Petra Virbinskis

Acht Jahre des Schweigens

Wie durch eine Nebelwand hörte Sie die Stimme ihrer Schwester.. "Wach auf, ... er will mit mir bumsen... " Die Stimme klang ängstlich doch Sie hatte alle Mühe, zu Verstehen, was ihre kleine Schwester da sagte. Noch einmal drang es an ihr Ohr... "Wach auf... , wach doch auf !!! " Langsam wich der Schlaf aus ihrem Körper, aber sie verstand noch immer nicht. "Was ist los?" hörte Sie ihre Stimme fragen. "Was sagst du da?" Wieder hörte sie den Satz, der ihr Blut in den Adern gefrieren zu lassen drohte.... "Er will mit mir bumsen. Dein Mann will mit mir..."
Nein. Das konnte nicht stimmen, was sie da hörte. Ihre Schwester war doch gerade mal 13 Jahre alt. Noch überhaupt nicht fraulich entwickelt. Dünn, mager und mit einer kindlich, knabenhaften Figur. Er stand doch mehr auf rundlichere Frauen, griffig und mit weiblicher Figur, genauso, wie sie es war... Nein. Das musste ihre Schwester nur geträumt haben... Sie drehte ihren Kopf langsam zur Seite, um sich zu vergewissern, daß Er neben ihr liegt. Sie sah die kleine 3 jährige Tochter in der Mitte des Bettes ... und da lag Er. --- Schlafend, schnarchend. Das hatte ihre Schwester sicher nur geträumt. Langsam stand sie auf und ging in die Küche, gefolgt von ihrer Schwester. "Erzähl doch mal, was passiert ist", fragte Sie nun nach, aber Sie wollte es eigentlich gar nicht wissen, denn wenn es stimmen sollte, was Sie da zu hören bekam, dann müssen Konsequenzen daraus erfolgen... Aber was sollte Sie tun? Jedem Anderen, dem so etwas passiert wäre, würde Sie raten, sich sofort von dem Typen zu trennen, der so etwas macht. Das war ja wohl das Letzte in ihren Augen und unverzeihlich...... sich an Kindern zu vergreifen...!!! Aber Er war ihr Mann und sie liebte ihn mit jeder Faser ihres Herzens. Es durfte einfach nicht stimmen. Es durfte nicht....Die Schwester fing an zu erzählen. Jedes kleinste Detail erzählte sie. Daß er sich an ihr gerieben hatte und sie dann eine weiße Flüssigkeit auf ihrem Bauch spürte...Daß sie Angst hatte und nicht weglaufen mochte, denn es war ja ihr Schwager und sie hatte ihn doch so gern... Daß sie einfach nur so dalag und sich nicht wehren konnte und hoffte, es würde bald vorbei sein. Nein! Eingedrungen war er nicht in sie, aber die Angst, dass er es tun könnte war so groß... Daß sie sich hinterher gewaschen hatte und darauf wartete, dass Er endlich einschlief, damit sie es ihrer großen Schwester sagen könne...
Wie in Trance ging Sie ins Badezimmer und fühlte an der Seife, Die war trocken, also musste die Schwester das alles nur geträumt haben. Sie musste einfach. Etwas anderes zu glauben, konnte Sie nicht zulassen. Trotzdem weckte Sie ihren Mann und stellte ihn zur Rede. Verschlafen kam Er mit in die Küche und hörte sich ruhig an, was gegen ihn vorgebracht wurde. Alles was er dazu sagte war." Ich habe geschlafen, ich weiß davon nichts".
Er weiß davon nichts? Er wurde nicht wütend sondern ging ganz ruhig wieder ins Bett und schlief weiter. Ja, so musste es gewesen sein. Die Kleine hatte das alles nur geträumt. Nur zu gern wollte Sie es so glauben. Sich nicht damit auseinander setzen müssen, es einfach als einen Traum abtun. Das war nicht so schmerzhaft, wie die Tatsache, dass Sie sich mit dem Thema "Kindesmissbrauch" auseinandersetzen musste. Und schon gar nicht der eigene Mann! Der tut so etwas nicht. .....Der darf so etwas nicht tun.
Den Rest der Nacht vermochte sie nicht mehr zu schlafen. Zu viele Gedanken kreisten in ihrem Kopf umher. Wenn es stimmen sollte, dann müsste Sie sich von ihm trennen, aber sie hatten doch gerade erst geheiratet? Die kleine glückliche Familie würde dann auseinander brechen... Nein! Wegwischen, was Sie gerade erlebt hat.... einfach wegwischen.

Es verging einige Zeit, in der Sie ihre kleine Schwester nur schwer ertragen konnte. Sie war froh, dass der Kontakt nicht so häufig war, doch wenn sie sich mal trafen, dann konnte Sie die Kleine nicht in den Arm nehmen und Sie konnte ihr keine Herzlichkeit entgegenbringen, auch wenn Sie sich noch so sehr bemühte.

Dann kam ihr Krankenhausaufenthalt. Die Mutter kam zu Besuch und kurz bevor sie ging sprach sie:" ... Du, deine Schwester hat mir da was erzählt... Dein Mann hat sexuelle Spiele mit ihr getrieben". Alles fing an sich zu drehen, Ihr Bett... das Krankenzimmer.... Jetzt zum Gegenangriff, dachte Sie nur, doch dann kam heraus, dass es während der Zeit ihres Krankenhausaufenthaltes war. Ihr stockte der Atem. Was hatte ihre kleine Schwester denn bei Ihr zu Hause zu suchen??? "Wieso hat sie denn bei uns geschlafen"? fragte Sie ihre Mutter. "na ja, du weißt doch. Dein Mann muß arbeiten und deine Schwester hat dann auf die Kleine aufgepasst". antwortete die Mutter. "Ist da was dran"? Welch eine Frage. Woher sollte Sie denn wissen können, was zu Hause passierte.... und so fing Sie an, der Mutter genau das zu erzählen, was Sie sich selber seit Monaten versuchte einzureden. Nämlich, dass die kleine Schwester wohl eine etwas zu rege Fantasie hat und das alles nur geträumt haben konnte. Die Mutter verabschiedete sich mit den Worten:" Rede mit deinem Mann darüber" und ging. Ihr war schlecht. Am liebsten wäre Sie jetzt sofort zu ihrem Mann gefahren, um ihn zur Rede zu stellen, aber Sie war ja im Krankenhaus. Zudem hatte Sie eine Drainage im Bauch und konnte einfach nicht weg. Sie wälzte sich in dem Bett hin und her und ihre Gedanken schlugen Purzelbäume. Trennung!!! Nein! Keine Trennung, Sie liebt ihn doch... Aber wenn er so was macht, was macht er dann eines Tages mit der eigenen Tochter? Nein!!! Alles Quatsch. So etwas würde er nie machen und schon gar nicht bei seiner geliebten Tochter... Aber was ist, wenn doch....? Vergessen!!! Sie will das Alles nur vergessen. Es tut so weh, darüber nachzudenken. Es tut sooo weh....

Acht Jahre hat Sie noch mit Ihrem Mann zusammen verbracht. Acht lange Jahre, in denen Sie niemals Ihre Kinder aus den Augen ließ. Wenn Er auch nur einige Minuten länger brauchte um gute Nacht zu sagen, dann stand Sie schon hinter ihm. Acht Jahre, in denen Sie niemals Ihren Mann mit den Kindern allein zu Hause ließ und wenn Sie ins Krankenhaus ging, sorgte Sie immer dafür, dass die Kinder woanders untergebracht waren. Acht Jahre lang nagte die Gewissheit an Ihrem Bewusstsein, dass Er damals Ihre kleine Schwester missbrauchte. Acht Jahre lang wehrte Sie sich gegen diesen Gedanken, doch er verschwand nie. Acht Jahre lang konnte Sie keine tiefe Beziehung mehr zu Ihrer Schwester aufbauen und es tat Ihr im Herzen weh, denn Sie wusste doch, dass nicht Ihre Schwester etwas falsch gemacht hatte, sondern Ihr Mann... Acht Jahre lang schlief sie nachts nicht richtig, aus lauter Angst, Er könnte mit den Kindern dasselbe machen, wie mit Ihrer Schwester damals. Acht Jahre, in denen die Liebe zu ihrem Mann starb. Acht lange Jahre, in denen Sie ihrer Schwester nicht glauben konnte und doch wusste Sie, dass ihre Schwester nicht gelogen hatte. Acht Jahre des Schweigens...
Auch wenn Sie sich nach diesen acht langen Jahren mit ihrer Schwester ausgesprochen hat, so weiß Sie doch, dass Sie sich, ihrer Schwester gegenüber, nicht richtig verhielt. Sie hatte ihr nicht geglaubt, weil Sie es nicht glauben wollte und nicht glauben konnte. Sie wird mit dieser schweren Last leben müssen. Mit der Gewissheit, an dem mangelndem Selbstwertgefühl ihrer kleinen Schwester mitschuldig zu sein... Aber Sie liebte und liebt doch ihre Schwester...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.05.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Meine Gedanken bewegen sich frei von Andreas Arbesleitner



Andreas ist seit seiner frühesten Kindheit mit einer schweren unheilbaren Krankheit konfrontiert und musste den größten Teil seines Lebens in Betreuungseinrichtungen verbringen..Das Aufschreiben seiner Geschichte ist für Andreas ein Weg etwas Sichtbares zu hinterlassen. Für alle, die im Sozialbereich tätig sind, ist es eine authentische und aufschlussreiche Beschreibung aus der Sicht eines Betroffenen.

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