Marie Salka

Die kleine Seejungfrau von Kopenhagen


        Des Nachts, wenn nur der goldene Mond übers Wasser flackert, kann man die Seejungfrau im Mondlicht sitzen sehen. Auf ihrem Stein sitzt sie da und starrt ins wogende Wasser. Kein Mensch sieht je in ihre Augen, und so sieht auch keiner, wie sie glitzern. Als ob sie weinen müssten, aber eine Seejungfrau kann nicht weinen, und das macht ihr Leid nur noch schlimmer.
        Sie ist einsam, und sie weiß, dass sie an ihren Felsen gefesselt ist, denn sie ist nur eine Statue. Doch gibt es eine spezielle Nacht, die nur alle hundert Jahre wieder kommt, und in der sie, unbemerkt von allen, ihren Platz verlassen kann.
        In dieser einen raren Nacht sah niemand ihre Flosse im Wasser verschwinden, als sie die Freiheit durch ihre Glieder strömen spürte. Das kalte Wasser umspülte sie wie der Wind den Menschen um die Nase streicht, und durch den Hafen, der ihr nicht mehr so schien wie sie ihn einst kannte, schwamm sie ins offene Meer hinaus. Sie war auf der Suche nach dem, den sie einmal geliebt, aber mit schwerem Herzen erinnerte sie sich, dass sie ihn nicht erreichen konnte. Der sie gemacht hatte – ein dänischer Schriftsteller vor vielen, vielen Jahren – hatte ihr keine unsterbliche Seele gegeben. Sie hatte sich eine verdienen können, und dies war nun der Grund, warum sie Tag für Tag auf ihrem Stein saß, aber ihren Prinzen hatte sie nie wiedergesehen. Seine Welt war nicht die ihre, und wenn sie an sein dunkles Haar dachte, starrte sie sehnsüchtig in die Wogen hinaus.
        Weit trugen ihre Flossen sie in dieser Nacht, und an einer Küste, die ihr ähnlich der schien, an die sie einst ihren Prinzen gebracht hatte, zog sie sich auf Händen aus den Wellen hinaus und in den feinen Sand, der sich um sie breitete. Pflanzen, die sie von ihrer täglichen Aussicht, dem Felsen, nicht kannte, säumten den Strand und verdeckten den Blick auf das, was dahinter lag. Ihr langes Haar hüllte die kleine Seejungfrau ein wie ein Mantel, und im dunklen Schimmer des Mondes sah man ihren Fischschwanz kaum. Sie hielt sich für alleine im weißen Sand, und so begann sie zu singen, mit der Stimme der Meerweiber, die den Menschen erscheint wie der Klang einer Harfe, die auf unsichtbaren Saiten gespielt wird,  denn sie wissen es nicht besser. Sie sang von ihrer Einsamkeit, ihrer Sehnsucht nach den Schwestern und ihrem Vater, und beklagte den Verlust ihrer Liebe. Da sie ihren Blick aufs Meer gerichtet hielt, sah sie nicht, wie sich jemand ihr näherte, jemand, der vom magischen Klang ihrer Stimme angezogen wurde. Ein Mann stand da, ein wenig älter als sie selbst, die ja erst fünfzehn war, und lauschte ihrem Gesang. Er erkannte ihren Fischschwanz nicht, denn seine Sinne waren betört und sein Blick getrübt. Als die kleine Seejungfer bemerkte, dass jemand ihr nah stand, hüllte sie sich voller Schreck noch tiefer in ihr blondes Haar, und grub ihre Flosse, so gut sie es vermochte, in den weichen Sand. Der, der vor ihr stand, war ein Mensch, mit Beinen anstelle von Flossen, und sein Haar schien hell wie das ihre. Er sagte etwas zu ihr, aber die kleine Seejungfrau verstand ihn nicht, denn er sprach mit fremder Zunge. Da beugte er sich zu ihr nieder und küsste ihr das Salz von den Lippen. Die Seejungfrau wusste nichts zu erwidern, denn sie wusste, dass er ihre Sprache genauso wenig verstehen würde wie sie die seine. Hilflos schlug sie mit ihrem Fischschwanz und fühlte sich so stumm wie zuvor auf ihrem Felsen.
        Als der Morgen dämmerte und der erste fahle Streifen Sonnenlicht den Horizont entlang kroch, warf ihr der Menschensohn einen letzten Blick zu und sie, die zuvor so magisch gesungen hatte, starrte ihm stumm hinterher. Und wie der erste goldene Sonnenstrahl den weißen Sand und ihren Fischschwanz berührte, da wurde sie wieder zurückgeholt auf ihren Felsen, und niemand sah, wie das Salzwasser, die letzte Erinnerung an die Nacht, ihr über die Wange rann, als wenn sie weinte.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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