Karl-Heinz Fricke

Der Christbaum

Schon lange hatte Bernhard ein Auge auf ihn geworfen. Bei einem Sonntagsspaziergang im Sommer fiel ihm der gerade und volle Wuchs auf. Die grünen Zweige waren ringsherum gleichmäßig lang. Da dachte Bernhard den kleinen Tannenbaum im Dezember abzusägen. Es sollte eine Überraschung für die Familie werden. So einen schönen ebenmäßigen Christbaum hatte der Baumhändler nicht anzubieten. Schön geschmückt würde er das diesjährige Weihnachtsfest zu einem besonderen Ereignis machen. Eine schönere Tanne hatte noch nie in der Stuibe gestanden.  Bernhard hütete sein Geheimnis wie einen Diamant. Mit den Augen maß er die Höhe und Breite des Bäumchens. Er würde sich gut neben der alten Standuhr ausmachen.
 
Während des  Sommers und Herbstes führten Bernhards Schritte wieder und wieder zum Standort seines Traumbaumes. Irgendwie tat es ihm leid  das so schöne Gewächs für nur eine kurze Zeit von seinen Wurzeln zu trennen. Wenn es viel Schnee geben sollte, dann könnte es möglich sein, dass der Baum nicht leicht wiederzufinden sei. Bernhard merkte sich deshalb eine alte Birke, die schräg neben einer großen Fichte stand. Seine Befürchtung war es, dass sich ein anderer Liebhaber schon für den Baum interessiert hatte. Glücklicherweise befand sich das Bäumchen in einem Waldstück des Reviers, das der Förster zum Schlagen von Weihnachtsbäumen freigegeben hatte.
 
Der Winter ließ lange auf sich warten. Normalerweise lag im Norden der kanadischen Provinz Manitobas schon nach der zweiten Oktoberwoche hoher Schnee. In diesem Jahre hatten viele Laubbäume noch ihr braungelbes Kleid. Die Eichhörnchen sprangen noch munter von Ast zu Ast, und schienen nicht daran zu denken, ihren Wintervorrat anzulegen. Kurz nachdem man das letzte Oktoberblatt vom Kalender abgerissen hatte, trat jedoch eine schlagartige Wetterveränderung ein. Der Winter hatte sich besonnen, dass er in den nördlichen Regionen des Erdballs ein Recht hatte, dem Herbst ein großes Stück zu stehlen, um sein grimmes Regiment anzutreten. Schneevögel flogen in großen Schwärmen von Baum zu Baum und Strauch zu Strauch.
Sie gelten von altersher als sicheres Zeichen für den ersten Schnee. Die alten Leute spürten es auch in den Knochen.
 
Als die Menschen der kleinen Stadt am Morgen des 5. Novembers aufstanden und sich noch verschlafen die Augen rieben, rief der kleine Martin: "Es schneit, es schneit!" Tatsächlich, 20 Zentimeter des weißen Wunders bedeckten den Grund und wie es schien, würde es den ganzen Tag über weiterschneien. Die Wolken hingen tief und die Sicht war beschränkt.  Der Schneepflug fuhr geschäftig auf der Straße hin und her, große Schneemassen vor sich herschiebend. Bernhard dachte an "seinen "Baum. Er stellte sich vor, wie schön er in seinem weißen Kleide aussehen würde.
 
Bereits drei Wochen vor den Festtagen hatte der Baumhändler seinen Hof mit Weihnachtsbäumen vollgestellt. Ein Gehilfe war damit beschäftigt die schönsten Seiten der Bäume ins Blickfeld der Kunden zu rücken. Bernhard, der gerade an dieser Ausstellung vorbeiging, lächelte vor sich hin. Sein Bäumchen sah von allen Seiten wunderschön aus, und nicht eine der ausgestellten Tannen konnte sich mit der seinen messen, die ihm zudem nicht einen Cent kosten würde.
 
Am 24. Dezember war es endlich soweit. Nach alter Tradition in Bernhards Familie wollte er den Baum erst kurz vor der Bescherung aufstellen und schmücken. Die Kinder hatten sich schon darüber gewundert, dass der Vater, wie in den Vorjahren, noch keinen Baum gekauft hatte. Als er sich dann auf den Weg machte, wussten seine Lieben, dass er mit einem Baum zurückkehren würde. Auf dem Wege zum Walde waren die Straßenseiten von hohen Schneewehen umgeben, die der Schneepflug aufgetürmt hatte. Mit großer Mühe kletterte Bernhard darüber hinweg. Unter den Bäumen versank er augenblicklich bis zum Bauch im losen Schnee. Mühsam kämpfte er sich vorwärts und hoffte inbrünstig den Baum zu finden. Mit dem Schnee auf den Baumästen und einem Nebeldunst sah alles ganz anders aus als im Sommer. Schließlich sah er die alte Birke. Der Herbstwind musste sie umgeblasen haben. Sie lehnte wie entwurzelt gegen die große Fichte. Einige Schritte rechts davon stand das Bäumchen. Nur etwa 60 Zentimeter ragte es aus dem Schnee heraus. Es dauerte eineWeile bis Bernhard ringsum den Schnee vom Stamm entfernt hatte und seine Bogensäge zum Schnitt ansetzen konnte. Ritsch, ratsch machte die Säge. Sie verklemmte sich einige Male in dem hartgefrorenen Stamm. Schließlich verabschiedete sich das Bäumchen mit einem leisen Aufächzen von seinen Wurzeln. Es war Bernhard zumute als hätte er gerade ein Lebewesen getötet. Nachdem er sich ein wenig verschnauft hatte, ergriff er seinen Traumbaum am abgesägten Ende und es hinter sich herziehend, stapfte er in seiner tiefen Schneespur zur Straße zurück. Obwohl es erst kurz nach 15:00 Uhr war, begann schon die Dämmerung. Durchgefroren kam er nach Hause. Im Hof schüttelte er den restlichen Schnee von den Zweigen. Die Zeit war gekommen seinen schwer erkämpften Preis neben der alten Uhr aufzustellen und zu schmücken. Das Feuer im alten Kanonenofen strömte eine wohltuende Wärme aus, und nicht nur Bernhard, sondern auch der Baum begannen aufzutauen. Plötzlich verbreitete sich ein ätzender Gestank in der Stube, der nicht im geringsten etwas mit dem Duft  von frischem Tannengrün gemeinsam hatte. Je wärmer es wurde, desto stärker wurde der üble Geruch. Bernhard standen Tränen in den Augen. Der Traumbaum musste raus. Schweren Herzens machte er sich daran die noch wenigen Ornamente wieder abzunehmen. Manchmal hielt er sich dabei die Nase zu. Dann schnappte er den Baum und warf ihn wütend auf den Hof. Ein Skunk hatte den Baum besprüht.
 
Guter Rat war nun teuer. Es war stockdunkel draußen. Frau und Kinder wurden bereits ungeduldig in der Küche. Wo sollte er noch schnell einen Baum hernehmen. Er besann sich auf den Baumhändler, dessen Bäume er vor einigen Wochen belächelt hatte. Hoffentlich war das Geschäft noch auf. Er lief so schnell er konnte. Als er ankam, war man gerade dabei das große Eisentor zu schließen. "He", rief Bernard, "ich brauche einen Baum!"  Der Händler sah ihn an und knurrte: "Noch einer, der in letzter Minute einen Baum braucht, gerade als ständen die Bäume erst seit heute auf meinem Hof!" Es waren nur noch wenige Bäume übrig geblieben. Besser gesagt, es waren die Krücken, die niemand wollte. Noch immer schockiert suchte sich Bernhard einen aus, der ein ganz wenig besser aussah als der Rest. Er war durchaus keine Schönheit, und wehmütig dachte er an seinen Traumbaum.. Er drehte die Krücke nach allen Seiten und konnte sich nicht entschließen, an welcher Seite er am besten aussah. Der Händler drängte auf Verkauf. Er hatte sein Geschäft bereits gemacht. Er bot Bernhard ein paar Äste von den anderen Krücken an, damit er die Mängel ein wenig vertuschen konnte. Dann gab er Bernhard den guten Rat im kommenden Jahr rechtzeitig einen Baum zu kaufen. Bernhard nickte nur.
 
Als er nach Hause kam, wartete seine Familie schon auf ihn. Warum kam er erst jetzt ?War er vielleicht im Wirtshaus? Das war doch gar nicht seine Art. Verwundert sahen sie auf den spindeldürren Christbaum. Was eigentlich geschehen war, erzählte er nicht. Die Familie hatte ja nicht bemerkt was mit dem Bäumchen geschehen war, obwohl der  Übelgeruch noch leicht spürbar war. Es wurde allerhöchste Zeit mit der Feier des Heiligen Abends zu beginnen. Die ganze Familie half nun mit die pflanzliche Mißgeburt einigermaßen zurecht zu machen und zu behängen. Mit Lametta, Kugeln, Engelhaar und Kerzen gelang es dann doch noch ein wenig Schönheit vorzutäuschen. So wurde es ein besonderes Weihnachtsfest für Bernhard, der dieses allerdings nie vergaß. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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