Barbara I.

Das Bild


Sie hatte sich endlich einmal Zeit für sich nehmen wollen. Zeit, die sie ganz allein genießen konnte, ohne an irgendwelche Verpflichtungen denken zu müssen. Und da Menschen, gleich in welchem Verhältnis sie zu ihnen stand, sie stets an Verpflichtungen erinnerten, wollte sie diesen Sonntag allein verbringen. Wann war sie das letzte Mal allein gewesen?
 
Sie stand auf, putzte die Zähne, duschte, widmete sich aufmerksam der Pflege ihres Gesichtes und kleidete sich schließlich mit einer Sorgfalt an, als würde sie zu einem Rendezvous gehen. Sie hatte darin keine Erfahrung, denn trotz ihrer 42 Jahre hatte sie nie eines gehabt, aber sie stellte sich ohne jegliches Bedauern vor, daß es so sein mußte. Den prüfenden Blick der jungen Frau im Spiegel quittierte sie mit einem zufriedenen Lächeln; in heimlicher Vorfreude zwinkerte sie ihr sogar zu.
 
Ihr knurrender Magen veranlaßte sie, sich von diesem Bild loszureißen, den Mantel anzuziehen, sich vom Inhalt ihrer Handtasche zu vergewissern und schließlich ihre Wohnung zu verlassen. Zielstrebig begab sie sich zum Bus und kam gerade dort an, als er eben in ihre Straße einbog. Im Gegensatz zu ihren täglichen Fahrten mit ihm, war sie heute der einzige Fahrgast. Das kam zum einen daher, daß sie zwei Stunden später als gewöhnlich dran war und zum anderen war ja Sonntag. Ihr Sonntag.
 
Auch die U-Bahn, die sie in die Innenstadt brachte, war fast leer. Sich unbestimmt auftretende Gedanken verwehrend, malte sie sich aufs Neue ihr Programm aus und mußte es dreimal tun, ehe sie ihre Haltestelle erreichte.
 
Sie hatte das Cafè immer wieder, wenn sie zufällig vorbeikam, angenehm einladend gefunden und heute endlich faßte sie sich ein Herz und trat durch die schwere Glastür. Sie fand einen Platz zu ihrer Zufriedenheit, wurde so zuvorkommend bedient, wie sie es sich wünschte und vertrieb sich die Zeit, während der sie das Frühstück genoß damit, die anderen Gäste zu beobachten: Ein Liebespaar, klischeehaft nur mit sich selbst beschäftigt. Ein Herr mittleren Alters, hin- und hergerissen zwischen den Aufzeichnungen in seinem Aktenordner und dem daneben bereitliegenden Handy, das nicht piepsen wollte. Eine ältere Dame, der es vor allem auf die Aufmerksamkeit des jungen, gut gewachsenen Obers ankam. Zwei Freundinnen, die sich intensiv und leider nicht sehr deutlich über etwas für sie Bedeutsames unterhielten. Schließlich eine Gruppe junger Leute, die hier wohl ihre gemeinsam verbrachte Nacht beschlossen und zwischen letztem Aufjohlen und bleierner Müdigkeit schwankten.
 
Die Frau wurde von niemandem beobachtet, nicht einmal mit einem Blick gestreift. Das war ihr nicht neu, vielmehr ein Dauerzustand, an den sie sich seit langem gewöhnt hatte. Man wandte sich stets nur an sie, wenn man sich ihrer bedienen wollte. Diese spontane Erkenntnis paßte nicht zu den Vorstellungen, die sie sich von diesem Tag gemacht hatte. Sie beendete ihr Frühstück und nahm den zweiten Programmpunkt in Angriff.
 
Die Ausstellung brachte sie wieder auf andere Gedanken. Fast verschollene Kenntnisse der Kunstgeschichte erhoben sich mit einer Klarheit aus ihrem Geist, die sie selbst in Erstaunen versetzte. Sie nahm sich für jedes einzelne Bild Zeit und freute sich daran, Einzelheiten zu erkennen und zu sehen, wie sie zu einem harmonischen Ganzen verbunden worden waren. Nach einer Zeit jedoch ließ ihre Konzentration nach und sie bedauerte plötzlich, ihre Eindrücke mit niemandem teilen zu können.
 
Nein, wirklich mit niemandem. Die Ankündigung ihres Ausfluges hatte ohnehin, wie zu erwarten, Befremden ausgelöst. „Wir dachten, du wärest nun in einem Alter, indem du über solche Absonderlichkeiten hinaus wärest.“ Der Satz ihrer Tante umriß so ziemlich, was sich alle in ihrer weit verzweigten Familie dachten. Und auch ihre Bekannten schlossen sich dem stets an. Es war ihr Fluch, oder sie war deren Fluch, je nachdem von welcher Seite aus man es betrachten wollte. Sie war stets gerecht und betrachtete beide Seiten.
 
Die Bilder nicht. Sie betrachtete die Gemälde schon seit geraumer Zeit nicht mehr und beschloß kurzerhand zu gehen. Vor dem Museum empfing sie ein strahlender Spätherbsttag und lockte sie in den nahen Park. Dort setzte sie sich auf eine Bank in der Sonne und tauchte ein in ihr wärmendes Licht. Es war ja auch wirklich Unsinn, sich selbst mit dem Urteil anderer zu belasten. Schließlich hatte sie es geschafft, entgegen alle Vermutungen und düsteren Prophezeiungen. Sie war sehr wohl in der Lage, ihr eigenes Leben zu leben und sie war erfolgreich damit. Eine angenehme Stelle, eine hübsche Wohnung, ein eigenes Auto, nette Bekannte, eine Familie, die gerne auf sie zurückgriff. Sie kannte Menschen, die vieles davon entbehren mußten.
 
Es wurde Zeit für das Mittagessen und den Kinofilm. In ruhiger Gelassenheit ließ sie beides über sich ergehen und fühlte sich recht zufrieden mit dem Fortgang dieses Tages. Nur an den Inhalt des Filmes konnte sie sich nicht mehr erinnern, sobald sie der nun schon recht düstere Tag erneut umfing. Wo waren ihre Gedanken stehengeblieben?
 
Ihre Familie. Ihr Leben. Nicht, daß sie ihre Familie als ihr Leben betrachtet hätte. Vielmehr verlief es recht streng getrennt davon, auch wenn sie sich ihren Verpflichtungen nicht entzog. Sie konnte sich dem auch nicht entziehen, schon um diesen ständigen Angriffen zu entgehen.
 
Man hatte es ja wirklich schwer mit ihr gehabt, das sah sie ein. Sie war nie so gewesen, wie sie hätte sein sollen. Zudem auch noch irgendwie unbeholfen, ungeschickt, unselbständig, un... .
 
Die U-Bahn und der Bus, waren nicht der rechte Ort um sich mit dem auseinanderzusetzen, was sie nun nicht mehr von sich schieben konnte. Der Sog, den die Vergangenheit auf sie ausübte war zu stark. Aber es gab diesen Spazierweg am Fluß entlang, der sie fast direkt zu ihrer Wohnung bringen würde.
 
Seltsam, wie leicht es ihr immer gefallen war, ihrem Weg zu folgen. Ganz entgegen dem, was man von ihr erwartet hatte, nachdem sie zunächst solche Schwierigkeiten gezeigt hatte, ihn zu finden. Man mußte sich nur ein wenig treiben lassen, dann ergab sich wie von selbst eines aus dem anderen.
 
Damals, im letzten Jahr vor dem Abitur, war das freilich nicht zu ersehen gewesen. Wie hatte sie sich aufgelehnt gegen die Bestimmung ein „vernünftiges“ Leben zu führen und wie schwer war es ihr gefallen, diese innere Auflehnung nicht nach außen dringen zu lassen. Reiner Selbstschutz. Und doch war es niemandem verborgen geblieben und man hatte sie wegen ihrer Schwäche getadelt. Da hatte sie begonnen, ihnen zu beweisen, wie stark sie war.
 
An dieser Stelle mußte sie über den schmalen Steg gehen, sonst würde sie zu weit von ihrer Richtung abkommen. Selbstvergessen blieb sie in dessen Mitte, direkt unter einer Laterne stehen. Sie sah auf das ruhig fließende Wasser und nachdem sie eine Weile so gestanden und geschaut hatte, erkannte sie das Spiegelbild der Laterne und sich.
 
Seltsam. Ihr schien es, als würde ihre Spiegelung viel mehr der ähneln, die sie einmal gewesen war, als der, die sie jetzt war. Sie stützte die Unterarme auf die Brüstung und betrachtete intensiv dieses traurige Gesicht. Ganz allein stand sie da, von kalter Wirklichkeit umgeben. Und das Mädchen wußte, daß es sich der Wirklichkeit stellen mußte und die Mädchenträume hinter sich lassen. Aber es war nicht dazu geschaffen, diese Entscheidung auf die leichte Schulter zu nehmen. Es litt daran und wünschte sich verzweifelt eine Hand auf dieser Schulter, nicht um sich führen zu lassen, sondern um ein wenig Trost zu erhalten.
 
Angerührt von diesem Bild streckte die Frau die Hand nach diesem Mädchen aus und nun endlich versöhnt mit ihm, beugte sie sich weit vor um die, die nie geliebt worden war, zu küssen.
 
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Barbara I.).
Der Beitrag wurde von Barbara I. auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.11.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Barbara I. als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Abartige Geschichten: Baker Street von Doris E. M. Bulenda



Oftmals nimmt das Abartige im Leben der Menschen einen deutlich größeren Raum ein, als man auf den ersten Blick meint.
Verschleiert hinter ihren Masken tragen sie vielerlei Dinge in sich, die wir nicht für möglich halten. Einige dieser Dinge halten sie selbst nicht für möglich. Es bedarf äußerster Vorsicht, hinter diese Masken zu sehen, damit die Menschen keinen Schaden nehmen.

Markus Lawo hat eine Reihe namhafter und noch nicht namhafter Autor*innen gefunden, um diese Abgründe zu ergründen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Ernüchterung" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Barbara I.

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Ritter ohne Kopf und Tadel von Barbara I. (Kinder- und Jugendliteratur)
Das verstopfte freie Netz oder wie freenet arbeitet. von Norbert Wittke (Ernüchterung)
Klassisches Dichten von Paul Rudolf Uhl (Klassisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen