Klaus-D. Heid

Eiskalt

„Sie machen’s mir wirklich nicht leicht, Borsig! Jedem anderen an Ihrer Stelle hätte ich längst die Schlinge um den Hals gelegt. Aber auch meine Geduld hat irgendwann ein Ende! Wenn Sie also bis zum 10. dieses Monats nicht gezahlt haben, ist’s entgültig aus mit der Rücksichtnahme! Haben Sie verstanden? Entgültig! Bis zum 10. haben Sie noch Zeit. Danach können Sie meinetwegen blutend vor mir liegen und um Gnade winseln. Das ist mir dann egal, Borsig! Scheißegal! Ist das klar? Habe ich mich klar und verständlich ausgedrückt?“

„Bis zum 10. März? Das ist doch schon übermorgen! Und wie soll ich das schaffen? Zwei Tage? Unmöglich! Lassen Sie mich wenigstens bis nächste Woche versuchen, das Geld aufzutreiben, Herr Rosenbaum. Nur bis nächste Woche, bitte...!“

„Nichts da! Sie hatten fast zwei Monate Zeit, Borsig. Sie werden es ebenso wenig in einer Woche oder in zwei Tagen schaffen. Sie wissen das – und ich weiß das! Was soll also dieses Gezeter? Wenn am 10. März das Geld nicht in bar auf meinem Schreibtisch landet, landen Sie im Rhein! Ihre Füße werden dass ein paar hübsche Betonschuhe verpasst bekommen, die wie angegossen sitzen werden. Denken Sie schon mal darüber nach, wie es sich anfühlt, wenn die letzte Luft aus Ihren Lungen weicht. Ertrinken ist wirklich ein echter Scheiß-Tod. Glauben Sie mir, Borsig. Am 11. März sind Sie bereits Fischfutter, wenn die Kohle nicht da ist, wo sie hingehört. Ich erwarte also Ihren Besuch in zwei spätestens zwei Tagen. Auf Wiedersehen, Borsig.“

„Warten Sie doch, Herr Rosenbaum! Warten Sie. Nur noch eine Minute, bitte! Sie können doch nicht einfach so meinen Tod bestimmen.“

„Nein? Kann ich nicht? Und wie ich das kann, Borsig. Kostet mich nur ein Telefonat. Wissen Sie – ich sage Ihnen noch was im Vertrauen, Borsig: ich mag Sie nicht! Ich kann Sie überhaupt nicht ausstehen. Wenn Sie auf dem Grund des Flusses liegen, schmeckt mir mein Frühstück trotzdem. Vielleicht schmeckt es mir sogar noch ein bisschen besser, als zuvor...!“

„...nur eine Woche, Herr Rosenbaum. Eine einzige kurze und beschissene Woche, bitte!“

„Übermorgen. Basta!“

„Und meine Frau? Meine Kinder? Wie sollen die ohne mich überleben?“

„Fragen Sie sich lieber, wie Ihre Familie MIT Ihnen überleben soll, Borsig. Und nun wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag! Wir sehen uns. So oder so, Borsig!“

Rosenbaum macht auf dem Absatz kehrt und summte vergnügt ein Kinderlied, während Balthasar Borsig stumm und verzweifelt zurückblieb. Wie – um alles in der Welt – sollte er es schaffen, in zwei Tagen 10.000,00 Euro aufzutreiben? Das einzige Geld, über das Borsig verfügte, waren die achtzig Cent, die er als Wechselgeld vom Straßenbahnschaffner bekommen hatte. Mit achtzig Cent würde sich Rosenbaum kaum zufrieden geben. Der Umstand, dass Borsigs Familie seit Tagen keinen Cent von ihm gesehen hatte, war da noch das kleinste Übel. Sie würden überhaupt nichts mehr von ihm bekommen, wenn er den Fischen einen langfristigen Besuch abstattete.
Wie immer in solchen ausweglosen Situationen (die Borsig nicht zum ersten Mal erlebte), kratzte er sich nervös mit den Fingernägeln an der Wange. Erst, als er bemerkte, dass er seine Wange blutig gekratzt hatte, hörte er damit auf. Borsigs Gedanken überschlugen sich. So sehr er sich auch anstrengte, um über eine Geldquelle nachzudenken, so sehr kam er zu der Erkenntnis, dass es keine Chance gab, das Geld rechtzeitig zu beschaffen. Andererseits gefiel ihm die Situation überhaupt nicht, in zwei Tagen tot zu sein. Wer war schon gerne tot? Besonders Borsig war äußerst ungern tot, da er genau wusste, dass er in vierzehn Tagen zu den reichsten Männern der Stadt gehören konnte...

Verzweifelte Anstrengungen

„Was sind schon 10.000,00 Euro, Herr Schönfeld. War ich nicht immer ein pünktlicher Zahler, wenn ich Schulden bei Ihnen hatte? Ich brauche das Geld nur für lächerliche zwei Wochen! Zwei Wochen! Der Zinssatz ist mir scheißegal! Nehmen Sie das doppelte, wenn’s sein muss! Mir egal! Sie werden mich doch nicht im Stich lassen, oder?“

„Wissen Sie was, Borsig? Sie sind ein interessanter Mann! Mir ist jedenfalls noch nie jemand begegnet, der so dreist und unverschämt ist, wie Sie! Pünktlicher Zahler? Haben Sie vergessen, wie lange ich beim letzten Mal auf mein Geld warten musste? Sie hatten es nur meiner übermenschlichen Geduld zu verdanken, dass ich Sie nicht mit einer Kugel im Kopf auf den Müll werfen ließ. Haben Sie vergessen, wie viele Termine und Zusagen Sie platzen ließen? Und nun wagen Sie es, mich schon wieder um Geld anzubetteln? Bevor ich Ihnen auch nur einen einzigen Cent geben würde, würde ich lieber mein gesamtes Vermögen dem Verein für notleidende Hundewelpen zur Verfügung stellen. Und Sie wissen doch, wie sehr ich Hunde hasse, oder?“

„Aber dieses Mal...“

„Raus! Ich zähle bis Drei...!“

Max Schönfeld war bereits die vierte Anlaufstation, die Borsig erfolglos angelaufen war. Wenn Borsig es recht überlegte, würde er sich selbst auch kein Geld leihen. Ihm war sehr wohl bewusst, wie unzuverlässig er war.
Im Freundeskreis und bei Verwandten brauchte er es gar nicht erst zu versuchen. Freunde hatte Borsig schon lange nicht mehr. Seine Verwandten nagelten Bretter vor Türen und Fenster, wenn Borsig nahte. Bei der Familie seiner Frau durfte er überhaupt nicht mehr aufkreuzen, wenn er nicht das Risiko einer öffentlichen Steinigung eingehen wollte. Selbst sein leiblicher Vater würde sofort zur Schrotflinte greifen, wenn Balthasar die Dreistigkeit besäße, an dessen Haustür zu klingeln. Wahrscheinlich war es wirklich ein Fehler gewesen, damals – vor vier Jahren – die Freundin seines Vaters zu ficken. Aber so war Borsig nun mal. Er war in Geldangelegenheiten ebenso unüberlegt und unzuverlässig, wie im Liebesleben. Maria, seine Frau, hätte ihn schon längst verlassen, wenn sie nicht so scharf auf die Lebensversicherung wäre, die er kurz nach der Heirat abgeschlossen hatte. Eine Lebensversicherung, die jeweils den überlebenden Ehepartner begünstigte. Diese Option vor Augen, hatte Maria immer dafür Sorge getragen, dass die fälligen Beiträge pünktlich eingezahlt wurden. Hunderttausend Euro waren eben doch ein netter Anreiz, um über so manche Unannehmlichkeit hinwegzusehen. Der jeweils überlebende Partner...

Warum ging er nur immer davon aus, dass SIE überlebte? Langsam manifestierte sich ein überaus böser Gedanke in Borsigs Gehirn. Erst jetzt, nach so vielen Jahren, kam ihm die Idee, wie er zu sehr viel Geld kommen konnte. Er dachte darüber nach, wie wenig er Maria noch liebte. Eigentlich liebte er sie überhaupt nicht mehr. Im Gegenteil. Er hasste sie sogar! Er hasste sie abgrundtief, weil sie mittlerweile dick, gefräßig und geldgierig geworden war. Von der hübschen Maria, die er einst schmachtend und verzehrend angesehen hatte, als er sie um ihre Hand bat, war nur noch ein fetter Haufen gemeiner Boshaftigkeit übriggeblieben, der gierig darauf wartete, dass Borsig endlich von einem seiner Gläubiger umgebracht wurde. In Borsigs Hirn entwickelte sich ein erster Plan zur Lösung seines Problems. Er verplante bereits die Versicherungssumme, die er beim Tod seiner Frau kassieren durfte. Angesichts dieser stattlichen Summe reduzierte sich die Forderung von diesem Rosenbaum auf ein lächerliches Sümmchen, das Borsig dann mit links aus der Portokasse zurückzahlen konnte. Borsig sah sich schon in seinem neuen Wagen, mit dem er stolz bei der Trabrennbahn vorfuhr, um sein Glück zu versuchen. Bisher hatte er ja eher Pech an den Händen, wenn er sich auf sein Glück verließ. Mit einer beachtlichen Summe in der Brieftasche konnte er allerdings seinem Glück etwas auf die Sprünge helfen. Die ganze Kohle, die er im Laufe der letzten Jahre verloren hatte, galt es nun, zurückzugewinnen. Grandios! Warum war er bloß nicht früher auf diese Idee gekommen? Wie oft hatte er insgeheim schon Maria den Hals umgedreht, wenn sie wieder einmal nach Geld kreischte oder ihm Vorhaltungen wegen seiner Affären machte? Hatte er nicht tausendmal darüber nachgedacht, sie die Kellertreppe hinunter zu stoßen? Und wie oft wollte er schon Maria den Fön in die Wanne werfen? Wie oft war er drauf und dran gewesen, ihr Rattengift ins Essen zu mischen? Jetzt endlich musste es geschehen! Mit dem bedauerlichen Hinscheiden seiner Ehefrau konnte eine neue Zukunft in Balthasars Leben eingeleitet werden. Allerdings...

...war es nahezu unmöglich, innerhalb von zwei Tagen Maria umzubringen, die Ermittlungen der Polizei abzuwarten – und das Geld der Versicherung zu kassieren! Schade eigentlich, denn in zwei Tagen lief Borsigs letzte Schonfrist ab. So, wie’s aussah, kam doch noch Maria in den Genuss der Versicherungssumme. Borsig sah sie schon, wie sie die gesamten 100.000,00 Euro in Gummibärchen und Paprikachips investierte. Keine Träne würde sie ihm nachweinen, wenn sie vor seiner Leiche stand, um ihn zu identifizieren. Und nun?

Die Idee

Solange Borsig sich auch den Kopf zermürbte – er hatte einfach nicht die perfekte Idee, die ihn einerseits am Leben ließ und ihn andererseits in den Besitz der Versicherungssumme brachte. Wie er es auch drehte und wendete, blieb doch nur ein ängstliches Denken an das bevorstehende Rheinbad übrig.

Rosenbaum! Natürlich! Rosenbaum war abgebrüht genug, um auf 10.000,00 Euro zu verzichten, wenn er stattdessen ...äh ...sagen wir mal ...30.000,00 Euro bekam. Rosenbaum musste bloß so lange auf seine Kohle warten, bis Balthasar Maria abgemurkst hatte. Sobald dann die Versicherung zahlen würde, gab’s für Rosenbaum die 10.000,00 Euro plus 20.000,00 Euro Bonus für die Wartezeit! Obwohl Borsig nie eine Koryphäe im Kopfrechnen war, wusste er doch, dass dann immer noch satte 70.000,00 Euro für ihn verblieben. Genug Geld, um sich seinen verlorenen guten Ruf beim Pferderennen zurückzuerobern. Eine andere Lösung gab es nicht. Wenn also Rosenbaum keine Lust hatte, viel Geld an Marias Tod zu verdienen, konnte Balthasar Borsig sich auch selbst im Rhein ertränken, bevor ihm die Arbeit andere abnahmen. Dieser alte verschlagene Geldverleiher musste doch mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn er sich so viel zusätzlichen Mammon entgehen ließ! Oder war ihm der Spatz in der Hand lieber als die Taube auf dem Dach? Würde er – aus Prinzip und Konsequenz – Borsig im Rhein versenken, wenn der Termin nicht eingehalten wurde? Die Idee als solche war jedenfalls perfekt. Jetzt ging es nur noch darum, Rosenbaum zu überzeugen und darum, Maria so ableben zu lassen, dass niemand Borsig auf die Schliche kam.

Rosenbaum

„So früh, Borsig? Ich hätte nie gedacht, Sie heute zu sehen. Ich hoffe nur, dass Sie mir mein Geld zurückbringen und mich nicht mit irgendwelchen bescheuerten Ausreden voll sülzen. Sie wissen ja, wie wenig ich von Ihnen und Ihren Ausreden halte, oder?“

„Natürlich, Herr Rosenbaum. Ich weiß. Genau aus diesem Grund habe ich Ihnen auch einen Vorschlag zu machen, der viel besser ist, als die paar Kröten, die Sie erwarten!“

„Wusste ich’s doch, dass Sie unfähig sind, Borsig! Ihre dümmlichen Vorschläge können Sie gleich mitnehmen, wenn Sie Rheinwasser schlucken gehen. Ich hatte Sie gewarnt, Borsig! Das Maß ist voll!“

„Stop, Herr Rosenbaum! Sie hatten mir doch bis übermorgen Zeit gegeben. Was kostet es Sie schon, sich meinen Vorschlag zumindest anzuhören? Es geht um dreißigtausend Piepen, Herr Rosenbaum! Ist das nicht genug, um zumindest etwas Geduld zu zeigen?“

„Mit Dreißigtausend zünde ich mir meine Zigarren an, Borsig. Wenn Ihr Vorschlag nicht wirklich interessant ist, geht’s heute schon zu den Fischen! Ist das klar? Und noch etwas, Borsig: falls Ihr Vorschlag etwas mit der Lebensversicherung ihrer Frau zu tun hat, reden wir nicht über 30.000,00 Euro. Ist Ihnen doch wohl klar, oder? Sie glauben doch nicht, dass Sie mich mit Peanuts abspeisen können? So! Und nun reden Sie mal, mein lieber Borsig...!“

Balthasar Borsig blieb seine Ansprache im Halse stecken. Woher wusste dieser Lump etwas von der Lebensversicherung? Natürlich ließ sich Rosenbaum nun nicht mehr mit lächerlichem Kleingeld abspeisen, wenn er das dreifache der Summe rausschlagen konnte. Verdammt und zugenäht! So hatte sich Borsig den Deal nicht vorgestellt.

„Hatte ich 30.000,00 Euro gesagt? War ein Irrtum, lieber Herr Rosenbaum. Ich meinte natürlich, dass es um enorme 50.000,00 Euro für Sie geht! Na? Hört sich gut an, nicht wahr?“

„FRITZ? Kommst Du mal? Borsig will heute schon baden gehen. Sei ihm mal behilflich, Fritz...!“

„Aber Herr Rosenbaum! Lassen Sie doch Fritz, wo er ist. Ich hatte doch nur einen kleinen winzigen Scherz gemacht. Was ich sagen wollte, war...“

„Einhunderttausend Euro, Borsig. Das wollten Sie sagen, oder? ODER? O D E R ?”

“Genau…, Herr Rosenbaum! Sie nehmen mir meine Worte aus dem Mund. Genau das wollte ich sagen, lieber Herr Rosenbaum!“

„Fein. Sie haben zwei Monate. Sechzig Tage. Versauen Sie’s nicht, Borsig. Denken Sie daran, dass der Rhein bereits sehnsüchtig auf Sie wartet.“

„Aber soll ich Ihnen nicht erzähl...“

„Interessiert mich nicht. Ich will davon auch nichts wissen, Borsig. Bringen Sie mir in zwei Monaten das Geld. Alles! Einhunderttausend! Adieu, mein Bester! Wir sehen uns!“

„Wiedersehen, Herr Rosenbaum...!“

Die Tat

Maria Borsig war es leid, ständig ihre Nachbarin anpumpen zu müssen, um für sich und ihre zwei Kinder etwas Essbares beschaffen zu können. Ihr Mann, dieser arbeitsscheue und zu nichts nutzende Einfallspinsel lungerte bestimmt wieder auf der Trabrennbahn herum, um auch noch das letzte bisschen Geld zu verspielen. Auch die Kinder kümmerten ihn herzlich wenig. Wenn sie sich nur auf ihn und sein Geld verließe, wäre sie verlassen wie ein hilfloses Küken, das aus dem Nest gefallen war. Wenn sie ihn überhaupt mal zu Gesicht bekam, stritten sie sich. Sie stritten sich ununterbrochen. Sie stritten sich über Geld, Geld und nochmals Geld. Sie stritten sich über all die Weiber, die er in teure Lokale einlud, obwohl seine Familie nur noch Eiswürfel im Kühlschrank hatte.
Marias Mann war eigentlich noch nie ein guter Vater oder Ehemann gewesen. Geheiratet hatte sie ihn nur, weil er sie in den ersten zwei Wochen ihrer Beziehung mit seinem – damals noch vorhandenen Charme – geblendet hatte. Nach diesen zwei Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag, den sie bedauerlicherweise sofort annahm. Neun Monate später kam Markus. Ein weiteres Jahr später erblickte Manuela das Licht der Welt. Zu dieser Zeit war die Beziehung schon längst auf gelegentliches Bumsen beschränkt, wenn er nicht gerade eins dieser billigen Flittchen knallte! Scheißkerl! Sollte er doch verrecken! Warum machte er keinen Abgang? Es gab doch so viele Gläubiger, die ihre Kohle in den Wind schreiben mussten, weil Borsig so blank wie dämlich war. Sollte sich doch endlich einer veranlasst sehen, ihm die Kehle durchzuschneiden, gab’s wieder einen vollen Kühlschrank. Es gab dann ein neues Auto und ganz viele Spielsachen für die Kids. Aber er lebte noch. Noch...

„Hallo, Maria. Na? Alles klar bei Euch? Gibt’s was Neues? Hast wohl wieder zugenommen, wie? Ich frage mich, wie Du ständig so viel fressen kannst, wenn Du doch immer behauptest, dass kein Geld da ist! Du verfrisst meine ganze Kohle, oder? Gib es doch zu, Mops! Ich hab doch Recht, oder?“

„DEINE Kohle? WELCHE Kohle meinst Du? Du hast uns seit Wochen keinen Cent mehr gegeben! Wenn Du nicht alles zu Deinen verdammten Nutten und auf die Rennbahn schleppen würdest, müsste ich nicht ständig fremde Leute anbetteln, damit wir nicht verhungern!“

„Geh doch selbst arbeiten! Du sitzt bloß faul und fressend den ganzen Tag herum und tust nichts! Von mir gibt’s jedenfalls kein Geld mehr. Schluss! Aus! Sieh doch zu, wie Du Deine Bälger und Dich ernährst! Ich mache jedenfalls einen Abgang! Du kotzt mich an...!“

„Dreckskerl! Warum bringt Dich nicht endlich einer um, hä? Tot bist Du wenigstens noch was wert, Du Versager!“

„Dasselbe könnte ich von Dir sagen, Maria! Schade, dass Du so ein gesundes Herz hast. Hättest Du nicht Lust, aus dem Fenster zu springen? Wir wohnen doch im achten Stock. Glaub mir, dass es kaum wehtut, wenn man unten aufschlägt! Es geht ganz schnell...!“

„Hurensohn!“

„Hurensohn? Na warte, Du Luder! Jetzt reicht es! Das hättest Du nicht sagen dürfen...!“

„Balthasar? Was soll das? Lass mich los! Die Kinder! Die Kinder...! BALTHASAR... NICHT...“

Borsigs Handlung war nicht zu bremsen. In seinem Kopf tobten nur noch Begriffe wie ‚Rheinwasser’, ‚Schulden’ und auch ‚Rosenbaum’ umher. Während er Maria brutal an ihren Schultern packte und sie in Richtung Balkon zerrte, dachte er nicht einem Moment daran, wie unüberlegt und stümperhaft sein Vorgehen war. Nur die Gier nach der zu erwartenden Versicherungssumme und der drohende Tod im Rhein bestimmten Borsigs Tat.

Maria schrie so laut, dass Borsig ihr mit aller Wucht die Faust ins Gesicht schlug, um sie zum Schweigen zu bringen. Da es bereits nach 00.00 Uhr war, schliefen die Nachbarn schon längst. Außerdem waren sie es gewohnt, dass bei Borsigs ab und an die Fetzen flogen. Niemand würde sich daran stören, wenn Maria Borsig um Hilfe schrie. Das rationale Denken war bei Borsig ohnehin ausgeschaltet. Er dachte nicht daran, dass ihn vielleicht jemand beobachten konnte, wenn er Maria von der Balkon-Brüstung stieß. In dem Moment, als er Maria in die Tiefe warf, regierte in seinem Kopf nur die Angst vor dem angedrohten Tod durch Rosenbaums Männer, die sich einen Spaß daraus machen würden, ihn in den Tiefen des Rheins zu versenken.

Maria Borsigs Körper schlug dumpf auf dem Beton auf. Mit irrem Blick verfolgte Borsig den Fall seiner Frau. Kein Gefühl des Bedauerns regte sich in ihm. Er verschwendete keinen Gedanken an seine Kinder, die tief und fest im Kinderzimmer schliefen. Es würde nur Minuten dauern, bis die Polizei auftauchte. Borsig überlegte fieberhaft, welche Geschichte er den Beamten auftischen konnte. Wie wär’s zum Beispiel mit Selbstmord? Maria hat sich einfach außerstande gesehen, ihrer Verpflichtung als Mutter und Ehefrau nachzukommen. Verzweifelt sah sie ihren letzten Ausweg in der Flucht aus dem Leben. Hops – da sprang sie eben in die Tiefe! Mist! Natürlich geht das so nicht! Keine Versicherung der Welt zahlt im Falle eines Selbstmordes. Sollte Borsig diese Geschichte erzählen, war gleichzeitig sein eigener Tod vorprogrammiert. Rosenbaum Killer brachten ihn sofort um die Ecke, wenn sich der Versicherungsbetrug als Flop erwies. Also nichts mit Selbstmord. Schade eigentlich. Und nun? In wenigen Minuten würde es an der Tür läuten. Borsig merkte, wie seine Nervosität ins Unermessliche stieg.

Ein Unfall! Na klar! Die dusslige Maria wollte mit ihren mächtigen Proportionen die Außenseite des Balkons reinigen. Ungeschickt wie sie nun mal war, verlor sie dabei das Gleichgewicht. Obwohl er, Borsig, noch in Richtung seiner Frau hechtete, um sie vor dem Sturz zu bewahren, siegte die Erdanziehungskraft in Verbindung mit Marias Körpergewicht. Er konnte lediglich noch beobachten, wie sie auf dem Beton aufschlug. Oh Gott! Welch schrecklicher Anblick, Herr Kommissar! Meine geliebte Ehefrau, mit der ich steinalt werden wollte, plumpste wie ein nasser Sack in die Tiefe.

Tränen! Borsig musste schnellstens ein paar Tränen produzieren! Ein bisschen wasser aus dem Wasserhahn würde bestimmt ausreichen, um Eindruck zu schinden und um eventuelle Zweifler eines Besseren zu belehren. Mit dem angeborenen Schauspieltalent, das Borsig schon oft den Kopf aus der Schlinge gerettet hatte, konnte nichts mehr schief gehen. Besser wär’s auch, die Kinder zu wecken. Schreiende Kinder machen auch die härtesten Beamten butterweich. So. Nun noch einmal tief Luft holen. Muskeln anspannen, bis ein erkennbares Zittern der Glieder erreicht ist. Kinder wecken. Traurig und zu Tode erschrocken dreinblicken. Die innere Freude über den perfekten Mord verbergen...

Das Finish

„Sie konnten also nur noch sehen, wie Ihre Frau über die Balustrade des Balkons fiel? Es war Ihnen nicht möglich, rechtzeitig einzuschreiten, um den ...Unfall zu verhindern?“

„Das sagte ich doch bereits, Frau Kommissarin! Ich sah sie nur noch fallen. Dann der schreckliche Schrei, den ich bis zu meinem Tod nicht vergessen werde! Der Aufprall ihres lieblichen Körpers. Furchtbar! Einfach furchtbar. Meine Maria...! Die Mutter meiner Kinder... einfach tot! Wie soll ich mit diesem Verlust klarkommen?“

„Nochmals mein tiefstes Mitgefühl, Herr Borsig. Vielleicht noch ein paar letzte Fragen, bevor wir Sie in Ihrem Schmerz alleine lassen? Danke. Herr Borsig, sagten Sie nicht, dass Ihre Frau gerade dabei war, die Außenwand des Balkons zu reinigen? Ist es nicht ungewöhnlich, dass sie das tat?“

„Ach, Sie kennen ja meine Maria nicht! Immer war sie überall am Putzen! Sie war eine so reinliche und gründliche Frau! Jedes Staubkorn trieb sie fast in den Wahnsinn.“

„Verstehe. Meine letzte Frage, Herr Borsig: WOMIT wollte Ihre Frau den Balkon reinigen...?“

„Womit? Ich verstehe nicht ganz...“

„Es wurden keinerlei Reinigungsmittel auf dem Balkon gefunden. Keine Tücher, Lappen oder auch Eimer. Es ist uns auch schleierhaft, wie man so ganz ohne Wasser den verschmutzten Balkon reinigen will. Seltsam, nicht wahr?“

„Äh...“

„Genau das meine ich auch, Herr Borsig. Um Ihre Kinder kümmern sich meine Kollegen. Ich denke, dass es sinnvoll ist, wenn wir uns ausgiebig im Präsidium unterhalten, nicht wahr? Um der ganzen Angelegenheit einen förmlichen Charakter zu geben, teile ich Ihnen nun mit, dass Sie unter dem dringenden Verdacht, Ihre Ehefrau ermordet zu haben, vorläufig festgenommen sind. Ich habe übrigens selten einen Mann erlebt, der so eiskalt gemordet hat, während seine Kinder im Nebenzimmer schlafen. Sollte es sich – wovon ich ausgehe – herausstellen, dass unsere Vermutung richtig ist, werden Sie mindestens 15 Jahre hinter Gittern verbringen, Herr Borsig.“

Finish nach dem Finish

„Borsig? Du bist also Borsig? Wir sollen Dich von Rosenbaum grüßen! Er mag keine Versager, die ihm Geld schulden. Er hat gesagt, dass er Dich ganz besonders wenig mag...!“

„Was tut ihr den da? Wache! W A C H E ! HILFEEEEEEEEEE…!”

Als die Wachen im Gefängnis Borsig leblosen Körper fanden, kam jede Hilfe zu spät. Bei der Obduktion stellte man fest, dass Borsig ertrunken war. Ein Schlauch, der am Wasserhahn befestigt war, hatte soviel Wasser in Borsig gepumpt, bis sein Bauch auf den dreifachen Umfang angeschwollen war.
Rosenbaum hielt immer seine Versprechen. Lediglich der Umstand, dass es sich nicht um Rheinwasser handelte, ärgerte ihn ein wenig. Aber was soll’s? Das Leben ist immer ein einziger Kompromiss. Rosenbaum lächelte vergnügt, als man ihm berichtete, wie’s mit Borsig zuende gegangen war.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.05.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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