Sylvia Sagmeister

starting again

„Mach’s gut.“
„Du auch.“
Ein flüchtiger Kuss auf die emporgehobenen Lippen, dann fiel die Tür hinter ihm zu. Langsam drehte sie sich um und atmete tief durch. Das war’s jetzt. Noch zeugten leere Fächer im Regal davon, dass er einen Teil seines Lebens hier verbracht hatte. Sie schloss die Augen und tastete sich blind ins Wohnzimmer. Nicht hinsehen. Nicht den Schmerz fühlen, wenn sie hinter all den leeren Stellen sein Gesicht sah. Noch hatte sie den Duft seines Parfums in der Nase, noch konnte sie förmlich seine Anwesenheit spüren.
„Au!“
Sie war mit dem Knie gegen den Schreibtischsessel gestoßen. Blind war doch keine so gute Idee. Sie öffnete die Balkontür und trat auf die Loggia hinaus. Sein Freund hatte vor einer Woche erst die Fliesen gelegt, nicht ahnend, dass er schon den Vertrag für seine eigene Wohnung unterschrieben hatte. Tränen füllten ihre Augen. Allein. Sie kurbelte die neue Markise herunter, obwohl keine Sonne den Aufenthalt auf der Loggia behinderte. Ganz allein. Klar, irgendwann würden die Kinder wieder nach Hause kommen, feststellen, dass ihr Stiefvater gegangen war und nicht weiter nachfragen. Warum auch. Sie waren zwar gut miteinander klar gekommen, aber sie würden ihn auch nicht vermissen.
Allein.
Komisch. Sie hatte oft davon geträumt, wie es denn wäre, allein zu sein, hatte sich öfter vorgestellt, alleine zu wohnen und nur für sich selbst verantwortlich zu sein, aber jetzt, wo es real wurde, konnte sie nichts damit anfangen.
Allein.
Okay, das Leben ging weiter. Und sie hatten einander nicht Lebewohl gesagt. Nur „Auf Wiedersehen“, mit der Hoffnung, dass eine Trennung auf Zeit ihre Beziehung vielleicht wieder aufleben lassen konnte. Gab’s ja, diese Theorie, dass…
Allein.
Nicht nachdenken. Nur nicht nachdenken.
Sie trat ans Geländer und stützte sich darauf ab. Was wollte sie eigentlich. Wusste sie es denn selbst? Hatte sie nicht Zeit genug gehabt, darüber nachzudenken, hatte sie nicht Zeit genug gehabt, sich darauf einzustellen? Stattdessen lebte sie seit Monaten wie in Trance. Seit er den Wunsch geäußert hatte sich zu trennen, seit er gemeint hatte, seine Gefühle seien weg, einfach fort, einfach verpufft, lebte sie nur mehr von einem Moment zum anderen, unfähig, auch nur kurze Zeit in die Zukunft denken zu können. Nein, leben konnte man das nicht wirklich nennen. Sie vegetierte dahin, klammerte sich an ihre Arbeit, an alles, was zu tun anfiel, machte vielleicht sogar mehr als notwendig, nur um keine Zeit zu haben, nur um nicht nachdenken, nicht innehalten, nicht trauern zu müssen.
Allein.
Hätte sie eine Chance gehabt, etwas zu ändern? Sie wusste es nicht. Sie hatte keine Kraft gehabt. Sie hatte alle Kraft darauf verwendet, nicht stehen zu bleiben.
Allein.
Er war der Mann ihres Lebens gewesen. Mit ihm wollte sie noch immer alt werden. Und jetzt war ihre Zukunft weg. Noch nie war es ihr so gut gegangen wie mit ihm. Und jetzt war er gegangen. Und das noch nicht einmal zu einer anderen Frau, nein, ganz allein, ganz für sich, einfach gegangen, weil ihm seine Gefühle abhanden gekommen waren. Ob sie jemals wieder kommen konnten? Ob eine Trennung der richtige Weg war, wieder zusammenzufinden? Sie wusste es nicht, wollte auch nicht darüber nachdenken. Jetzt galt es, alle Kraft aufs Weiterleben zu konzentrieren. Da waren immer noch die Kinder, da war immer noch ihre Arbeit, da war immer noch ihr Studium, das es zu beenden galt.
Allein.
Aber nicht schwach, sicher aus der Bahn geworfen, mehr, als sie sich zugestehen wollte, aber nicht zu schwach, um sich auch alleine durchs Leben zu schlagen. Und wenn er wieder zurück wollte? Nein, darauf würde sie keinen Gedanken verschwenden. Wenn er wiederkam – falls er wiederkam – hatte sie immer noch Zeit genug zu entscheiden. Und ihr Bauch hatte sie in dieser Hinsicht noch nie in Stich gelassen.
 
Sie trat vom Geländer zurück, kurbelte die im Moment unnötige Markise wieder auf, kehrte ins Wohnzimmer zurück und begann die leeren Regalfächer zu füllen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.11.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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