Carrie Winter

Ticket to Heaven

Sie wusste selbst nicht mehr, was los war. Sie hätte glücklich sein müssen. Sie konnte sich daran erinnern, dass sie erst vor ein paar Minuten noch Gefühle der Freude empfunden hatte. Und jetzt saß sie nur noch da, starrte an die Wand und fragte sich, wie lange ihre Eltern wohl noch weg sein würden. In ihrem Kopf formte sich eine undeutliche Antwort, die sagte, dass die Zeit nicht reichen würde. Trotzdem ließ sie es zu, dass der Gedanke sich fortsetzte. Eine Rasierklinge, warmes Wasser, Musik, Kerzen... Der Tod einer heiligen Sünderin. Ihre Lippen formten sich zu einem kleinen Lächeln, als sie das Bild vor sich sah. Im nächsten Moment zuckte sie zurück. Ihr Herz klopfte heftig und ihre Hände zitterten. Was war gerade geschehen? Sie hatte sich selbst gesehen, wie sie leblos in einer Badewanne voller Blut lag... Und sie hatte es schön gefunden. Warum? War sie wirklich so weit, dass sie sterben wollte? Sie konnte es nicht glauben. Welchen Grund hatte sie denn, nicht mehr am Leben zu bleiben? Es war alles in Ordnung. Natürlich gab es ab und zu Probleme. Aber das war vollkommen normal. Es konnte nicht immer alles perfekt laufen. Deswegen musste man doch nicht gleich an Selbstmord denken! Das war wirklich übertrieben! Allerdings war es doch auch merkwürdig, sich grundlos töten zu wollen. Das taten Verrückte. Aber nicht sie. Sie war gesund. Ihr Verstand funktionierte ausgezeichnet. Ihre Psyche hatte keinen Schaden. Oder etwa doch? Vielleicht hatte sie es nur noch nicht gemerkt. Vermutlich war sie schon seit Monaten vollkommen gestört und sie hatte es nur nicht bemerkt. Aber wäre es dann nicht anderen Menschen aufgefallen? Zum Beispiel ihren Freunden? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Im Grunde genommen spielte es keine Rolle mehr. Ohne es wirklich wahr zu nehmen, war sie ins Badezimmer gegangen und hatte das Wasser angestellt. Es plätscherte in die weiße Badwanne, auf deren Rand eine Rasierklinge lag. Sie setzte einen Fuß hinein und wartete. Nichts passierte. Der zweite Fuß folgte. Immer noch nichts. Ihr Blick glitt zum Spiegel. Ein blondes Mädchen mit kalkweißer Haut starrte sie aus großen, entsetzten Augen an. Die Lippen zitterten, während langsam Tränen an den Wangen hinunter rollten. Nachdenklich legte sie den Kopf schief. Das Mädchen im Spiegel tat dasselbe. Es war wie in einem schlechten Horrorfilm. Man sah in den Spiegel und erblickte Jemand anders. Sie wandte sich davon ab und setzte sich in das Wasser, das schon bis zum Wannenrand gestiegen war. Aus ihrem Zimmer dröhnte Musik herunter. Leise sang sie mit: „I`m not supposed to be scared of anything... But I don`t know where I am… I wish that I could move but I´m exhausted and nobody understands… I`m trying hard to breathe now but there`s no air in my lungs… There`s noone here to talk to and the pain inside is making me numb… I try to hold this under control… They can`t help me… Cause noone knows…” Sie ließ sich zurück fallen. Ihr Kopf schlug gegen den Marmor und eine Welle von Schmerzen durchzuckte ihn. Köstliche, lebendige Schmerzen, die sich den Weg durch ihren Körper suchten und jede Stelle beherrschten, die einst ihr gehört hatte. Die Rasierklinge glitzerte in der Dunkelheit ihres Blickes wie ein Stern. Ein scharfer, explodierender Stern. Die Haut an ihren Handgelenken öffnete sich und überschwemmte sie mit dem, was ihr Lebenssaft sein sollte. Eine dunkelrote, fast schon schwarze, Flüssigkeit, die langsam über ihre Haut kroch und in das Wasser hinab stürzte. Sie schloss die Augen. Sie fühlte sich wunderbar schwerelos. Als wäre ihr Körper mit Helium gefühlt. Sie schwebte hinauf, zu weißen Zuckerwattewolken, in denen man versinken konnte und nie mehr heraus kommen musste. Fasziniert lauschte sie dem Pochen ihres Herzens, das den Himmel erfüllte. Sie wusste, wenn es nicht mehr zu hören war, durfte sie für alle Ewigkeit hier bleiben. Es wurde langsamer, leiser, leichter... Ein Schrei. Sie fiel und fiel immer tiefer, wollte sich festhalten, um sie herum war nur Leere. Sie erreichte den Boden, ihr Körper brach auf einer Matratze zusammen. Sie spürte Schmerzen. Unendliche Schmerzen. Die Hölle brannte in ihr. Irgendetwas durchzuckte immer wieder ihr tiefstes Inneres von außen. Sie wollte weg davon, zurück zu ihrem Paradies rennen. Aber sie konnte sich nicht bewegen. Es war zu spät. Ihr Herz schlug. Schlug sie zu Boden, hämmerte sie fest.
„Sie ist wieder da.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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