Silvia Pree

Stille Nacht, einsame Nacht

Stille Nacht, einsame Nacht...
 
Alice Berger steht von ihrem Schreibtisch in der Firma auf.
Es ist Heilig Abend.
Kurz nach Mittag.
Kollege Meier prustet ihr mit einem Glaserl Punsch zu.
Willst du schon gehen?
Ich hol dir noch ein Häferl aus der Küche!!
Herr Meier hat das Jacket ausgezogen und seine Krawatte sitzt schief.
Alice Berger lächelt mechanisch.
Nein, danke.
Ich muss schauen, dass ich heimkomme.
Meier hakt nach.
Willst du wirklich nicht Heilig Abend bei mir und Betty verbringen, hmmm?
Meiers Augen sind schon ein bisschen glasig.
Aber er lächelt verschmitzt.
...dass dir die Decke nicht auf den Kopf fällt...
Komm schon, Alice.
Betty freut sich, wenn du kommst...
Alice Berger sieht ihrem Kollegen nicht ins Gesicht.
Ihr Gesichtsausdruck straft ihren hellen Tonfall Lügen.
Aber geh, ist doch gar nicht nötig.
Heute hab ich so wie so noch so viel zu tun.
Und morgen fahr ich zu meinem Bruder und da feiern ma ein bissl.
Grüß mir die Betty, ja?
Ihre traurigen Augen versteckt sie hinter ihrer Brille.
Kollege Meier küsst Frau Berger auf die Wangen.
Na, wennst meinst.
Aber falls du es dir überlegst, ruf an...
Fröhliche Weihnachten!
Sie riecht den Punsch sehr intensiv.

Frau Berger zieht ihre Jacke an.
Nimmt die Handschuhe und die Autoschlüssel.
Sie verabschiedet sich noch in den Nachbarbüros.
Im Lift fällt das falsche Lächeln von ihr ab wie eine Maske.
Sie verlässt die Firma langsamen Schritts.
Einmal dreht sie sich um und betrachtet das hohe Bürogebäude.
Dann geht sie weiter.
Vor der Kreuzung parkt ihr Auto.
Ihr dunkler Opel ist wie die meisten Autos voller Matschspitzer.
Letzte Woche hatte es ja geschneit.
Er müsste gewaschen werden.
Ihre Gedanken schweifen.
Mit einem seltsamen Gefühl der Leere.
Sicher lenkt sie das Auto aus der Einbahn.
Wenige Minuten später ist sie auf der Stadtautobahn.
Heiliger Abend.
Wenig Verkehr auf den Straßen.
Ein Radio-Moderator versucht weihnachtliche Stimmung zu verbreiten.
Chris Rea singt
Driving Home for Chrismas...

Unnötig energisch dreht Alice Berger das Radio ab.
In ihren Augen schwimmen Tränen.
Dietmar.
Acht Jahre waren sie verheiratet gewesen.
Über zwölf Jahre beisammen.
Anfangs hatte sie ihn heiß und leidenschaftlich geliebt.
Schließlich war er ihr wichtig und vertraut gewesen.
Wie es nach über zwölf Jahren nur möglich ist.
So wichtig...
Ob sie ihm das zu selten gesagt hatte?
Es ihn zu wenig fühlen hatte lassen?
Sie wollte die rechte Hand des Chefs werden.
Und dafür war viel Zeit nötig.
Schließlich holte sich der Chef nicht nur eine jüngere Kraft für den Posten.
Dietmar war auch irgendwann weg gewesen.
Du brauchst mich nicht.
Hatte er gesagt.
Du brauchst nur Erfolg.
Anfangs hatte sie geglaubt.
Sie würde schon drüber hinwegkommen.
Aber es war unmöglich.
Unmöglich seit dem letzten Sommer.
Als sie ihn nach mehr als einem Jahr wieder sah.
An der Seite einer Frau.
Die offensichtlich sein Kind unter dem Herzen trug.
Das Kind, das sie ihm nicht schenken konnte.
Nicht wollte.
Karriere ist so wichtig…
Oder doch nicht?
 
Langsam fährt Alice Berger mit dem Auto in den Hof.
Parkt ganz  vorne, nimmt ihre Handtasche.
Das Handy piepst.
Eine SMS von Meier.
Du bist jederzeit willkommen...
Frau Berger riecht wieder den Punsch.
Bedächtig geht sie in den Wohnblock.
Schritt um Schritt setzt sie den Fuß auf die Treppe.
Im zweiten Stock ist ihre Wohnung.
Eine Nachbarin grüßt und wünscht ein Frohes Fest.
Frau Berger trägt wieder die Maske.
Möchten Sie nicht abends auf ein Stück Kuchen zu uns kommen?
Wie würden uns freuen.
Die Nachbarin strahlt.
Ihre ganze Gestik ist Einladung.
Das ist aber lie.
Aber meine Schwester kommt.
Ein anders Mal gern.
Frau Berger hört sich zu.
Als würde eine fremde Person sprechen.
In der Wohnung hängt kalter Zigarettenrauch.
Frau Berger sperrt die Tür hinter sich zu.
Sie dreht das Licht auf und hängt die Jacke an die Garderobe.
Im Wohnzimmer sitzt sie sich an den Tisch.
Sie blickt an die Decke.
Wie so oft sieht sie den Haken.
An dem Dietmar vor Jahren einen Blumentopf befestigt hatte.
Efeu.
Sie hatte ihn abgenommen, als Dietmar gegangen war.
Wie so oft die letzte Zeit spürt Frau Berger wieder ihre Migräne.
Wieder blickt sie nach oben.
Der Haken sieht kalt und schwarz aus.
 
Stefan.
Stefan Schmidt.
Der neue Logistik-Chef.
So alt wie Dietmar, so groß und so dunkel.
Und sie konnte auf einmal wieder lächeln.
Nicht nur das.
Auch lachen.
Sie gingen essen, ins Kino.
Alles schien sich schön langsam zu entwickeln.
Bis zu seinen Worten.
Stefans Worten.
Du bist  echt ein lieber Kerl, aber nicht mein Typ.
Versteh das.
Worte wie ein Peitschenknall.
Wer interessierte sich denn noch für eine Frau von fast 41 Jahren!
Wo doch so viele Junge rumlaufen...
Der Schmerz fraß sich wie ein Geschwür in ihre Seele.
In der Zeit fiel ihr das erste Mal wieder der Haken auf....
Frau Berger geht zum TV-Gerät und schaltet es ein.
Sie möchte ihre Gedanken nicht so laut hören.

Peter Rapp moderiert „Licht ins Dunkel“.
Frau Berger sieht nicht zu.
Sie sieht nur mehr den Haken an der Decke.
Ihre Hand greift nach der Zigarettenschachtel.
Der weiße Rauch füllt ihre Lungen bevor sie ihn wieder ausatmet.
Peter Rapp stellt einen Prominenten vor.
Sie hört seine Stimme nicht.
Sie hört nur noch ihre Gedanken.
Zitternd dreht sie ihre halbgerauchte Zigarette aus.
Was hält sie noch?
Stunden später läuft noch immer das Fernsehen.
Der Chor der Wiener Sängerknaben singt in einer Einspielung Stille Nacht.
Fast im Takt dazu bewegt sich der dunkle Schatten.
Der von der Decke hängt.
Und auf den Boden fällt.
Stille Nacht, Heilige Nacht...
Der Sessel darunter liegt auf dem Boden.
Umgekippt, wie um getreten.
Und der Schatten bewegt sich.
Sachte.
Hin und her.
Stille Nacht, Heilige Nacht.

Stille Nacht, einsame Nacht...
 
Vivienne
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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