir in Stücke reißen!
So stand es. Es ward mir bewusst. Das war die letzte Frühlingssonate, deren Zeuge ich werden sollte. Die Sehnsucht würde mich besiegen; spätestens im Herbst.
Schweren Mutes ging ich zum Fenster und stieß es auf. Ich zog tief ein. Ich musste mir einen Schnupfen zugezogen haben. Vom Meer der Frühlingsdüfte dessen Wogen mich umspülen müssten, schien mich keine zu erreichen.
Ich sah Blumen, sah Gräser, sah blühende Bäume und fragte mich wo die Farbenpracht vergangener Jahre geblieben war.
Bienen schwirrten von Blüte zu Blüte ihr fleißiges Werk verrichtend – schwerfällig kam mir vor, plump und unbeholfen.
Ich hörte es flehen, im Schein des Unsterns arg vergehen. Ich hörte es fragen, klagen, mein Herz, der Fügung Streiche stumm ertragen, des Daseins Scherz. Ich sah der Wehmut Qual, der Schickung wahren Gral, an seinem Leben nagen, nur, es selbst sah ich nicht - heimkehrende Zugvögel sah ich, in großen Scharen über mich ziehen. Ihr sonst verheißender Begrüßungsgesang mochte mich nicht erheitern. Ein Schwalbenpaar löste sich aus seinem Schwarm und flog auf mein Haus zu. Es musterte sein vom letzten Jahr halbverfallenes Nest und begann es flugs instand zu setzen. Ich beobachtete wie es aufgeregt zwitschernd und putzig mit dem Schwänzchen wackelnd sich am Nest zu schaffen machte. Sie schienen sich zu freuen – wenn man das über Tiere sagen kann. Tunichtgute Vögel. Krächzen den ganzen Tag sinnlos herum und sind zu nichts nütze, außer dass sie den Boden unter ihren Nestern mit Kot beschmutzen.
Das bleiche Gesicht des Todes haftete an allen Dingen. Es grinste mich an und streckte mir seine faule Zunge entgegen. Es würde nicht mehr lange brauchen und seine Fratze würde sich verwandeln, würde von Tag zu Tag ebenmäßiger, ja sympathisch werden. Es würde nicht mehr lange brauchen und ich würde mich ihm ergeben.
Der Gedanke an mein fernes Herz stach in mein Gehirn, schnitt Teile davon ab und hängte sie an den Baum der Krähen.
Ich hatte genug, schloss das Fenster und setzte mich.
Ich wartete, wartete auf den letzten Abgesang des Frühlings, des Herbstes bereiften Spott.
Die Tage vergingen. Die Nächte nicht.
Die Nacht... Zeit des Wolfs, Reich des Trolls.
Die Nacht... kein Licht, kein Leben. Kein Laut, kein Lied, betörendes und schönes, frohes, nur der Schwäne Reim des Todes.
Wenn des Kummers Saat aufgeht, und der Trauer Atem weht, wenn sie kriechen aus den Gräbern nach versiegter Hoffnung stöbern, wenn sie ihre Sensen wetzen, werden sie dich, kreidebleich, holen in ihr Todesreich, werden dich zu Tode hetzen, deine Hoffnungen zerfetzen.
Die Tage gingen. Die Nächte kamen. Der Herbst klopfte. Mich fröstelte.
Ich hörte Musik! Oder träumte ich Musik zu hören?
Es klang fern, klang nah, klang märchenhaft, feenhaft, federvogelzauberhaft. Es erwachte aus des Todes Klauen, hob sich hoch zu Engelsauen, herrlichst meine Lebenskraft.
Ich schnellte hoch, sprang zur Tür und riss sie auf. Mit zittriger Erregung horchte ich ins Dunkle hinein. Es war späte Nacht. Kein Mond. Das einzige was ich ausmachte war der schwache Umriss meines Walnussbaums. Nichts... ich hörte nichts! Für einen kurzen Moment am Quell des Glücks, drohte ich nun noch tiefer zu versinken. Nein das war keine Einbildung, durfte keine sein, ich hatte es gehört, hatte es ganz bestimmt gehört. Die Leere wurde größer, die Schatten länger, ich wurde ein Teil von ihnen.
Es leuchtete! Im Walnussbaum leuchtete es, schwach, aber ich sah es ganz genau, in köstlich funkelnd blau. Meine Sinne dem Ende mit letzter Mühe abringend, schleppte ich mich zum Baum, schaute vorsichtig hoch und sah es – ein im Bau sich befindliches Nest, vor kurzem begonnen! Ich betrachtete es ganz entzückt, ganz beglückt, in Edens Paradies entrückt. Konnte meine Augen vom irisierenden blauen Licht, das von ihm ausging, nicht abwenden. Es hing an einem einzigen Blatt und wippte vom Wind gestreichelt leicht hin und her. Es wunderte mich nicht, dass das Blatt sein Gewicht nicht halten könnte, würde sein gefiederter Baumeister sein Werk vollenden. Das war kein Nest wie andere, kein gewöhnlicher Vogel machte sich daran zu schaffen – das war gewiss, wie mein tränend Herz ich brauchte, sehnlichst an Erlösung glaubte. Zuversicht durchfloss mich. Ich ging ins Haus, setzte mich vor das Fenster, blickte zum Baum, wurde eins mit ihm und schlief ein. In meinen Träumen sprach ich zu verwunschnen Bäumen. Nehmt den Tod mir, kahl und fahl, stillen möcht ich meine Qual, meinen Weg mit Rosen säumen.
Ich wachte frisch und munter auf, grüßte meine Lebensgeister und trat ins Freie. Nichts ungewöhnliches war am Nest zu erkennen – ein angefangenes Vogelnest wie jedes andere auch. Meine Augen ließen sich trügen, meine Sehnsucht nicht. Frohgesinnt verharrte ich, schloss die Augen und sah tausend Vogelblumenfedern schwerelos auf mich herabgleiten. Ich hatte keine Zweifel mehr, ging vergnügt zurück ins Haus und wartete, wartete bis die Nacht einbricht.
Die Nacht kam.
Die Nacht... Zeit des Wolfs. Reich des Trolls. Die Nacht. Sie konnte mir nichts mehr anhaben. Das Glück war nah.
Im Garten sah ich Lichter tanzen! Mein Walnussbaum war in einem samtigen Farbenmeer getaucht!
Es frohlockte meine Seele.
Es tönen gellend die Posaunen, Nornen raunen. Raphael und Uriel, vorn Erzengel Gabriel, in ihren Augen Sühne gärt, aus Zorn genährt, gleichsam einem Feuerball, stürmen sie der Schatten Throne, schlagen nach des Todes Krone, mit Schwertern aus Kristall.
Ich lief zum Baum, schaute hoch, sah, dass das Nest fast fertiggestellt war, bewegte mich kaum aus Angst ich könnte ihn verscheuchen und endlich sah ich ihn wieder! In Grün und Gelb, in Rot und Gold glänzte sein Gefieder, es roch nach Friede, roch nach Liebe, nach lilarosablauem Flieder.
„Mein Vogel, mein himmlisch Vogel!“ sprach ich wehmütig, „mein Vogel, mein funkelnd Vogel!“
Ich spürte wie seine Anwesenheit die dunklen Wolken meines Gemüts vertrieb und der leere Platz an dem mein Herz geschlagen sich mit Zuversicht voll sog.
„Mein Vogel, mein allerliebster Vogel! Flieg nicht weg, verlass mich nicht, bleib bei mir!“
Er bemerkte mich. Drehte sein Köpfchen. Stand still.
„Mein alter Herr, der ist nicht mehr, in meinem Herzen pocht es schwer, hab keine Zeit, muss mich beeilen, muss den Schmerz dir heilen“.
Ich verstand nicht.
„Mein Vogel, mein glitzernd Vogel, wo ist der alte Mann, was ist mit deinem Herrn geschehen?“
Er senkte sein Köpfchen.
„Verlassen hatte ihn sein Herz. Ich kam und küsste seinen Schmerz. Ich blieb für lange blieb für Jahre, sang für ihn, wärmte ihn und seine Seele, auf dass sie nicht zum Himmel fahre. Es kam nicht mehr. Er wurde alt. Die Augen leer. Der Körper kalt. Engel kamen angeflogen, trugen ihn auf weißen Wogen, trugen fort des Leidens Hort, auf dass nie wird er mehr betrogen“.
Er sprach´ s, schüttelte sich und hob ab.
Ich atmete schwer, hielt die Tränen nicht zurück, begann zu begreifen, verstand die Angst, die mich immerfort ergriff, sobald ich das Bild des alten Mannes vor mir sah. Er trug das gleiche Leid wie ich. Er war allein. Es strahlte über ihn kein Stern. Sein Herz war fern.
Der Vogel kam zurück, mit einem letzten Zweiglein in seinem Schnabel, flog zweimal um sein Nest und flocht es gekonnt hinein. Er hob erneut ab, schwebte über sein Werk und betrachtete es sichtlich zufrieden. Seine Flügel hörten auf zu schlagen. Er fiel. Gelähmt schaute ich auf den toten Vogel. Die Nacht begrub das Leben. Das Licht erlosch. Die Farben verblassten. Nur hoch droben auf des Baumes Krone leuchtete es noch schwach. Ich kletterte hinauf, nahm den kleinen Vogel aus seinem Nest, stieg hinunter, ging zur Tür, und setzte mich davor. Mit verschränkten Beinen und an die Hauswand lehnend, stülpte ich die rechte hohle Hand über die linke und ließ sie auf meinem Schoß ruhen.
Ich schloss die Augen... hörte Musik... sah mein Herz. Ich sah mein Herz! Ich sah der Hoffnung Grinsen...
Die Tür stand leicht offen. Mein Kopf fiel nach vorn.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.11.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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