Günter Schrön

Fillipo's Rache

Fillipo lag im Schatten der kleinen Hütte und beobachtete mit geringem Interesse, wie seine Mutter einen Tapir, den er heute im Busch erlegt hatte, am Spieß über dem offenen Feuer drehte. Der Duft des Bratens, der herüberwehte, verursachte bei Fillipo Übelkeit, wie alles Essen in den letzten Tagen, seit der grüne alte Mann Fillipo's Vater geholt hatte.

Die kleine Maria saß plaudernd in der Nähe des Feuers, unterhielt sich mit einem beinahe handteller-großen Laternenträger und stieß Laute des Unmuts aus, als das Insekt taumelnd davonflog. „Fillipo", sagte seine Mutter und reichte ihm auf einem Blatt ein Stück Tapirbraten, „du mußt etwas essen, du bist doch jetzt das Oberhaupt der Familie".

Aber Fillipo winkte nur stumm ab, erhob sich und begab sich zum Haus des Häuptlings. Der Häuptling war ebenfalls gerade dabei, im Kreise seiner großen Familie zu essen, als Fillipo dort ankam. Der alte Mann erhob sich achtungsvoll, um Fillipo zu begrüßen. Das gehörte sich so, denn, wenn Fillipo auch erst zehn Jahre alt war, so trug er doch jetzt, nachdem sein Vater tot war, die Ver- antwortung für die Familie.

Damit war er jedem Jäger, Krieger und sogar Häuptling gleichgestellt. Diese waren sogar verpflichtet, ihm besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, da Fillipo in seinem Alter viel schwerer an der Verantwortung für seine Familie zu tragen hatte als die erwachsenen Männer. Das gebot der Kodex. „Iß mit uns, Fillipo", bat der Häuptling und zeigte auf das bereits zerteilte Wasserschwein, welches in der Mitte des Kreises der Sippe lag, und einen verlockenden Bratenduft verströmte.

Es wäre unhöflich gewesen, der Einladung des Häuptlings nicht Folge zu leisten. Wenn Fillipo als erwachsener Mann anerkannt werden wollte, dann mußte er auch die Spielregeln der Erwachsenen anerkennen.

„Du willst also immer noch den grünen alten Mann töten?" fragte der Häuptling, nachdem die Mahlzeit beendet war und die übrige Sippe sich wieder ihren verschiedenen Aufgaben zugewandt hatte. „Ich werde ihn töten", sagt Fillipo bestimmt und ließ sich auf eine Matte nieder, als der Häuptling ihn dazu mit einer Handbewegung aufgefordert hatte.

„Der grüne alte Mann ist der böse Geist des Rio Sandino", sagte der Häuptling, sich ebenfalls nieder-lassend, "„noch keiner von uns hat es geschafft, ihn zu töten, aber er hat schon viele von uns getötet."

„Ich werde meinen Vater rächen", sagte Fillipo unnachgiebig und sah dabei drohend in die Richtung, wo der Rio Sandino hinter üppigen Pflanzenwuchs verborgen, floß. „Der grüne alte Mann ist unverwundbar", meinte der Häuptling leise, „er lebt schon so lange im Rio Sandino, daß sich keiner der alten Männer an eine Zeit erinnern kann, da es ihn noch nicht gegeben hat."

Dann bat der Häuptling Fillipo noch, wenigstens zu warten, bis Padre Manolo mal wieder ins Dorf kommen würde.

„Es ist doch so", meinte er verlegen, „daß deine Mutter und Schwester ohne jeden Schutz wären, wenn dir etwas geschehen würde."

In seiner Stimme klang die Sorge, daß sich das ganze Dorf um die Familie kümmern müßte, wenn Fillipo etwas zustoßen würde.
Fillipo erinnerte sich noch genau an den Tag, als sie den riesigen Palmetto gefällt hatten. Stundenlang hatten er und sein Vater die blitzende Axt in den Stamm geschlagen, bis dieser endlich fiel. Ein im Morast lauerndes Krokodil geriet unter den Baum, der ihm das Rückgrat brach. Ziellos mit den Füßen herumrudernd, öffnete das schlammgraue Tier den zähnestarrenden Rachen und schrie schrill in tödlicher Agonie, ehe es langsam verendete.

Das war ein schlimmes Zeichen, der Geist des Rio Sandino würde dem neuen Boot nicht wohl- gesonnen sein. Aber Fillipo's Vater lachte nur, als sein Sohn diese Befürchtung äußerte. Weiß spritzte das Mark des Palmetto, als sie ihn aushölten, und die Sonne war noch nicht hinter den Bäumen versunken, da konnten sie das Boot schon zum Ufer tragen.

In den frühen Morgenstunden trieben sie mit ihrem neuen Boot schon auf dem Rio Sandino und speerten Fische. Die Jagdbeute war bald so groß, daß sie davon sicher noch etwas im Dorf gegen andere Waren eintauschen konnten.

„Gib acht, Fillipo", hatte der Vater gerade noch besorgt gesagt, weil der Junge voller Freude wegen des Jagdglücks in dem neuen Boot herumtollte, „daß du nicht in den Fluß fällst."

Da brach die Hölle aus dem Rio Sandino hervor.

Das Wasser rauschte, und kreischend brach ein Schatten über das Boot herein und fegte Fillipos Vater in das Wasser.

Als Fillipo sich das Wasser aus den Augen gewischt hatte, sah er den Vater im Fluß treiben. Er schien verletzt zu sein, denn er schwamm ziellos im Kreis, und Fillipo griff zum Ruder, um seinem Vater entgegenzurudern. Da sah er den grünen alten Mann.

Mit der Geschwindigkeit eines Bootes, welches von mehreren Männern gerudert wurde, jagte das mehr als sechs Meter lange Krokodil mit weit aufgerissenem Rachen auf den im Wasser treibenden Mann zu. Fillipo schloß entsetzt die Augen, aber er hörte trotzdem das Geräusch splitternder und brechender Knochen, doch keinen Schrei, als der grüne alte Mann seine mächtigen Kiefer schloß. Als Fillipo die Augen zögernd wieder öffnete, sah er gerade noch, wie das Tier den schlaffen Körper seines Vaters im Maul, sich einmal um die eigene Achse drehte, ehe er dem dunklen Grund des Rio Sandino zustrebte, von dem es kein zurück gab, für Lebewesen, welche nicht dorthin gehörten. „Fillipo?" erklang eine Stimme, und eine Gestalt schob sich aus dem abendlichen Schatten in das schwache Licht des glimmenden Feuers auf den Vorplatz der Hütte.

Es war Hernando, ein alter und sehr kluger Indio, der sogar schon einmal die großen Städte der Weißen am Amazonas gesehen hatte. „Ich möchte dich in deinem Schmerz nicht stören, Fillipo", sagte Hernando leise und ließ sich ihm gegenüber nieder, „aber der Häuptling erzählte mir, daß du Gefahr läufst, dein Leben zu verlieren, wenn du dich auf unkluge Weise an dem grünen alten Mann rächen willst."

„Er hat meinen Vater getötet", sagte Fillipo entschieden, „und ich werde ihn töten. „Er hat schon viele von uns getötet", meinte Hernando, „aber noch keinem von uns ist es gelungen, ihn zu töten, denn er ist stark und sehr klug."

Sie redeten noch lange über den grünen alten Mann und Fillipo's Vater. Der Mond stand schon hoch am Himmel, als Hernando zu seiner Hütte ging. Auch Fillipo begab sich in das Innere der Hütte, welche sein Vater einmal gebaut hatte. Seine Mutter und seine Schwester schliefen schon. Der Rachegedanke verfolgte den jugendlichen Indio noch im Schlaf. Er träumte, wie der grüne alte Mann gelassen an der Oberfläche des Rio Sandino trieb, während Fillipo aus dem langen Blasrohr seines Vaters die giftigen Pfeile auf ihn abschoß, welche wirkungslos an seinem Panzer abprallten. Fillipo gab sich im Traum große Mühe, die ungeschützten Augen oder vielleicht sogar das offene Maul zu treffen, aber es war vergebens.

Der grüne alte Mann schien zu ahnen, wann Fillipo eine besonders günstige Schußposition einge- nommen hatte und dreht ihm mit dann mit aufreizender Gelassenheit seinen gepanzerten Rücken zu. Es gab aber einen Menschen der dem grünen Alten gefährlich werden konnte, das war Padre Manolo, der in unregelmäßigen Abständen das kleine Dorf am Rio Sandino besuchte.

Der Padre besaß ein Gewehr, und dieser Waffe war selbst der Panzer des grünen alten Mannes nicht gewachsen. Aber die Echse schien zu ahnen, wann der Padre im Dorf war und ließ sich in dieser Zeit auch nicht für einen Augenblick sehen.

Außerdem wollte Fillipo keinen anderen Menschen und selbst den Padre nicht beauftragen, sich für seinen Vater zu rächen. Das blieb allein seine Aufgabe.
Plötzlich hatte er aber eine Idee, wie er mit List den grünen alten Mann töten konnte; mit einer List, der selbst der Panzer der großen alten Echse nicht gewachsen war. Er wußte jetzt, daß der grüne alte Mann den kommenden Tag nicht überleben würde.

Mit der Morgendämmerung erhob sich Fillipo von seiner Matte und verließ leise die Hütte. Wie ein Schatten tauchte er in das Grün des Waldes ein.

Fillipo war ein gelehriger Schüler seines Vater gewesen und zu einem geschickten Jäger geworden. Daher dauerte es auch gar nicht lange, bis er mit einem Schuß aus seinem Blasrohr ein kräftiges Wasserschwein erlegt hatte. Er brach das Tier an Ort und Stelle auf, entfernte die Innereien und ver- steckte in dem Hohlraum eine Handvoll seiner kleinen Giftpfeile. Mit einigen dünnen Lianen band er den Körper wieder zusammen, warf ihn sich auf die Schulter und ging zum Rio Sandino, wo auf einer Sandbank in der Mitte des Flusses zu dieser Zeit immer der grüne alte Mann ruhte.

Mit gelassener Neugier sah die Echse dem am Ufer auftauchenden jungen Indio entgegen, der, weit ausholend, das tote Schwein in das Wasser warf.

Eine Weile heuchelte der grüne alte Mann geringes Interesse, aber dann ließ er sich träge auf den Kadaver zutreiben, packte ihn und verschwand damit auf den Grund des Flusses. Fillipo brauchte nicht lange zu warten, schon wenig später begann der reglose Körper in dem spru- delnden Wasser des Rio Sandino an die Oberfläche zu steigen und trieb, mit dem hellen Bauch nach oben, reglos auf dem Fluß.

Einen Augenblick war Fillipo erschrocken über die Größe der Echse, die ihm erst jetzt, wo das Tier so reglos auf dem Wasser trieb, offenbar wurde. Dann wandte er sich ab und ging gemessenen Schrittes, wie es einem erfolgreichen Jäger zukam, zum Dorf zurück.

Vor dem Haus des Häuptlings angekommen, hob er leicht die Hand zum Gruß und sagte mit ruhiger Stimme: „Ich habe meinen Vater gerächt, Häuptling. Der grüne alte Mann wird keinen tapferen Jäger mehr auf den Grund des Rio Sandino holen."

Schweigend machte er kehrt und ging auf seine Hütte zu, vor der schon seine Mutter mit der kleinen Schwester auf dem Arm wartete.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.01.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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