Eva Markert

Haselmäuschen

„Blassrosa! Wie abgeschmackt“, dachte Brigitte und schaute auf den Briefbogen. Sie kam sich vor wie in einem schlechten Film. Doch der Brief in ihrer Hand war echt. Wieder glitt ihr Blick über die runde, kindlich wirkende Handschrift:
„Mein über alles geliebter Hermann!
Wie sehne ich mich nach dir und deinen Küssen! Ich kann es kaum noch erwarten, dich Mittwochnachmittag endlich wiederzusehen. Wir treffen uns wie immer um halb drei, diesmal im Marktcafé in Bürgersheim. Komm bitte ganz, ganz schnell! Unser geheimes Liebesnest wartet ...
Dein Haselmäuschen“
Daneben war ein großes, rotes Herz gemalt.
Brigitte ließ den Brief sinken und starrte vor sich hin. Sie hatte keine Ahnung, wer die Schreiberin sein könnte. Wer Hermann war, wusste sie allerdings genau: ihr Ehemann, der vorgestern ganz plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben war.
Eine Träne tropfte auf das rosa Briefpapier und das geschwungene H von „Haselmäuschen“ zerlief. Hastig legte sie den Bogen auf den Tisch. „Warum werfe ich diesen Wisch nicht einfach weg?“, fragte sie sich.
Zornig kämpfte sie die Tränen nieder. Das musste ein Irrtum sein. Bestimmt hätte sie etwas gemerkt! Sie kannte Hermann besser als er sich selbst, und sie war sicher: Er hatte sie wirklich geliebt. So wie sie ihn. Niemals hätte er sie betrogen!
Brigitte putzte sich die Nase und griff wieder nach dem Umschlag. Kein Absender. Aber die Adresse stimmte: Dr. H. Brotesser und die Anschrift der Firma, bei der er gearbeitet hatte. Der Vermerk „Persönlich“ über dem Namen war säuberlich unterstrichen. Dieser Liebesbrief war zweifellos an Hermann gerichtet.
Er lag obenauf in einem Karton mit Sachen ihres Mannes, den seine Sekretärin vorbeigebracht hatte. Langsam packte Brigitte die Schachtel aus und legte alles säuberlich nebeneinander auf den Tisch: den Füller mit der Goldfeder, den sie ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte, die Lesebrille, ein Notizbuch, Hausschlüssel und ein Hochzeitsfoto. Über zwanzig Jahre hatte es auf Hermanns Schreibtisch gestanden. Er hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt und sie lachte in die Kamera, so jung, so glücklich und unbeschwert. Was hatte er empfunden, wenn sein Blick auf dieses Bild fiel? Hatte er es überhaupt noch wahrgenommen? Oder gehörte es einfach zum Inventar? Hatte sie selbst womöglich auch nur zum Inventar gehört?
„Schluss damit!“, befahl sie sich. „Du warst mehr für ihn als ein Möbelstück, das weißt du genau!“
Andererseits – und das erschien ihr wirklich verdächtig – ging sie schon seit Jahren jeden Mittwochnachmittag ins Fitness-Studio. Sie brauchte das als Ausgleich für ihre Arbeit als Realschullehrerin.
Ganz unten in dem großen Karton lag ein gerahmter Druck von Chagalls „Blauem Zirkus“, der gegenüber dem Schreibtisch gehangen hatte. Nachdenklich betrachtete sie das Bild. Was verriet es über Hermann? Er war so nüchtern gewesen, so bodenständig. Das genaue Gegenteil von diesem surrealistischen Traum aus leuchtenden Farben. Hatte er das in seinem Leben vermisst? Etwas Farbe? Ein wenig Unordnung? Ihr Blick fiel auf die Frauengestalt im Zentrum des Bildes. Oder hatte sie ihm – davon nicht genug gegeben?
Einen Augenblick überlegte Brigitte, ob sie die Sekretärin anrufen und fragen sollte, ob Hermann des Öfteren persönliche Briefe auf rosa Briefpapier erhalten hatte. Doch sofort verwarf sie den Gedanken wieder. Keinesfalls würde sie sich diese Blöße geben!
Ziellos wanderte sie durch die Räume auf der Suche nach Antworten, die ihr die stille Wohnung nicht geben konnte.
Sie kniete vor Hermanns Nachttischschublade und wühlte darin herum, trat an den Schrank, schaute zwischen der Unterwäsche nach und durchsuchte die Taschen seiner Jacketts. „Als ob ich eine betrogene Ehefrau wäre“, dachte sie unwillkürlich. Mit einem Knall schlug sie die Schranktür zu. Wahrscheinlich   war   sie eine betrogene Ehefrau.
Brigitte warf sich aufs Bett und drückte ihr Gesicht ins Kissen. „Stimmt das?“, schrie sie ihn in Gedanken an. „Hast du mir das angetan?“ Trockene Schluchzer schüttelten sie wie ein hartnäckiger Schluckauf.
Plötzlich setzte sie sich kerzengerade hin. Heute war Mittwoch und sie würde ins Café am Marktplatz fahren. Vielleicht wusste Haselmäuschen noch nichts von Hermanns Tod.
Brigitte presste mit kaltem Wasser durchtränkte Wattepads auf ihre brennenden Augenlider, trug hastig ein wenig Rouge auf und zog ihre Lippen nach. Als sie die Trauerkleidung mit Jeans und einer weißen Bluse vertauschte, hatte sie fast ein schlechtes Gewissen.
Es war nicht weit bis zum Nachbarstädtchen. „Als ich zuletzt in diesem Auto fuhr“, sinnierte sie, „saß Hermann noch am Steuer. Und nun ist er tot und ich bin auf dem Weg zu seiner Geliebten.“ Dieser Gedanke war so ungeheuerlich, dass ihr beinahe die Luft wegblieb.
 
Unter anderen Umständen hätte ihr das kleine Café mit den runden Tischen und den rot gepolsterten Sesselchen bestimmt gefallen. Jetzt verursachten ihr der Kaffeeduft und der süßliche Geruch nach Torte Übelkeit.
Sie sah sich um. Außer einer Greisin mit dünnen, weißen Haaren war sie der einzige Gast. Das konnte wohl kaum Haselmäuschen sein. Sicher hatte Hermann sich was Jüngeres ausgesucht. Brigitte schnaubte leise durch die Nase und erschrak. Wie abfällig sie bereits über ihren Mann dachte! Und was war mit ihren Erinnerungen? Ihre gemeinsamen Erlebnisse, wie sie gelacht und geredet hatten. Die Zuneigung, Vertrautheit, dieses starke Zusammengehörigkeitsgefühl, hatte sie sich das alles nur eingebildet?
Sie wählte einen Tisch in der Ecke und bestellte ein Kännchen Tee. Ihr Mund war papiertrocken. Ganz in Gedanken rückte sie eine kleine Blumenvase zurecht, sodass sie genau in der Mitte des Tisches zu stehen kam. „Sei doch mal ein bisschen großzügig“, schoss es ihr durch den Kopf. Das hatte Hermann oft gesagt. Ihr ausgeprägter Ordnungssinn, ihre Gründlichkeit und strengen Prinzipien hatten ihn manchmal gestört, vielleicht sogar belastet.
Sie blickte auf die Uhr. Kurz vor halb drei. Jeden Augenblick konnte die Tür aufgehen und ...
„Und dann?“, fragte sich Brigitte. Was sollte sie tun? Hingehen und sagen: „Entschuldigen Sie, sind Sie vielleicht Haselmäuschen?“ Oder: „Verzeihen Sie, aber können Sie mir sagen, warum Hermann sich mit Ihnen eingelassen hat?“ In diesem Augenblick wurde ihr die Absurdität der Situation bewusst. Sie schluckte mehrmals heftig, um die Übelkeit hinunterzuwürgen.
Ein kalter Luftzug traf sie, als die Tür aufgerissen wurde und eine junge Frau hereinkam. Sie blickte sich suchend um, warf ihren Mantel über eine Sessellehne und nahm am Nachbartisch Platz. Irgendwie kam sie Brigitte bekannt vor. Sie hatte lange, blonde Haare und Brigitte wusste, das gefiel Hermann – hatte ihm gefallen. Sie war auffällig gekleidet mit einem sehr kurzen schwarzen Rock, breitem Gürtel und einem rosa glitzernden Top, das ihren gepiercten Bauchnabel freiließ. Ihre Augen hatte sie mit dicken schwarzen Strichen umrandet und der dunkle Lippenstift in dem blassen Gesicht wirkte wie geronnenes Blut.
Brigitte zweifelte. Diese Frau, die fast noch wie ein Mädchen aussah, passte überhaupt nicht zu dem Hermann, den sie kannte. Und hatte er sich wirklich mit einem so jungen Ding eingelassen?
Die Frau beobachtete sie aus den Augenwinkeln.
Schnell wandte Brigitte den Blick ab. Sollte sie sich so weit erniedrigen, mit diesem Flittchen zu sprechen?
Die Kellnerin kam. „Einen Kaffee“, hörte Brigitte eine ungewöhnlich heisere Stimme. „Den Kuchen suche ich später aus. Ich warte noch auf einen Herrn.“
Sie gab sich einen Ruck. Beinahe wäre ihr Stuhl umgefallen, als sie aufsprang.
„Ich bin Brigitte Brotesser“, sagte sie und setzte sich ohne Umschweife an den Nachbartisch.
Die junge Frau schlug die Hand vor den Mund, doch Brigitte hatte den Eindruck, als wäre sie weder erschrocken noch erstaunt. „Hanna“, stellte sie sich vor.
Brigitte hörte ihre eigene Stimme wie von fern, während sie weitersprach. „Sie sind also die Geliebte meines Mannes.“
Hanna antwortete nicht. Ihre schwarz umrandeten Augen blickten ruhig und aufmerksam.
„Haselmäuschen“, sagte Brigitte und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme verächtlich klang.
Jetzt stieg etwas Farbe in das Gesicht der anderen. „Jawohl“, sagte sie trotzig mit dieser merkwürdig belegten Stimme, die Brigitte schon mal irgendwo gehört hatte. „Wir lieben uns.“
„Wie haben Sie ihn kennen gelernt?“
„Wollen Sie mich verhören?“
Brigitte überlegte kurz. „Ich will nur Bescheid wissen. Und verstehen.“
„Ich kann Ihnen alles erklären. Er war Sie schlicht und einfach satt. ‚Eine typische Lehrerin. Pedantisch, engstirnig, kleinkariert.’ Das sagte er oft.“
Brigitte schwieg. Fast schien es ihr, als hätte sie Hass in diesen Worten gespürt, als würde Wut in den dunklen Augen blitzen.
„Er wollte Sie verlassen!“, setzte die Frau triumphierend hinzu.
Brigitte horchte auf. „Wollte?“, hakte sie nach. „Warum sprechen Sie von ihm in der Vergangenheit?“
Einen Augenblick schien Hanna verwirrt, doch sie fing sich schnell. „Er hat es mir oft versprochen“, sagte sie ausweichend.
Brigitte sah ihr forschend ins Gesicht, ehe sie fortfuhr. „In Ihrem Brief schreiben Sie etwas von einem geheimen Treffpunkt.“
Hanna schien nicht im mindesten verwundert, dass Brigitte das alles wusste.
„Wo ist dieses sogenannte ‚Liebesnest’?“
Der Blick der jungen Frau wurde hart. „Im Wald.“
Brigitte nickte. „Ich liebe den Wald.“ Das hatte Hermann oft gesagt.
„Im Sommer sind wir gern dort spazieren gegangen und haben uns ein stilles, weiches Plätzchen gesucht. Auf Moos. Sie verstehen?“
Brigitte verstand.
Hanna kicherte. „Eines Tages entdeckten wir versteckt im Wald einen Hochsitz.“
Brigitte richtete sich auf.
„In unserem geheimen Liebesnest haben wir es uns gemütlich gemacht mit Kerzen, Rotwein und Decken.“
Brigitte schlug mit der Faust auf den Tisch. „Halten Sie sofort den Mund!“
Neugierig schaute die Kellnerin zu ihnen herüber.
„Tut mir Leid“, sagte ihr Gegenüber ungerührt. „Aber Sie wollten die Wahrheit wissen.“
„Was Sie da erzählen, ist gelogen.“
„Es ist wahr“, behauptete Hanna, „ob es Ihnen gefällt oder nicht.“
„Niemals“, stieß Brigitte hervor, „wäre mein Mann auf einen Hochsitz geklettert. Solange ich ihn kenne, ist er keine einzige Leiter hinaufgestiegen.“
Hanna starrte sie an.
Brigitte atmete tief durch. „Er konnte es nicht“, erklärte sie. „Er hatte nämlich Höhenangst.“
„Aber“, stammelte Hanna, „wir sind oft ...“
„Schluss jetzt!“, fuhr Brigitte sie an. „Sie wissen genau, dass mein Mann tot ist. Warum haben Sie den lächerlichen Brief geschrieben und mir diese Ammenmärchen erzählt?“
Hanna kniff die Lippen zusammen.
„Antworten Sie, oder ich rufe die Polizei.“
Plötzlich verzerrte sich das Gesicht der Frau. „Erkennen Sie mich immer noch nicht?“, zischte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Brigitte runzelte die Stirn. Ja, Hanna erinnerte sich vage an jemanden.
„Johanna“, fauchte die Frau. „Johanna Konzelmann, Klasse 10 a.“
Mit einem Schlag fiel es Brigitte wieder ein. Eine Ewigkeit hatte sie nicht mehr daran gedacht. Kaum zu glauben, dass das Johanna war, jenes schmächtige, unscheinbare Mädchen, das vor ungefähr zehn Jahren in ihrer Klasse gesessen hatte.“
„Sie haben mich vergessen, stimmt’s?“ Die Augen der Frau wurden zu glühenden Schlitzen. „Aber ich habe Sie nicht vergessen.“
„Du gibst mir also immer noch die Schuld.“
„Sie   sind   schuld“, unterbrach Johanna. „Hätten Sie mir damals eine Vier gegeben, nur eine Vier minus, hätte ich die Schule nicht ohne mittlere Reife verlassen müssen.“
Brigitte sank gegen die Stuhllehne.
„Zufällig habe ich gehört, dass Ihr Mann gestorben ist“, fuhr die junge Frau fort. „Da kam mir die Idee.“
„Die vielen Jahre ...“, stammelte Brigitte.“
„Mein ganzes Leben haben Sie mir kaputtgemacht. Das werde ich Ihnen nie verzeihen!“ Damit sprang sie auf, griff nach ihrem Mantel und stürzte hinaus.
Brigitte taumelte zur Tür.
„Ihr Tee“, rief die Serviererin ihr nach.
Sie tastete nach ihrem Portemonnaie.
„Zahlen Sie auch den Kaffee Ihrer Bekannten?“, hörte sie die Kellnerin fragen.
Brigitte nickte.
 
Eine Weile saß sie noch in ihrem Wagen und starrte vor sich hin. Es war ein trüber, nasskalter Herbstnachmittag, und als sie nach Hause fuhr, versank die Straße bereits in Dunkelheit.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.11.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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