Alejandro Cortez-Golenia

In jenen Wäldern

Und wieder lief ich den Flur hinunter. Aus allen Ecken
hörte ich sie schreien und rufen. Es war widerlich. Ich habe mich selten in
meinem Leben so unwohl gefühlt wie hier.
Der Gang runter nahm jedes Mal
kein Ende, und jedes Mal scheint er länger zu werden. So viele Türen zu allen
Seiten. An einigen kleben sie mit den Gesichtern an den Scheiben. Völlig bizarr
wirkende Menschen. Alles Karikaturen ihrer selbst.
Das Licht flutete grell und kalt
den gesamten Flur. Die Schwester eilte in kleinen, schnellen Schritten mit mir
den Gang hinunter. Ich hörte wie immer ihren Schlüsselbund bei jedem ihrer
Schritte klirren.
Schließlich kamen wir doch an.
Die stämmige Frau warf einen kurzen Blick durch das Fenster in die Zelle bevor
sie die schwere Tür aufschloss. Ich schielte ihr über die Schulter, Casey saß
mit angezogenen Knien auf dem Bett und wippte langsam vor und zurück. Sein
leerer Blick fiel starr auf die Wand vor sich. Ich mochte nicht rein gehen.
„Er hat noch nicht seine Pillen
bekommen. Wenn es also Probleme geben sollte, sofort klingeln“ erklärte sie mir
freundlich und ich willigte ein. Wir traten ein und Casey drehte langsam seinen
Kopf zu uns.
Der Junge, der dort völlig
apathisch zu uns blickte, hatte herzlichst wenig mit dem Casey gemeinsam, den
ich damals im Bus kennen gelernt hatte. Aus dem fröhlichen Jungen war nur noch
eine Hülle seiner selbst geworden.
Ich bemerkte wieder mit Entsetzen
wie trostlos diese Zelle war. Sterile Kachelwände, der Raum völlig leer bis auf
das bescheidene Bett und einem Stuhl in der Ecke. Bemitleidenswert hier
eingesperrt vegetieren zu müssen.
„Guck mal Casey, du hast Besuch.
Torrence ist wieder da!“ frohlockte die Schwester, Casey antwortete nicht. Er
schaukelte nur kontinuierlich weiter und blickte müde aus seinen einst so
strahlend blauen Augen zu uns hinüber. Heute hingen schwere Augenringe unter
seinen halb offenen Augen. Er muss seit Tagen nicht geschlafen haben, ging es
mir durch den Kopf.
„Ich komm gleich mit den Pillen.“
Flüsterte sie mir zu. „Wenn Sie fertig sind, klopfen sie gegen das Glas“
lächelte sie und verließ den Raum.
Ich schritt vorsichtig etwas
näher. Ich grüßte ihn. Er legte den Kopf schief auf seine Knie und beobachtete
mich wie ich mir den Stuhl griff und mich drauf setzte.
„Du kannst mit dem Stuhl auch
etwas näher rutschen“ schlug er vor. Ich zögerte, entschied mich aber dann doch
dazu und stellte ihn ihm direkte gegenüber. „Wie geht es dir?“ fragte ich und
ließ mich nervös auf dem Stuhl nieder. Er schnaufte verächtlicht. „Wonach sieht
das hier aus, Torrence?“ Künstlerpause. „Frage mich das nicht noch mal“ Ich
nickte betroffen. Was hatte ich mir nur gedacht?
Der schüchtern lächelnde Casey,
den ich einst kannte, war nur noch ein verängstigtes, kraftlos wirkendes Etwas.
Erschreckend.
„Gibt’s etwas neues?“ fragte er
mich nach einigen Sekunden des Schweigens. Ich räusperte mich, warum musste er
das jetzt schon fragen. „Leider ja.“ Er sah hoch. „Chantal... sie. Sie ist tot.
Heute morgen verstoben. Es tut mir leid, dass ich dir das sagen muss.“ Casey
fluchte und vergrub sein Gesicht zwischen seinen Knien. „Es war nicht zu
vermeiden, Casey. Es war sowieso ein Wunder, dass sie so lange überlebt hat.
Bei diesen Verletzungen...“ Casey schüttelte den Kopf. „Sie war meine letzte
Chance...“ seufzte er. Ich verspürte das Verlangen ihn zu trösten. „Bullshit,
Casey. Du kommst hier raus, das verspreche ich dir.“ Casey sah wieder hoch.
Sein Blick war nass. „Du siehst schon besser aus.“ Log ich. „Bald wirst du
wieder gesund sein und dann...“ „Ich bin gesund!“ fuhr er mich an. Ich
zuckte innerlich zusammen vor Schreck. „Ich weiß.“ Stimmte ich schnell zu.
Casey beruhigte sich wieder. „Ich kann´s nicht fassen, dass du mich auch für
verrückt hältst.“ Sagte er vorwurfsvoll. „Casey, ich halte dich nicht für
verrückt!“ erklärte ich ihm mit der einfühlsamsten Tonlage, die ich nur finden
konnte. „Es ist nur...“ ich suchte nach den richtigen Worten während er mich
erwartungsvoll ansah. „Wir haben schreckliches durchlebt. Und da ist es normal,
dass man danach... etwas... na ja.... verwirrt ist, aber das ist auch
gar nicht weiter schlimm!“ fügte ich schnell hinzu. Casey sah mich verzweifelt
an und schüttelte den Kopf. „Wie kannst du so etwas nur sagen? Wie kannst du
dich an nichts erinnern? Wie konntest du das alles nur vergessen?“„Casey, mein
Arzt sagt, dass posttraumatischer Gedächtnisverlust in solchen Fällen normal
sein kann. Mit etwas Glück werde ich mich bald wieder erinnern, was in den
Wäldern geschehen ist.“ Casey lachte hysterisch auf. „Glaube mir, das willst du
gar nicht!“ Er wurde schlagartig wieder ernst. Seine Augen wirkten ängstlich.
„Was ist mit ihnen? Wie konntest du sie vergessen?“
Ich mied seinen Blick. „Casey, da
war nichts in den Wäldern! Nichts, das musst du endlich begreifen!“ entgegnete
ich genervt. Casey funkelte mich düster an, sein Blick schien mir wahnsinnig.
„Aber eine ganze Busladung Menschen verschwindet nicht so einfach im Wald.“
Stellte er mit gesenkter Stimme fest. Ich war es leid. „Casey, verstehe doch
endlich: der Bus hatte einen Unfall. Das Funkgerät wurde beschädigt. Und wir
zogen durch die Wälder um ins nächste Dorf zu gelangen um von dort Hilfe zu
holen. Dabei müssen wir uns verirrt haben und irrten einige Tage ziellos
herum... So einfach ist es.“ Casey lächelte irre. „Also, du glaubst die Geschichte,
die dir die Polizei erzählt?“ Ich begann zu stottern. „Ja.“ Sagte ich
schließlich.
Casey schüttelte ungläubig und
sogar etwas verächtlich den Kopf. „Du machst dir das sehr einfach, oder?“ Ich
schwieg. „Warum, glaubst du hatten wir diesen Unfall?“ Casey sah mich
eindringlich an. Er antwortete selbst. „Weil wir eines von ihnen angefahren
hatten. Weißt du noch?“ Ich wehrte ab. „Wir hatten irgendetwas
angefahren und sind gegen den nächsten Baum gefahren, das konnte alles gewesen
sein! Ein Fuchs, ein Reh... Ja, daran erinnre ich mich noch!“ entgegnete ich.
„Es kroch zurück in den Wald.“ Casey bekam wieder den leeren Blick. „Ich
hab´s gesehen!“ flüsterte er. „Füchse oder Rehe kriechen nicht einfach
weiter, wenn sie von einem Bus überfahren werden! Füchse oder Rehe liegen dann
ermatscht auf dem Asphalt, aber sie kriechen nicht zurück in den Wald!“ Um
ruhig zu bleiben bis ich mir auf die Unterlippe. „Ich hab´s gesehen!“
wiederholte er.
Die Tür flog auf und die
Schwester und ein Mitarbeiter der Anstalt betraten das Zimmer. „So, Casey.
Deine Pillen, die helfen dir nachts ruhig durch zu schlafen. Mund auf!“ Casey
gehorchte und die Schwester warf ihm nacheinander drei bunte Pillen in den
Rachen. Jedes Mal reichte sie ihm ein Plastikbecher mit Wasser zum Nachspülen.
Anschließend lobte sie ihn wie ein kleines Kind und klopfte ihm stolz auf die
Schulter. „Das klappt ja immer besser!“ lächelte sie, dann gingen beide wieder.
„Dämliche Schnalle!“ schimpfte Casey und holte die Pillen
aus einer hinteren Ecke seiner Backe hervor. Ich war entsetzt. „Casey, die
musst du nehmen! Kein Wunder, dass es dir nicht besser geht!“ „Torrence, du
weißt so gut wie ich, dass mir diese Pillen nicht helfen, sondern mich einfach
nur pflegeleicht und debil machen. Ganz wie Marihuana, nur ohne Joint. Die
helfen einen Scheiß, das einzige was sie tun ist mich mundtot zu machen...“ Ich
beobachtete ihn entsetzt wie er die Pillen in einem hohlen Rohr an seinem Bett
verstaute. „Aber kein Wort zu dem Chinchilla.“
„Casey, was ist nur los mit dir?
Du erzählst einen Wahnsinn von irgendwelchen Wesen im Wald, leidest dadurch
hier in der Klapse, aber tust einen Dreck um hier wieder raus zu kommen, das
ist verrückt!“ Ich bereute sofort meine unglückliche Wortwahl als sich Casey
erschreckend nah nach vorne beugte. „Ich bin nicht verrückt, Torrence!“
schrie er. „Ich bin es nicht! Jeder hier hält mich für wahnsinnig,
aber sie waren da! Du hast sie auch gesehen, wir alle haben sie gesehen!“
Er lehnte sich wieder zurück. „Zumindest die, die sie überlebt haben... Die sie
nicht getötet haben.“ Ich wollte etwas entgegnen, doch Casey kam mir zuvor.
„Wie erklärt sich die Polizei, dass von ehemals 35 Businsassen nur drei
geborgen wurden. Nur drei?“ Er verzog sein Gesicht zu einer weinerlichen
Grimasse. Ich fühlte mich von Minute zu Minute unwohler. „Wir müssen uns aus
irgendwelchen Gründen aus den Augen verloren haben. Die anderen irren
wahrscheinlich immer noch irgendwo dort herum, wir hatten nur Glück, dass diese
Camper zufällig vorbei gelaufen waren.“ Caseys Kinn zitterte als er
widersprechend den Kopf schüttelte. „Sie haben sie alle erwischt. Alle. Sie
sind tot, Torrence.“ Er sah mich weinend an. „Tot“ wiederholte er leise und
machte schließlich eine Art Singsang daraus.
Wie ein Mantra wiederholte er es
ständig während er wieder hin und herwippte. Ich wollte es nicht hören. „Nein,
Casey!“ „Sie habe einen nach dem anderen erwischt, wir haben das doch alle
gesehen, Torrence! Erinnre dich daran!“ flehte er und gestikulierte wütend mit
seinen Händen. Ich begann entschieden dagegen du argumentieren. „Torrence,
woher hat Chantal ihre Verletzungen? Von einem Sturz? Sagen sie das?“ er war
fast hysterisch. „Sie wurde von einem Bären oder einem außerordentlich großen
Wolf angefallen, das kann passieren so tief im Wald.“ Casey lachte wissend, war
aber erstaunlich still. „Das war kein Bär. Auch kein großer Wolf.“ „Was war es
dann? Was war dort deiner Meinung nach in dem Wald? Was?“ „Ich weiß es nicht!“ er
atmete schwer aus und setzte sich in den Schneidersitz. „Ich habe solche Kreaturen
noch nie zuvor gesehen, oder davon gehört.“ Er verlor den Bezug zu mir.
„Reptilienartige...Wesen. Dutzende. Oh Gott, ich werde ihre Angriffsschreie nie
vergessen.“ Er kniff die Augen zusammen und Tränen flossen ihm die zerkratzten
Wangen hinunter. „Casey, ist schon gut.“ Er tat mir leid, ich legte eine Hand
auf sein Knie um ihn zu trösten. „Torrence ich weiß, was ich gesehen habe! Ich
weiß, was passiert ist! Und Chantal hätte es bezeugen können, so etwas vergisst
man nicht!“ schwur er.
„Casey, du bildest dir das nur
ein. Dein Hirn sucht einen Weg das erlebte zu verarbeiten, ich weiß nicht
wieso, aber es denkt wohl es könne besser damit umgehen, wenn es sich an
Vorstellung von Monstern klammert, verstehst du das?“ Casey fuhr sich mit
beiden Händen durchs strähnige Haar. Ich erwartete einen erneuten Wutausbruch.

„Schläfst du gut?“ Ich horchte
auf. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. „W...wie?“ fragte ich nach.
Casey war ganz ruhig, aber seine Stimme zitterte immer noch weinerlich. „Du
hast auch keine Nacht mehr ruhig durch geschlafen, richtig? Torrence, wenn es
so gewesen ist wie es dir die Polizei einreden möchte, warum hast dann auch
jede Nacht Alpträume?“ Ich konnte nichts sagen. „Ich habe sie auch! Jede
verdammte Nacht habe ich wieder die Bilder vor mir. Wie diese Wesen die anderen
anfallen, sie niederreißen und zerfleischen! Jede Nacht höre ich ihr Kreischen
und die Schmerzensschreie derer, die sie töten.“ Er begann zu zittern.
Seine Stimme war plötzlich nur
noch ein Flüstern. „Und jede Nacht höre ich sie wieder kommen. Dieses
knatternde Geräusch, wenn sie nach uns suchen. Ihre Späher. Und ich sehe sie
sterben, verstehst du das? Ich sehe unsere Freunde sterben und wir haben ihnen
nicht geholfen. Wir konnten ihnen nicht helfen, wir haben sie geopfert um
selbst entkommen zu können...“ seine letzten Worte waren nur noch weinerlich
Laute. „Oh Gott, Torrence, wie konntest du das vergessen!“ Er begann wieder zu
wippen. Diesmal schneller.
„Ich will doch nur wieder normal
leben können!“ weinte er. „Ich will das nur vergessen können!“ Ich wusste nicht
wie ich reagieren sollte. „Nur noch eine friedliche Nacht... oh Gott, sie
sollen aufhören zu schreien.“ Nun war er völlig abgehoben. „Mach, dass
sie aufhören!“ Ich stand auf, ich wusste nicht was sich tun sollte. Ich lief
zur Tür, Casey merkte dies nicht mal. Schnell klopfte ich gefasst gegen das
Glas. Ein Angestellter öffnete mir die Tür und ich verließ die Zelle so schnell
ich nur konnte.
 

Ich würde nicht wieder kommen.

 
Wir hatten uns verirrt. Punkt.
Dennoch hoffte ich, dass die Erinnerungen an jene Tage nie wieder kehren
würden.
 
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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