Barbara I.

Der Zauberer (Teil 3 u. 4 - Ende)

III.
 
Mazul erwachte am nächsten Morgen davon, daß ihn der Sonnenstrahl, der durch die Ritze fiel, am linken Augenlid kitzelte. Der gleiche Strahl, der ihn seit vielen Jahren weckte. Solange er denken konnte, war er auf diese Weise aufgewacht - auch gestern.
 
Dieses Bewußtsein ließ ihn in jähem Schreck von seinem Lager hochfahren. Schamerfüllt schlug er die Hände vor das Gesicht, als er im Licht seiner Vergangenheit erkannte, was sich am Tag zuvor zugetragen hatte. Was hatte er getan? Wie hatte er sich dem allen aussetzen können? Und nicht nur sich, auch seine Angehörigen, die ihn doch stets dazu angehalten hatten, sich soweit als möglich zu verbergen, um sie und sich nicht demütigen lassen zu müssen! Und nun war es geschehen. Wie hatte er sich nur soweit vergessen können?
 
Doch in all der Klarheit, in der sich ihm die vergangenen Ereignisse nun darstellten, konnte ihm auch nicht entgehen, daß die Reaktionen nicht aller, mit denen er zusammengetroffen war, stets so gewesen waren, wie er sie hätte erwarten müssen.
 
Seine Mutter, ja, sie hatte sich immer so verhalten, als käme seine Anwesenheit einer persönlichen Beleidigung für sie gleich. Auch die jungen Männer hatten sich wie gewöhnlich bei der erstbesten Gelegenheit zusammengetan um über ihn zu spotten. Und dem Mädchen - Namira - hatte sein Gesicht Schrecken oder gar Abscheu eingeflößt. Deswegen war sie vor ihm zurückgewichen, und nicht weil er kein Verwandter war. Aber zum Abschied hatte sie ihm die Hand gereicht, wie es im Dorf üblich war, wenn er auch gesehen hatte, wie sie sich dazu überwinden mußte.
 
Dann war da Keres gewesen. Ihn hatte Mazul seit seinen Kindertagen als ärgsten persönlichen Feind angesehen. Nie war er vor seinen verletzenden Angriffen sicher gewesen, und so versuchte er ihm, wenn auch meist erfolglos, schleunigst auszuweichen, sobald er auch nur entfernt des Spötters ansichtig wurde. Doch gestern war in Keres eine Veränderung vor sich gegangen. Mazul hatte gespürt, daß seine Einladung ehrlich gemeint war, ohne den geringsten Hintergedanken, ihm wieder einmal einen Streich zu spielen.
 
Und das Verhalten des Vaters versetzte ihn im Nachhinein in blankes Erstaunen. Wann war es je vorgekommen, daß er ihn vor den hysterischen Ausbrüchen der Mutter in Schutz genommen hatte? Nie zuvor hatte er für ihn Partei ergriffen, ja, er hatte ihn kaum jemals zur Kenntnis genommen; und nun schien es fast, als hätte zwischen ihnen während einiger Stunden schweigender Arbeit auf dem Feld ein geheimes Einverständnis bestanden.
 
Noch einmal ließ Mazul den letzten Tag an sich vorüberziehen, und nach einiger Zeit überwanden Hoffnung und Neugier die Scham. Er nahm das Geschenk des Zauberers an  und öffnete die Tür zur Stube. Es empfing ihn das alltäglich gewohnte Schauspiel seiner Mutter, die womöglich noch gekränkter als je zuvor erschien. Doch heute erinnerte er sich an seine gestrigen Worte und wiederholte sie tapfer, wenn auch mit vor Angst und Aufregung klopfendem Herzen. Der Vater wartete schon und wieder gingen sie aufs Feld und wieder trug er seinen Kopf hoch auf dem Weg dahin, obwohl er sich nun fast Gewalt dazu antun mußte.
 
In den kommenden Tagen strengte das Verarbeiten der vielen neuen Erlebnisse seinen Verstand und seine Gefühle oftmals mehr an, als der beschwerliche Weg zum Zauberer seinen Körper ermüdet hatte. Unvermindert spürte er seine Verletzungen, aber er bemühte sich nun, sie in einem klaren Licht zu betrachten und das half ihm nach und nach eine innere Ruhe zu gewinnen, die ihm schließlich auch ermöglichte, sich selbst als nicht völlig unglücklich zu bezeichnen. Daneben begann er, er wußte kaum wie, sich für die Belange anderer zu interessieren und Namira war nicht die einzige, die, nach einigem Widerstreben, dankbar für seine Hilfe sein konnte.
 
Eines Tages, als er auf dem Weg in den Wald war, um Holz zu holen, blieb er an einem kleinen See stehen und blickte - was er bis dahin nie getan hatte, weil er es gar nicht gewagt hätte - ins Wasser. Da sah er sich zum ersten Mal, wie ihn die anderen sehen mußten. Er stand lange unbeweglich und ließ das Gesicht, das ihn ein wenig verschwommen, aber doch deutlich erkennbar, aus der Tiefe anblickte, auf sich wirken.
 
"Wahrhaftig," sagte er zu sich selbst. "Es ist nicht schön, aber es ist mein Gesicht."
 
Als er seinen Vater am Abend allein auf den Stufen der Kate sah, setzte er sich zu ihm und teilte ihm den Entschluß mit, sich eine eigene Hütte zu bauen und fortan dort zu wohnen.
 
"Es ist nicht üblich, seine Eltern zu verlassen, bevor man eine eigene Familie gründet." entgegnete ihm der Vater.
 
"Das mag sein." meinte Mazul und wählte seine Worte bedächtig. "Doch vielleicht ist es für Dich und Mutter besser, Euer Heim nun endlich für Euch zu haben. Für mich ist es an der Zeit, meinen eigenen Platz zu finden."
 
"Wohin willst Du Deine Hütte stellen?" fragte der Vater.
 
"An das Ende des Dorfes nahe den Bergen. Neben das Haus, das Keres für sich und Namira gebaut hat."
 
"Keres und Namira. - Die beiden sind wohl Deine engsten Freunde geworden."
 
"Sie haben mich gelehrt zu tanzen, Vater. Auf dem Dorffest unter den Zedern. Sie haben dafür gesorgt, daß keine Lücke unter den Reihen der Tänzer entstand, wenn jemand den Platz nicht einnehmen wollte."
 
Es blieb lange still zwischen den beiden Männern. Mazul hatte eine Entscheidung, keine Bitte vorgetragen, aber er wäre doch erleichtert gewesen, wenn sich sein Vater damit einverstanden zeigen konnte.
 
"Du magst Deine Hütte bauen, mein Sohn. Ich werde Dir dabei helfen."
 
Sie begannen im nächsten Frühjahr damit, und waren fertig, noch ehe der Sommer ins Land zog. Der Vater hatte sich ganz nach Mazuls Wünschen gerichtet, nur hier und da hatte er eine Verbesserung aus seinem reichen Erfahrungsschatz vorgeschlagen. Ein einziges Mal hatte er Protest erhoben, nämlich als Mazul zusätzlich zur Öffnung für die Tür zwei weitere in den Wänden haben wollte.
 
"Es wird hereinregnen." hatte er kopfschüttelnd gemeint. "Und im Winter wird es ganz unmöglich sein, den Raum warm zu halten."
 
"Man kann Klappbretter davor anbringen, dann kann man die Öffnungen notfalls schließen, Vater. Sonst aber, muß man hinaussehen können."
 
"Wozu willst Du hinaussehen? Eine Hütte dient zum Schutz vor Sonne, Wind, Regen und Schnee. Warum willst Du Dich diesen Gefahren aussetzen?"
 
"Aber ist es nicht besser zu sehen, wie es draußen wirklich aussieht, damit man sich, falls erforderlich, schützen kann, anstatt sich aus Furcht vor Gefahren, die vielleicht gerade gar nicht bestehen, zu verschanzen und so auch den Blick auf das Schöne und Freundliche zu verlieren?"
 
Der Vater hatte abermals den Kopf geschüttelt, dann aber begonnen, den Platz für die Öffnungen auszusparen.
Als Mazul seine Hütte bezog, fühlte er sich, wie nach einem langen, steinigen Marsch durch das Gebirge. Ja, geradeso wie im letzten Jahr, als er an der Hütte des Zauberers angekommen war. Und jetzt wurde ihm erst bewußt, wieviel er dem alten Weisen in den Bergen zu verdanken hatte.
 
Er hatte kein neues Gesicht erhalten. Nichts war ihm geschenkt worden, nichts, bis auf einen Tag des Vergessens. Und gerade dieser Tag, an dem er sich seiner Vergangenheit nicht verhaftet gefühlt hatte, hatte ihn gelehrt, seine Augen aufzumachen für das Leben und daran teilzuhaben, wie es ihm entsprach. Diese Erkenntnis hatte ihn nicht auf duftende Rosen gebettet, wie er insgeheim gehofft hatte. Statt dessen hatte sie ihn seinen Platz unter den weisen Zedern finden lassen.
 
Von Dankbarkeit erfüllt, wollte er sich ein zweites Mal auf den Weg in die Berge machen. Er hatte schon den Tag beschlossen, andem er aufbrechen wollte, als ihm der Zauberer im Traum erschien.
 
Mazul erschrak über die Macht, die jenem innewohnte. Da erkannte er das feine Lächeln in diesem angenehmen Gesicht, das er bisher als so störend empfunden hatte, und der Zauberer sprach:
 
"Du tust mir zuviel der Ehre an, Mazul. Es ist Dein starker Wunsch, der Dich mich sehen läßt. Ich selbst kann gar nichts dazu tun. Es freut mich, wenn Du Deinen Platz gefunden hast, aber Du schuldest mir keine Dankbarkeit dafür, denn ich habe nichts für Dich getan. Ich sagte Dir doch: Ich kann nur das, was nicht ist wegnehmen, oder die Illusion dessen, was nicht ist, schaffen. Und das ist das, was alle Menschen können. Und ich sagte Dir auch: Dein Platz ist unter den Deinen. Bleibe also getrost dort und suche Deine Aufgabe zu erfüllen."
 
Das Traumbild erlosch und Mazul konnte es nicht nach dem Sinn des ersten Satzes fragen, den er immer noch nicht ganz verstand. Es kehrte auch nie mehr zurück, aber Mazul war sich nicht sicher, ob er es sich nocheinmal wünschen sollte.
 
So bemühte er sich weiter, sich dem, was ihn erwartete, offen und mitfühlend zu stellen. Das war nicht immer einfach und oft war seine ganze Energie dazu notwendig. Doch wenn er sich haltlos glaubte, fand er Stütze im Bewußtsein dessen, was er schon erfahren hatte. Er erlebte, wie seine Kräfte sich durch ein unvermutet freundliches Wort wieder beleben durften. Wie jemand, der mit einer Gehäßigkeit auf den Lippen, plötzlich seine Meinung änderte und ihn unbehelligt ließ. Oder wie ein schon lange erwartetes Übel überraschend abgewendet werden konnte.
 
Nach und nach fanden Menschen aus dem Dorf, die sich selber in Not befanden und die sich an seine glückliche Veränderung erinnerten, den Weg zu ihm. Doch er konnte nichts anderes tun, als ihnen zu raten, in einem Augenblick des Vergessens die Augen weit zu öffnen. Und manchen half er wirklich damit.
 
 
 
IV.
 
Es waren viele Jahre vergangen, als Mazul eines Nachmittages, nun schon ein wenig gebeugt, sich auf seinem Weg in den Wald plötzlich am Ufer des kleinen Sees wiederfand, in den er vor langer Zeit geblickt hatte, um sein Abbild zu sehen. In Gedanken an diese Zeit des Anfanges lächelnd, beugte er sich nach vorne und erkannte nun - er konnte sich daran erinnern, als sei es gestern gewesen - das Gesicht des Zauberers.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.11.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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