Spät abends auf einer belebten Geschäftsstraße in Eivissia gehen sie auf der anderen Straßenseite in dieselbe Richtung. Ich sehe die beiden zunächst nur von hinten, da sie mir ein Stück weit voraus sind: Ein junges Pärchen. Sie strahlt eine gewisse Eleganz aus. Schlanke Figur, kultivierter Gang, weiße Lederhandtasche. Er wiegt seinen sportlichen Oberkörper. Braune Haut, kurzer Haarschnitt und schwarzes Muskelshirt. Sie sprechen miteinander. Ihre Gestiken wirken harmonisch. Sie scheinen mit sich selbst und der Welt im Einklang. Sie sind das, was man ein attraktives junges Paar nennt. Vor einem Lokal bleiben sie stehen, er schaut kurz in das Fenster. Einen Augenblick später gehen sie weiter und überqueren an der nächsten Straßenkreuzung eine Fußgängerampel. Sie wechseln somit auf meine Straßenseite. Dort angekommen, betreten sie wenige Meter vor mir ein Schnellrestaurant. Auch ich habe vor, dieses Restaurant aufzusuchen, also gehe ich hinterher.Ich werde schneller bedient und setze mich mit meinem Tablett an einen freien Tisch, während das Pärchen noch auf seine Bestellung wartet. Wenig später sitzt es zwei Meter links neben mir, uns trennt ein dekoratives Sichtgitter. Ich schaue hindurch und sehe, dass seine Begleiterin von ihrer ursprünglichen Eleganz einiges eingebüßt hat. Sie wirkt nun mit ihren Rehaugen vielmehr wie ein wohlerzogenes braves Mädchen. Er läßt seine muskolösen Oberarme auf der Tischplatte Ruhen. Sie essen und sprechen miteinander. Es klingt österreichisch. Sie strahlen dabei einander an. Sie kennen sich wohl schon länger, aber doch noch nicht lange genug, um noch mehr voneinander zu erfahren. Ihre Stimmen wirken wie eine wohltuende Beigabe zu ihrer gemeinsamen Mahlzeit.Er holt nun eine Fotokamera hervor, sie läßt sich bereitwillig ablichten. Keck verharrt sie kurz in einer angedeuteten Pose. Ich habe meine Mahlzeit inzwischen beendet und beschließe, aufzustehen. Plötzlich überwältigt mich der Gedanke, dass ich beide wohl nie mehr wiedersehen werde. Ich schaue noch einmal zu ihnen hinüber. Ich werde sie in diesem Augenblick, so wie sie da sitzen, das letzte Mal gesehen haben. Es ist ein letzter Abschied. Ein endgültiger Abschied vor dem Ende, das für beide wohl erst nach vielen Jahrzehnten kommen wird. Ich stelle mir vor, wie sie alt und vom Leben gezeichnet ihren Enkeln von einem lange zurückliegenden Urlaub auf Ibiza erzählen, dazu vielleicht das soeben gemachte Foto zeigen. Ein Foto, auf dem seine Begleiterin, mit einem Stück Pizza in der Hand, in die Kamera strahlt. Diesen einen Augenblick werde ich mit ihnen für immer teilen, daran wird sich nie etwas ändern. Ich verlasse das Lokal.Der DJ thront über der wogenden Masse wie auf einer Festung, er ist der König der Nacht. Techno und Stimmung vereint die Menge. Sie tanzt hingebungsvoll, leidenschaftlich, begeistert, extatisch. Sie tanzen allein, zu zweit, recken die Arme, springen, winden die Schultern. Schweißnasse junge Gesichter schauen sich mit großen Augen an, schauen weg, Augenpaare suchen sich. Die Leiber zucken, Hände und Arme vollführen mal kreisende, mal zackige Bewegungen. Einige graben mit ihren Händen in der Luft über ihren Köpfen, andere stampfen mit ihren Fäusten. Nackte Oberkörper glänzen. Zigaretten glühen und tanzen als leuchtende Punkte in der Dunkelheit, die immer wieder durch zuckendes Licht aus Scheinwerfern zerrissen wird. Tänzer schreien sich gegenseitig etwas ins Ohr. Es ist immer eng, sie tanzen Leib an Leib. Sie dampfen, fremder kalter Schweiß berührt die nackten Oberarme, Frauenfrisuren kitzeln die Haut. Die Menge pulsiert zu den überirdischen Klängen, die Tanzenden spüren, wie die druckvollen Bässe den Körper durchbeben, unaufhörlich, rythmischen Explosionen gleich. Die Luft schmeckt nach Rauch, wird stellenweise kühl durchspült aus der Airkondition. In diesen Momenten, in denen die Menschen nur ihr körperliches Dasein erfahren, sich selbst und andere spüren, in denen jeder die gleiche Musik auf seine Art erlebt und ausdrückt, in diesen Momenten mischt sich eine gütige Macht unter die Menschen. Diese geheimnisvolle gütige Macht ist dann ganz nah, näher als in jedem Gottesdienst.Ein Bus soll uns wieder zurück in die Hotels bringen, es ist mittlerweile morgens um sechs. Einige Fahrgäste, die gerade zusteigen, tragen noch Reste der Partyatmosphäre in den Bus hinein. Eine junge Partygängerin zeigt mir das soeben ergatterte Autogramm eines DJs. Es füllt sich langsam. Ein Italiener geht sehr charmant auf zwei deutsche Frauen zu und läßt sich auf die beiden Sitze vor ihnen nieder. Wir fahren los. Der Italiener beginnt sofort zu flirten, seine Komplemente werden mit lächelndem Selbstbewußtsein von den Frauen kommentiert. Ein vor mir sitzendes Paar, er mit schweißnassen Haaren, umklammert sich während der ganzen Fahrt. Sie flüstern sich fortdauernd leise etwas zu. Wenig später schaue ich nochmals hinüber zum Italiener. Eine der beiden Freundinnen – die am Fensterplatz – ist mittlerweile eingeschlafen. Der Italiener muß vorzeitig aussteigen, er verabschiedet sich von der einen mit Küßchen und einem Lebewohl.Balkonszene: In meinem Hotelzimmer höre ich von draußen Männergeschrei, es klingt aggressiv. Ich trete auf meinen Balkon im sechsten Stock und sehe hinunter. Es ist früher Abend, die Sonne wirft lange Schatten. Ein Mann steht pinkelnd im Gebüsch, offenes Hemd, der Kopf mit einem Strohhut bedeckt. Zwei andere, nur mit Sporthosen und modischen Sonnenbrillen bekleidet, stehen am Straßenrand, neben sich ein Sixpack mit Bier auf dem Bürgersteig. Der eine redet noch immer laut, ich erkenne die Stimme wieder. Der im Gebüsch stehende ist wohl der ausgestoßene, die lauten Worte gehen an ihn. Der andere bückt sich nach dem Sixpack, die am Bürgersteig stehenden gehen nun weiter. Ihnen folgt der ausgestoßene mit einigem Abstand.Wenige Schritte später stoßen die Männer auf eine Gruppe Jugendlicher, die auf der Straße Fußball spielen. Ihre Rufe und das Springen des Balls habe ich schon während der Streitszene wahrgenommen. Zufällig rollt der Ball dem Strohhutträger entgegen, er berührt den Ball mit dem Fuß und kickt ihn weiter. Die Gruppe, ein Junge und drei Mädchen, unterbricht das Spiel. Der Wortführer der Männer bemerkt dieses und dreht sich nach dem Strohut um. Mittlerweile wurde der Ball von dem Jungen gestoppt. Der aggressive Geist hat nun die Gruppe der Jugendlichen erreicht. Es ist klar zu erkennen, dass der Wortführer und seine Mitstreiter in das Spiel einbezogen werden wollen. Die Jugendlichen versuchen, unter sich weiter zu spielen. Doch der Wortführer akzeptiert das nicht, zeigt deutlich seine Spielbereitschaft, macht auffordende Handbewegungen und gibt Regeln vor. Die drei Mädchen formieren sich gegenseitig umarmend hinter dem Jungen. Dieser gibt den Ball nicht heraus, steht vor den Mädchen wie deren Beschützer. Sein Fuß ruht demonstrativ auf dem Ball. Sehr selbstbewußt steht er da, mit den Männern diskutierend und sich standhaft gegen die böse Übermacht wehrend. Seine Haltung verdient Respekt. Mein Telefon klingelt, ich verlasse den Balkon und schaue wenig später nochmals nach draußen auf die Straße. Ich sehe, wie drei Männer mit Jugendlichen lautlos Fußball spielen.Ich liege mittags am sonnigen Hotelstrand, in unmittelbarer Nähe eine hohe Palme, deren Zweige mir Schatten spenden. Meine Augen sind geschlossen, beim Dahindämmern höre ich nicht weit entfernt Geschrei und das nasse Klatschen aus dem überfüllten Hotelpool. Das milde Rauschen des Meeres, sein tiefer Atem dringt zu mir herüber und versetzt mich in einen Zustand des Wohlbefindens.Die Liege unter mir gibt einen sanften Ruck, sie dreht sich leicht. Ich öffne die Augen und merke, dass ich senkrecht nach oben getragen werde. Ich schwebe. Schon streifen mich die Zweige der Palme, sie streicheln kühl über meine Haut. Ich wende meinen Kopf nach rechts und blicke auf Hoteldächer. Unaufhaltsam steige ich höher, spüre dabei keinerlei Beschleunigung. Ich nehme die Sonnenbrille ab, richte mich vorsichtig ein wenig auf und sehe von großer Höhe auf die gesamte Bucht, das türkisfarbene Meer, den kilometerlangen Sandstrand. Ein leichter Windzug umweht meinen erwärmten Kopf. Es treibt mich immer schneller aufwärts, dennoch bleibe ich ruhig auf meiner Liege. Durch den leichten Wolkendunst kann ich schon die Nordküste der Insel und das dahinterliegende Meer erkennen. Ich bewege mich nicht. Die Beschleunigung, die ich nicht spüre, nimmt zu. Unter mir ist es jetzt nur noch blau und dunstig, dazwischen das verwischte Weiß einzelner Wolken. Die Sonne scheint auf mich und meine Liege. Der tiefblaue Himmel über mir verwandelt sich langsam in schwarze Nacht. Schon funkeln die ersten Fixsterne. Die Lufthülle der Erde umgibt mich nicht mehr, sie hat mich allmälich dem Weltraum überlassen. Er ist von einer so tiefen Schwärze, wie man es auf der Erde bei klarer Nacht nie erlebt. Myriaden von Sternen glitzern ruhig – unterschiedlich hell – wie Diamanten auf schwarzem Samt. Ich muss auf meiner Liege herunterschauen, um den sich entfernenden blauen Planeten noch zu sehen. Noch immer strahlt die Sonne als gleißend helle Scheibe vor schwarzem Grund, ich lege mich zurück. Beide Hände ruhen auf dem Bauch, sie umklammern die Sonnenbrille.Während ich in die schwarze Nacht hinausschaue, schließe ich die Augen und stelle mir vor, dass ich vielleicht schon an den Rand des Sonnensystems gelangt sein könnte. Ich stelle mir vor, die Grenze der Milchstrasse zu überschreiten, mich anderen Galaxien zu nähern. Durch meine geschlossenen Augenlieder, die eben noch das Sonnenlicht rosig gefiltert auf die Netzhaut ließen, ahne ich nun die absolute Dunkelheit. Ich bemerke kaum einen Unterschied, als ich die Augen öffne. Sie müssen sich garnicht erst an das Dunkel gewöhnen. Außer einigen unendlich weit entfernten winzigen Lichtpunkten umgibt mich absolutes Schwarz und Nichts.Ich spüre die Liege unter mir, wenige Schritte entfernt höre ich das Schlurfen von Badelatschen. Ich öffne die Augen und schaue durch die Sonnenbrille in den blauen Himmel. Über mir wedeln die Zweige einer hohen Palme, die mir Schatten spendet. Mein Kopf ist heiß.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.12.2005.
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