Albrecht Rietsch

Alice - mit Sicherheit tot

Mrs. Alice Trooper hatte die seltsame Angewohnheit, das Licht im Vorzimmer ihres kleinen, etwas entlegenen Häuschens Tag und Nacht brennen zu lassen. Gut, sie war überhaupt schon ein wenig schrullig, das wusste jeder im Londoner Vorort Northwood, und so fiel es niemandem mehr auf, dass immer schwacher Lichtschein durch den abends sorgfältig geschlossenen Vorhang des Vorzimmerfensters drang.
»Mir ist es so lieber«, pflegte sie diese Marotte vor sich selbst zu rechtfertigen, »da muss jeder Bösewicht denken, dass das Haus bewohnt ist. Licht ist Sicherheit – keine Frage.« Ja, die alte, etwas ängstliche Alice liebte ihr einfaches, ärmliches Leben, auch wenn sie schon bessere Tage erlebt hatte. Und sie wollte ihr bescheidenes Dasein auskosten bis zum letzten Atemzug. »Beim Sterben braucht mir niemand zu helfen, das mach' ich ganz alleine, wenn es an der Zeit ist, keinen Tag früher – so viel ist sicher.« Wenn sie sich da nur nicht irrte. 
Eine unbestimmte Angst war es auch, die Mrs. Trooper veranlasste, nichts dem Zufall zu überlassen. So wusste sie natürlich, dass keine Glühlampe der Welt ewig brennen konnte. Die rüstige, zaundürre Lady hatte längst entschieden, nicht erst auf die »Katastrophe« – so nannte sie das Ausbrennen der Lampe –  zu warten und dann zu handeln. Am Ersten jedes Monats schraubte sie eine neue Glühlampe in die Fassung der altertümlichen Deckenleuchte, um ja sicher zu sein, dass sie nicht gerade dann streiken würde, wenn jemand versuchen sollte, gewaltsam ins Haus einzudringen. »Der Teufel schläft nicht«, ließ Alice keinen Zweifel an der Ursache ihrer ausgeprägten Wachsamkeit.
Es war einer jener kühlen, ungemütlich windigen Novemberabende, stockfinster schon um Sechs, zum Fürchten die Vielfalt der ungeklärten Geräusche rund ums einsame Haus. Alice fühlte sich nicht besonders wohl in ihrer Haut. War es nur die mächtige Eiche, deren Stamm im Herbstwind ächzte? War es das alte Stück Blechdach, das Jahr und Tag an der Hauswand lehnte und leicht hin und her schabte, kratzte, verhalten klapperte? War es der Fensterladen im ersten Stock, der schon seit Jahren repariert werden sollte und ebenso lange knarrende Geräusche von sich gab, an die man sich wohl ein ganzes Leben lang nicht gewöhnen konnte?
Alice werkte in der Küche, hatte gerade einen Porzellanteller mit geschwungenem Goldrand auf den Tisch gestellt und fein säuberlich ein eher ungepflegtes Silbermesserchen dazu gelegt. Nicht zu vergessen die blaue Serviette mit eingewebter weißer Rose, die sie immer viermal zu verwenden pflegte, wobei sie pro Mahlzeit nur eine Ecke benutzte. Alice schnitt ein paar Scheiben Brot ab, nahm die Butter aus dem muffigen Kühlschrank, die restlichen Wurstscheiben, die am Rande schon etwas eingetrocknet und verfärbt waren, schließlich ein Stück Käse, das sie gleich mit zwei Fingern auf seinen Zustand prüfte. Ein Apfel sollte das »abendliche Menü«, wie sie es nannte, abrunden.
Alice gehörte nicht zu jenen besonders gesundheitsbewussten Damen, die ohne Obst und Gemüse nicht leben können, weil sie hoffen, dass frische Früchte und Fisolen den Teint von innen straffen. Nein, Alice war nicht von dieser Sorte, aber ihre Zurückhaltung beim Einkauf von Vegetabilien hatte noch einen anderen Grund. Sie hatte einfach zu wenig Platz in ihrem Kühlschrank um einen Vorrat für einige Tage anzulegen. Das Obst- und Gemüsefach war nämlich ständig bis oben hin durch eine geheimnisvolle Schatulle aus Edelholz  blockiert, die nur von ein paar Salatblättern verdeckt wurde, die sie selbstverständlich immer wieder durch schöne frische Exemplare ersetzte, um die Tarnung – und es war nichts anderes – so perfekt wie nur möglich zu gestalten.
»Ausgerechnet in meinem Kühlschrank wird niemand ein kleines Vermögen vermuten«, freute sich die listige Alte immer wieder, wenn sie ihren »Tresor« öffnete, um ein paar harmlose Lebensmittel zu entnehmen. Gut 500.000 Pfund – das hatte ihr erst kürzlich ein beeideter Schätzmeister bestätigt – seien die elitären Schmuckstücke aus besseren Tagen wert. Dabei hatte er sie prüfend beäugt, als könnte er angesichts des schmächtigen, ärmlich wirkenden Weibleins selbst nicht glauben, was er da gerade errechnet hatte.
Alice Trooper führte also ein Doppelleben, und es mag erstaunen, dass sie gerade diese Tatsache am meisten genoss. Gewiss, es hatte früher Zeiten gegeben, da sie fast der Versuchung erlag, ihren erheblichen Reichtum offen zur Schau zu tragen, im besten Bezirk von London ein stattliches Anwesen zu erwerben und mit der High Society auf Du und Du zu leben. Doch dann hatte die Vorsicht gesiegt. Es erschien ihr einfach klüger, sich nicht all den Fragen auszusetzen, die mit viel Geld verbunden sind. »Meine Liebe, sagen sie uns doch einmal, wo kommen sie denn her? Leben sie von ihrem Mann getrennt? War sicher ein ehrenwerter Herr, dass er sie mit allem ausgestattet hat, was sie für ein sorgenfreies Leben im schönen Londoner Westen benötigen. Alice, liebe Freundin, sie müssen uns einfach die eine oder andere Anekdote aus ihrem Leben erzählen. Wir Frauen sollten doch keine Geheimnisse vor einander haben.« Hinter der oberflächlichen und doch lauernden Konversation würde aber nur eine Frage stehen: Wie viel Geld hast du, und wo hast du es her?
Und genau das war eine ganz und gar unangenehme Geschichte. Alice war mit einem wohlhabenden Bankier in Liverpool verheiratet gewesen. Es war damals Liebe auf den ersten Blick. Die Jahre vergingen und das Glück mit ihnen. Doch unter dem Strich blieb eine Menge an bleibenden Werten, um es einmal so bescheiden auszudrücken. Die Schmuckschatulle hatte mit der Zeit nicht nur ein beträchtliches Gewicht, sie war auch von der einmaligen Qualität des Inhaltes her nicht zu verachten. Alice verließ als reiche Frau einen toten Mann, an dessen Hinscheiden sie allerdings nicht ganz unschuldig war.
Sie konnte ihm schon den ersten Seitensprung nicht verzeihen und den zweiten erst recht nicht. Beim dritten entschied sie sich, einen vierten mit allen Mitteln zu vereiteln. Ehemann Max machte sich keine Illusionen, was die Chance einer Geheimhaltung seiner Aktivitäten betraf. Ja, der ehrenwerte Bankier Trooper hatte ein schlechtes Gewissen, denn er wusste, dass sie wusste. Und er wunderte sich, dass sie immer wieder gnädig reagierte, bis er in den Französischen Alpen bei einer Bergtour 200 m tief über eine Geröllhalde  stürzte. Die örtliche Polizei hatte zunächst Bedenken, es gab ein paar unangenehme Fragen, aber schließlich kam Alice ohne Schrammen davon. Ein befreundeter Notar übernahm die Verwaltung des Nachlasses, Max' Kinder aus erster Ehe freuten sich, dass sie ohne großen Kampf an die Immobilien des Vaters kamen, und dass ihre Stiefmutter nur mit reichlich Bargeld und ihrer Schmuckschatulle zufrieden war.
Alice verließ ihr eheliches Liverpool und kaufte, um nicht aufzufallen,  das kleine Häuschen an der grünen Peripherie im Norden Londons. Das sollte zunächst nur eine Zwischenstation sein. Dann  wurde aber aus dem Provisorium eine Dauerlösung. Die Freude am Tarnen und Täuschen wurde zum heimlichen Lebenssinn. War es nicht wirklich das Beste, einfach als  arme und alte Frau unauffällig sein Leben zu verbringen? War es nicht einfach am sichersten, ein ungesühntes Verbrechen durch einfaches Leben trotz Reichtum zu büßen?
Alice hatte an diesem Novembertag von Anfang an ein merkwürdiges Gefühl. Sie hatte an sich keine übermäßige Angst vor Dämmerung und Dunkelheit, sie war an das Alleinsein gewöhnt, kannte alle Geräusche und wusste, dass sie nichts zu bedeuten hatten. Nur der junge, etwas verwahrlost wirkende Mann, der sich seit Tagen in der Gegend herumtrieb, gab ihr zu denken. Ja, lieber wäre es ihr schon gewesen, es hätte ihn nicht gegeben – vor allem deshalb, weil ihr vorkam, dass er immer wieder verstohlen das Haus beobachtete. »Lass dich doch nicht verrückt machen von diesem merkwürdigen Typen. Gott und dein Vorzimmerlicht werden dich schon schützen«, kämpfte sie – nicht ohne Selbstironie –  ihre aufkeimende Angst mehr schlecht als recht nieder.
Sie saß also nach dem Abendessen in ihrem einzigen bequemen Sessel neben dem mächtigen Kamin, den sie allerdings in der Übergangszeit noch nicht einheizte. Nur der schwache Lichtschein aus dem Vorzimmer erhellte die Konturen des voll geräumten Zimmers. Alice dachte nach und wäre langsam eingenickt, wenn sie nicht ein leichtes Frösteln verspürt hätte. »Da kann ich doch gleich einmal meinen neuen Heizstrahler ausprobieren, den der Verkäufer bei Light & Heat, einem kleinen Elektroladen an der Norman Road,  heute morgen so gelobt hatte. Alice stellte das handliche Gerät in eine günstige Position, steckte es an und  drehte den komfortablen Kombischalter auf Maximum. In diesem Moment ging das Licht aus. Alice wusste zunächst nicht, was passiert war. Fieberhaft versuchte sie, das Licht immer wieder ein- und auszuschalten – vergeblich. Schließlich fiel ihr ein, dass es nur die Sicherung gewesen sein konnte. Das war über die vielen Jahre hinweg noch nie passiert. Der neue Heizstrahler hatte offenbar ihren ganz privaten Energiehaushalt überfordert, das hätte sie bedenken müssen.  Doch wo war der Sicherungskasten? Wo die Taschenlampe, wo eine Kerze, Zünder?
Als Mark, der  Briefträger, zum dritten Mal versuchte, einen Behördenbrief persönlich zuzustellen, als er schließlich merkte, dass die Tür nicht versperrt  war und im Vorzimmer kein Licht brannte wie sonst immer, hatte er ein unangenehmes Gefühl und verständigte die Polizei. Im Bericht  von Inspektor Tim Bradley war später unter anderem zu lesen: »Alice Trooper, 73, stürzte über die Kellerstiege. Was sie im Keller wollte, ist unbekannt.  Kollege Dr. Miller konstatierte Genickbruch. Sie muss sofort tot gewesen sein.« Für harmlos gehalten wurden die leichten Kratzspuren am simplen Schloss der Haustüre. Bradley respektlos: »Mit 73 trifft man wohl nicht mehr aufs erste Mal.« Keine besondere Verwunderung löste der Umstand aus, dass die Tür unversperrt war: »Die alte Dame wird wohl schon etwas zerstreut gewesen sein. Was hätte es bei der schon zu holen gegeben?« Ungeklärt blieb, warum der Kühlschrank praktisch leer war, die Tür weit offen stand und die Gemüselade und ein paar welke Salatblätter auf dem Boden lagen.
 
Was war wirklich geschehen? Ein Landstreicher – der Name tut hier nichts zur Sache – wird auf das Haus der alten Alice aufmerksam, weil um vier Uhr früh noch Licht brennt. Er überlegt, gleich an die Tür zu klopfen und seine bewährte Geschichte abzuspulen. Doch das erscheint ihm um diese Uhrzeit denn doch zu kühn. Er hält es für besser, sich in einem trockenen, geschützten  Winkel unter dem Vordach zu verkriechen und den Morgen abzuwarten.
Das alte Haus hat jedenfalls sein Interesse geweckt, und er beschließt, es zu beobachten. »Wenn da wirklich nur eine alte Lady wohnt, stehen meine Chancen gut, wieder einmal mein Glück zu versuchen.« Er hatte immer eine äußerst rührende Geschichte parat, auf die die meisten alten Damen hereinfielen: »Entschuldigen Sie vielmals, entschuldigen sie tausend Mal, Verehrteste, dass ich mich in meiner Not an sie wende, schicken sie mich sofort wieder hinaus in Nacht und Nebel, wenn sie kein Herz für einen Menschen haben, der einfach nicht mehr weiter weiß. Hören sie mir bitte nur eine Minute zu. Darf ich einen Moment hereinkommen? Nein – nur ins Vorzimmer. Ja, hier ist es schön warm…« Wenn er bis ins Haus gekommen war, hatte er in den meisten Fällen schon gewonnen, und wenn er nur einen Wecken Brot, eine halbe Stange Wurst und etwas Obst bekam.
Als am nächsten Abend das Licht überraschend ausgeht, nimmt er an, dass die alte Dame das Haus verlassen oder zu Bett gehen will. Jetzt muss er schnell handeln, um sie noch anzutreffen. Er geht mit großen Schritten entschlossen auf die Haustür zu, klopft kräftig an, horcht, klopft wieder, horcht. Da – ein Poltern, ein lautes Rumpeln, ein Geräusch, wie von einem Sturz, ein kurzer Schrei… Stille. Er klopft wieder, ruft »Hallo ist da jemand?«, drückt die Türklinke  und stellt erstaunt fest, dass die Tür offen ist. Ein paar Schritte weiter sieht er im Schein seines Feuerzeuges einen Körper am Fuße der Kellerstiege liegen, die Gliedmaßen verrenkt, die Gesichtszüge entstellt. »Kein schöner Anblick, My Lady,« flüstert er vor sich hin. »Aber ich kann leider nichts mehr für dich tun. So ist das Leben.« Er orientiert sich kurz im Licht seines Feuerzeuges, sieht den Kühlschrank, stopft schnell in seinen alten Lederbeutel, was er an Essbarem kriegen kann, und stutzt, als er die Obstlade herauszieht und unter den Salatblättern die Schmuckschatulle entdeckt. Sein erfahrener Blick sagt ihm sofort, dass er da besonders wertvolle Früchte ernten kann, er klemmt das Kästchen eilig unter den Arm und verschwindet in die Nacht…

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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