Sie hatte sich endlich einmal Zeit für sich nehmen wollen.
Zeit, die sie ganz allein genießen konnte, ohne an irgendwelche Verpflichtungen
denken zu müssen. Und da Menschen, gleich in welchem Verhältnis sie zu ihnen
stand, sie stets an Verpflichtungen erinnerten, wollte sie diesen Sonntag
allein verbringen. Wann war sie das letzte Mal allein gewesen?
Sie stand auf, putzte die Zähne, duschte, widmete sich
aufmerksam der Pflege ihres Gesichtes und kleidete sich schließlich mit einer
Sorgfalt an, als würde sie zu einem Rendezvous gehen. Sie hatte darin keine
Erfahrung, denn trotz ihrer 42 Jahre hatte sie nie eines gehabt, aber sie
stellte sich ohne jegliches Bedauern vor, daß es so sein mußte. Den prüfenden
Blick der jungen Frau im Spiegel quittierte sie mit einem zufriedenen Lächeln;
in heimlicher Vorfreude zwinkerte sie ihr sogar zu.
Ihr knurrender Magen veranlaßte sie, sich von diesem Bild
loszureißen, den Mantel anzuziehen, sich vom Inhalt ihrer Handtasche zu
vergewissern und schließlich ihre Wohnung zu verlassen. Zielstrebig begab sie
sich zum Bus und kam gerade dort an, als er eben in ihre Straße einbog. Im
Gegensatz zu ihren täglichen Fahrten mit ihm, war sie heute der einzige
Fahrgast. Das kam zum einen daher, daß sie zwei Stunden später als gewöhnlich
dran war und zum anderen war ja Sonntag. Ihr Sonntag.
Auch die U-Bahn, die sie in die Innenstadt brachte, war fast
leer. Sich unbestimmt auftretende Gedanken verwehrend, malte sie sich aufs Neue
ihr Programm aus und mußte es dreimal tun, ehe sie ihre Haltestelle erreichte.
Sie hatte das Cafè immer wieder, wenn sie zufällig
vorbeikam, angenehm einladend gefunden und heute endlich faßte sie sich ein
Herz und trat durch die schwere Glastür. Sie fand einen Platz zu ihrer
Zufriedenheit, wurde so zuvorkommend bedient, wie sie es sich wünschte und
vertrieb sich die Zeit, während der sie das Frühstück genoß damit, die anderen
Gäste zu beobachten: Ein Liebespaar, klischeehaft nur mit sich selbst
beschäftigt. Ein Herr mittleren Alters, hin- und hergerissen zwischen den
Aufzeichnungen in seinem Aktenordner und dem daneben bereitliegenden Handy, das
nicht piepsen wollte. Eine ältere Dame, der es vor allem auf die Aufmerksamkeit
des jungen, gut gewachsenen Obers ankam. Zwei Freundinnen, die sich intensiv und
leider nicht sehr deutlich über etwas für sie Bedeutsames unterhielten.
Schließlich eine Gruppe junger Leute, die hier wohl ihre gemeinsam verbrachte
Nacht beschlossen und zwischen letztem Aufjohlen und bleierner Müdigkeit
schwankten.
Die Frau wurde von niemandem beobachtet, nicht einmal mit
einem Blick gestreift. Das war ihr nicht neu, vielmehr ein Dauerzustand, an den
sie sich seit langem gewöhnt hatte. Man wandte sich stets nur an sie, wenn man
sich ihrer bedienen wollte. Diese spontane Erkenntnis paßte nicht zu den
Vorstellungen, die sie sich von diesem Tag gemacht hatte. Sie beendete ihr
Frühstück und nahm den zweiten Programmpunkt in Angriff.
Die Ausstellung brachte sie wieder auf andere Gedanken. Fast
verschollene Kenntnisse der Kunstgeschichte erhoben sich mit einer Klarheit aus
ihrem Geist, die sie selbst in Erstaunen versetzte. Sie nahm sich für jedes
einzelne Bild Zeit und freute sich daran, Einzelheiten zu erkennen und zu
sehen, wie sie zu einem harmonischen Ganzen verbunden worden waren. Nach einer
Zeit jedoch ließ ihre Konzentration nach und sie bedauerte plötzlich, ihre
Eindrücke mit niemandem teilen zu können.
Nein, wirklich mit niemandem. Die Ankündigung ihres
Ausfluges hatte ohnehin, wie zu erwarten, Befremden ausgelöst. „Wir dachten, du
wärest nun in einem Alter, indem du über solche Absonderlichkeiten hinaus
wärest.“ Der Satz ihrer Tante umriß so ziemlich, was sich alle in ihrer weit
verzweigten Familie dachten. Und auch ihre Bekannten schlossen sich dem stets
an. Es war ihr Fluch, oder sie war deren Fluch, je nachdem von welcher Seite
aus man es betrachten wollte. Sie war stets gerecht und betrachtete beide
Seiten.
Die Bilder nicht. Sie betrachtete die Gemälde schon seit
geraumer Zeit nicht mehr und beschloß kurzerhand zu gehen. Vor dem Museum
empfing sie ein strahlender Spätherbsttag und lockte sie in den nahen Park.
Dort setzte sie sich auf eine Bank in der Sonne und tauchte ein in ihr
wärmendes Licht. Es war ja auch wirklich Unsinn, sich selbst mit dem Urteil
anderer zu belasten. Schließlich hatte sie es geschafft, entgegen alle
Vermutungen und düsteren Prophezeiungen. Sie war sehr wohl in der Lage, ihr
eigenes Leben zu leben und sie war erfolgreich damit. Eine angenehme Stelle,
eine hübsche Wohnung, ein eigenes Auto, nette Bekannte, eine Familie, die gerne
auf sie zurückgriff. Sie kannte Menschen, die vieles davon entbehren mußten.
Es wurde Zeit für das Mittagessen und den Kinofilm. In
ruhiger Gelassenheit ließ sie beides über sich ergehen und fühlte sich recht
zufrieden mit dem Fortgang dieses Tages. Nur an den Inhalt des Filmes konnte
sie sich nicht mehr erinnern, sobald sie der nun schon recht düstere Tag erneut
umfing. Wo waren ihre Gedanken stehengeblieben?
Ihre Familie. Ihr Leben. Nicht, daß sie ihre Familie als ihr
Leben betrachtet hätte. Vielmehr verlief es recht streng getrennt davon, auch
wenn sie sich ihren Verpflichtungen nicht entzog. Sie konnte sich dem auch
nicht entziehen, schon um diesen ständigen Angriffen zu entgehen.
Man hatte es ja wirklich schwer mit ihr gehabt, das sah sie
ein. Sie war nie so gewesen, wie sie hätte sein sollen. Zudem auch noch
irgendwie unbeholfen, ungeschickt, unselbständig, un... .
Die U-Bahn und der Bus, waren nicht der rechte Ort um sich
mit dem auseinanderzusetzen, was sie nun nicht mehr von sich schieben konnte.
Der Sog, den die Vergangenheit auf sie ausübte war zu stark. Aber es gab diesen
Spazierweg am Fluß entlang, der sie fast direkt zu ihrer Wohnung bringen würde.
Seltsam, wie leicht es ihr immer gefallen war, ihrem Weg zu
folgen. Ganz entgegen dem, was man von ihr erwartet hatte, nachdem sie zunächst
solche Schwierigkeiten gezeigt hatte, ihn zu finden. Man mußte sich nur ein
wenig treiben lassen, dann ergab sich wie von selbst eines aus dem anderen.
Damals, im letzten Jahr vor dem Abitur, war das freilich
nicht zu ersehen gewesen. Wie hatte sie sich aufgelehnt gegen die Bestimmung
ein „vernünftiges“ Leben zu führen und wie schwer war es ihr gefallen, diese
innere Auflehnung nicht nach außen dringen zu lassen. Reiner Selbstschutz. Und doch
war es niemandem verborgen geblieben und man hatte sie wegen ihrer Schwäche
getadelt. Da hatte sie begonnen, ihnen zu beweisen, wie stark sie war.
An dieser Stelle mußte sie über den schmalen Steg gehen,
sonst würde sie zu weit von ihrer Richtung abkommen. Selbstvergessen blieb sie
in dessen Mitte, direkt unter einer Laterne stehen. Sie sah auf das ruhig
fließende Wasser und nachdem sie eine Weile so gestanden und geschaut hatte,
erkannte sie das Spiegelbild der Laterne und sich.
Seltsam. Ihr schien es, als würde ihre Spiegelung viel mehr
der ähneln, die sie einmal gewesen war, als der, die sie jetzt war. Sie stützte
die Unterarme auf die Brüstung und betrachtete intensiv dieses traurige
Gesicht. Ganz allein stand sie da, von kalter Wirklichkeit umgeben. Und das
Mädchen wußte, daß es sich der Wirklichkeit stellen mußte und die Mädchenträume
hinter sich lassen. Aber es war nicht dazu geschaffen, diese Entscheidung auf
die leichte Schulter zu nehmen. Es litt daran und wünschte sich verzweifelt
eine Hand auf dieser Schulter, nicht um sich führen zu lassen, sondern um ein
wenig Trost zu erhalten.
Angerührt von diesem Bild streckte die Frau die Hand nach
diesem Mädchen aus und nun endlich versöhnt mit ihm, beugte sie sich weit vor
um die, die nie geliebt worden war, zu küssen.