Des Nachts, wenn nur der goldene
Mond übers Wasser flackert, kann man die Seejungfrau im Mondlicht sitzen sehen.
Auf ihrem Stein sitzt sie da und starrt ins wogende Wasser. Kein Mensch sieht
je in ihre Augen, und so sieht auch keiner, wie sie glitzern. Als ob sie weinen
müssten, aber eine Seejungfrau kann nicht weinen, und das macht ihr Leid nur noch
schlimmer.
Sie ist einsam, und sie weiß,
dass sie an ihren Felsen gefesselt ist, denn sie ist nur eine Statue. Doch gibt
es eine spezielle Nacht, die nur alle hundert Jahre wieder kommt, und in der
sie, unbemerkt von allen, ihren Platz verlassen kann.
In dieser einen raren Nacht sah
niemand ihre Flosse im Wasser verschwinden, als sie die Freiheit durch ihre
Glieder strömen spürte. Das kalte Wasser umspülte sie wie der Wind den Menschen
um die Nase streicht, und durch den Hafen, der ihr nicht mehr so schien wie sie
ihn einst kannte, schwamm sie ins offene Meer hinaus. Sie war auf der Suche
nach dem, den sie einmal geliebt, aber mit schwerem Herzen erinnerte sie sich,
dass sie ihn nicht erreichen konnte. Der sie gemacht hatte – ein dänischer
Schriftsteller vor vielen, vielen Jahren – hatte ihr keine unsterbliche Seele
gegeben. Sie hatte sich eine verdienen können, und dies war nun der Grund,
warum sie Tag für Tag auf ihrem Stein saß, aber ihren Prinzen hatte sie nie
wiedergesehen. Seine Welt war nicht die ihre, und wenn sie an sein dunkles Haar
dachte, starrte sie sehnsüchtig in die Wogen hinaus.
Weit trugen ihre Flossen sie in
dieser Nacht, und an einer Küste, die ihr ähnlich der schien, an die sie einst
ihren Prinzen gebracht hatte, zog sie sich auf Händen aus den Wellen hinaus und
in den feinen Sand, der sich um sie breitete. Pflanzen, die sie von ihrer
täglichen Aussicht, dem Felsen, nicht kannte, säumten den Strand und verdeckten
den Blick auf das, was dahinter lag. Ihr langes Haar hüllte die kleine
Seejungfrau ein wie ein Mantel, und im dunklen Schimmer des Mondes sah man
ihren Fischschwanz kaum. Sie hielt sich für alleine im weißen Sand, und so
begann sie zu singen, mit der Stimme der Meerweiber, die den Menschen erscheint
wie der Klang einer Harfe, die auf unsichtbaren Saiten gespielt wird, denn sie wissen es nicht besser. Sie sang von
ihrer Einsamkeit, ihrer Sehnsucht nach den Schwestern und ihrem Vater, und
beklagte den Verlust ihrer Liebe. Da sie ihren Blick aufs Meer gerichtet hielt,
sah sie nicht, wie sich jemand ihr näherte, jemand, der vom magischen Klang
ihrer Stimme angezogen wurde. Ein Mann stand da, ein wenig älter als sie
selbst, die ja erst fünfzehn war, und lauschte ihrem Gesang. Er erkannte ihren
Fischschwanz nicht, denn seine Sinne waren betört und sein Blick getrübt. Als
die kleine Seejungfer bemerkte, dass jemand ihr nah stand, hüllte sie sich
voller Schreck noch tiefer in ihr blondes Haar, und grub ihre Flosse, so gut
sie es vermochte, in den weichen Sand. Der, der vor ihr stand, war ein Mensch,
mit Beinen anstelle von Flossen, und sein Haar schien hell wie das ihre. Er
sagte etwas zu ihr, aber die kleine Seejungfrau verstand ihn nicht, denn er
sprach mit fremder Zunge. Da beugte er sich zu ihr nieder und küsste ihr das
Salz von den Lippen. Die Seejungfrau wusste nichts zu erwidern, denn sie
wusste, dass er ihre Sprache genauso wenig verstehen würde wie sie die seine.
Hilflos schlug sie mit ihrem Fischschwanz und fühlte sich so stumm wie zuvor
auf ihrem Felsen.
Als der Morgen dämmerte und der
erste fahle Streifen Sonnenlicht den Horizont entlang kroch, warf ihr der
Menschensohn einen letzten Blick zu und sie, die zuvor so magisch gesungen
hatte, starrte ihm stumm hinterher. Und wie der erste goldene Sonnenstrahl den
weißen Sand und ihren Fischschwanz berührte, da wurde sie wieder zurückgeholt
auf ihren Felsen, und niemand sah, wie das Salzwasser, die letzte Erinnerung an
die Nacht, ihr über die Wange rann, als wenn sie weinte.