Fräulein K. fuhr seit zweiundzwanzig Jahren jeden Morgen immer mit demselben Zug Punkt sieben Uhr siebzehn, immer auf demselben Platz in der zweiten Reihe links am Fenster – wenn der nicht frei war, war der Tag gelaufen — und nachmittags immer mit demselben Zug Punkt vier Uhr einundvierzig nach Hause.
Fräulein K. saß seit zweiundzwanzig Jahren immer an demselben Schreibtisch mit dem Blick auf das Fenster, goß jeden Morgen immer die gleichen Pflanzen — den Gummibaum, das Usambaraveilchen, die Beamtenpalme. Wenn der Gummibaum zu groß wurde, brach sie die Spitze ab, steckte sie in einen Topf mit neuer Erde, und ließ sie wachsen, aus den Blättern des Usambaraveilchens zog sie neue Usambaraveilchen, aus den Kindeln der Beamtenpalme neue Beamtenpalmen.
»Mädchen«, hatte der Vater gesagt, »werd’ was Gescheites, werd‘ Beamtin, dann bist du unkündbar und hast deine Pension. Wer weiß, ob du mal heiratest.«
Links auf Fräulein K.’s Schreibtisch lag ein Stapel Akten, das waren die unerledigten, rechts ein Stapel Akten, das waren die erledigten. Die beiden Stapel blieben immer gleich hoch. Sie spitzte jeden Morgen zwei Bleistifte an, einen roten und einen schwarzen, legte sie akkurat neben die anderen Schreibwerkzeuge auf ihrem Schreibtisch. Die wechselten allerdings im Laufe der Jahre: Füllfederhalter, Kugelschreiber, Filzstift. Jeden Abend, bevor sie ging, legte sie die Akte, an der sie gerade arbeitete, ordentlich in die Mitte der Schreibtischunterlage.
Der Blick aus dem Fenster war seit zweiundzwanzig Jahren auch derselbe: die Wohnung in dem Haus gegenüber.
Aber Fräulein K. schaute selten aus dem Fenster, nur wenn sie den Gummibaum, das Usambaraveilchen, die Beamtenpalme goß, den rechten Fensterflügel zum Lüften öffnete und wieder schloß.
Fräulein K. träumte nie.
Eines Morgens, als sie das Fenster öffnete, stand ein junger Mann auf dem Balkon von der Wohnung in dem Haus gegenüber. Er schaute zu ihr herüber, sie schaute zu ihm hinüber, schloß das Fenster. Goß den Gummibaum, das Usambaraveilchen, die Beamtenpalme. Schaute auf den Balkon, der junge Mann war verschwunden.
Am nächsten Morgen wieder: Sie öffnete den rechten Fensterflügel, schaute auf den jungen Mann auf dem Balkon von der Wohnung gegenüber, goß ihre Pflanzen.
Fräulein K. sehnte am Freitagabend schon den Montagmorgen herbei, wenn sie wieder das Fenster öffnen, wieder den jungen Mann auf dem Balkon gegenüber sehen würde.
Der linke Stapel — der mit den unerledigten Akten — wurde größer, der rechte Stapel kleiner. Manchmal vergaß Fräulein K. die Bleistifte anzuspitzen, abends lag die aktuelle Akte nicht mehr ordentlich in der Mitte der Schreibtischunterlage.
Die Jahreszeiten wechselten, eine neue Gummibaumspitze wurde eingetopft, das Morgenritual blieb das gleiche: Fensterflügel öffnen, ein Blickwechsel, Fensterflügel schließen.
Fräulein K. träumte nachts von jungen Männern auf Balkonen, kaufte Lidschatten, Tönungscreme und einen Blazer mit pinkfarbenem Vichykaro.
Eines Tages stand der junge Mann nicht mehr auf dem Balkon. Fräulein K. konnte sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren, hoffte auf einen neuen Tag. Sie vergaß die Blumen zu gießen, nahm morgens einen Zug früher, eilte immer wieder zum Fenster. Der Stapel der unerledigten Akten wuchs.
Sie träumte von Aktenbergen, vertrockneten Beamtenpalmen, jungen Männern auf Balkonen, fuhr zur Arbeit, schaute aus dem Fenster, setzte sich an ihren Schreibtisch, stand wieder auf. Schaute wieder aus dem Fenster.
Und dann geschah etwas, was in den zweiundzwanzig Jahren noch nie vorgekommen war: Fräulein K. meldete sich krank und fuhr wieder nach Hause. Sie lief zur U-Bahn, stieg in den Zug, setzte sich, rempelte ihren Sitznachbar an, schaute ihn an, schaute wieder weg.
»Hallo«, sagte der, »kennen wir uns nicht?«
»Doch, ja«, stotterte sie, starrte auf die Reklametafel am Fenster, auf die Mitfahrenden, auf das Buch des jungen Mannes in seiner Hand.
»Ach, entschuldigen Sie, ich will ja nicht neugierig sein — nur wissen Sie — Tips für Aussteiger?«
»Na ja, ich war gerade in Kenia« …
»Ach ja«, flüsterte Fräulein K. Sie war im Urlaub immer in eine kleine Familienpension am Tegernsee gereist, seit fünfzehn Jahren schon, wegen der Vertrautheit und so. »Kenia also«, sprach sie leise weiter und starrte auf die schwarze, vorbeihuschende Mauer des U-Bahn-Schachtes.
»Ja, wissen Sie, ich war schon in den Anden, in der Sahara, habe ein paar Monate in Singapur gearbeitet, aber da mußte ich wieder nach Hause, hatte Lungenentzündung bekommen, von der Klimaanlage, verstehen Sie?«
Fräulein K. kannte Klimaanlagen nur aus Romanen.
»Nun ja«, sagte der junge Mann und lachte, »ich halte es nirgends lange aus, muß immer unterwegs sein. Aber nun will ich mich seßhaft machen, Wurzeln schlagen sozusagen. Ich will nach Kenia, dort sind die Menschen so freundlich, und ich bin niemals glücklicher gewesen als unter einem Affenbrotbaum im Liegestuhl und über mir der ostafrikanische Himmel. Nun hat mir ein Freund angeboten, am Strand von Mombasa einen Tennisklub zu leiten. In zwei Monaten ziehe ich dorthin.«
»Ach ja«, sagte Fräulein K., dachte an ihren Schreibtisch, an die Aktenstapel — links die unerledigten, rechts die erledigten — an ihre Pensionsberechtigung. —
Den Gummibaum hat Frau Meier übernommen, das Usambaraveilchen steht auf dem Schreibtisch von Fräulein Gaffron, die Beamtenpalme ist eingegangen.
Von Zeit zu Zeit flattert eine Ansichtskarte mit Massai und ihrer Rinderherde im Sonnenuntergang oder einer Giraffe vor einem mit einer Schneehaube bedeckten Berg auf den Schreibtisch von Frau Maier, und sie steht auf und pinnt sie zu den anderen bunten Karten an der Wand neben dem Materialschrank.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.11.2005.
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