Sabine Schmitt

One for the road

Nigel starrte auf sein Whiskeyglas. Er hatte schon einiges intus
und fragte sich gerade, ob Max ihm wohl noch etwas ausschenken würde,
als Jordan das Pub ihres Vaters betrat, wie immer mit Woody im
Schlepptau.
„Dad, Nigel, heute Abend steigt noch eine gemütliche kleine
Weihnachtsparty. Seid ihr dabei?“
Sie
grinste schelmisch, der Schnee hatte ihr Haar bestäubt wie Puderzucker
und glitzerte auf ihren Augenbrauen. Nigel sah sie über seine Schulter
hinweg an. Sie strahlte über das ganze Gesicht, vor Kälte und
Vorfreude. Sogar Woody grinste über das ganze Gesicht.
Er bemerkte, dass Max ihn ansah.
„Was ist mit Dir?“
Er seufzte verhalten.
„Nein, lieber nicht. Ich geh dann wohl besser nach Hause.“

Max und Jordan sahen sich an.
Nigels Laune war nichts Neues. Seit sein Vater gestorben war, hing er
Abend für Abend bei Max herum und schüttete sich zu. Solange seine
Arbeit nicht darunter litt, konnten Jordan und Gerrit nichts sagen,
aber allmählich machten sie sich Sorgen.
Max, der andere Zeiten erlebt hatte als seine Tochter, hatte mehr
Verständnis. Er dachte kurz nach und legte schließlich den Schlüssel
für den Pub vor Nigel auf den Tresen.
„Mach das Licht aus, wenn Du gehst. Du weißt ja, wo alles steht.“
Nigel lächelte Max trübe an und nickte.

 
Eine halbe Stunde und drei Doppelte später
ging hinter ihm die Tür auf. Er spürte den kalten Luftzug und hörte die
leisen Schritte des Mannes, der eintrat und die Tür hinter sich schloß.

„Wir haben geschlossen“ brummte er, ohne sich umzudrehen, in bester Barkeepermanier.
Die Schritte verhielten einen Augenblick, dann kamen sie näher. Einen halben Meter hinter ihm blieb der Mann stehen.
„Sie werden doch einen einsamen, frierenden Mann am Heiligen Abend nicht hinauswerfen?“
Nigel
hörte das Lächeln aus der kultivierten Aussprache und dem leisen
Singsang des Südstaatlers heraus. Er drehte sich langsam um.
Der Mann, der vor ihm stand, war groß. Sehr groß. Er war mit einem
schwarzen Mantel und schwarzem Zylinder bekleidet, in der rechten Hand
lagen ein Paar schwarze Lederhandschuhe, die, wie auch der Rest seiner
Aufmachung, ziemlich teuer aussahen. Das schwarze Haar fiel ihm bis auf
den Rücken. Eine ziemlich auffällige Erscheinung.

Nigel musterte den Fremden eine Minute lang. Warum
eigentlich nicht, frage er sich. Er sieht nicht so aus, als würde er
mit der Kasse abhauen. Er nickte dem Unbekannten zu, wies mit der
linken Hand auf die Bar und nuschelte: „Bedienen sie sich.“

Während der Mann wortlos um den Tresen ging und dahinter
verschwand, versank Nigel wieder in seine Grübeleien. Warum jetzt?
Gerade hatten er und sein Vater wieder angefangen, miteinander zu
sprechen. Da war noch so viel, was Nigel auf der Seele lag. So vieles,
worunter er bis heute litt, was ihn von England weg in diese Stadt
getrieben hatte. Er hatte geglaubt, seine Vergangenheit in Heathrow
zurückgelassen zu haben, aber sie holte ihn immer wieder ein. Sein
Vater hatte nichts von dem gebilligt, was er je getan hatte. Nicht das
Studium, nicht den Eintritt in die Royal Navy, ganz zu schweigen von
dem, was er dort gelernt und getan hatte.... nie wieder hatten sie über
dieses Thema gesprochen, und dabei war alles, was Nigel sich wünschte,
nur einmal von seinem Vater zu hören, dass er stolz auf ihn sei, auf
das, was er erreicht hatte. In Nigels Augen war das nicht wenig, aber
für Townsend Senior nicht. Als jüngstes von vier Kindern war er in dem
ruhigen, strengen Akademikerhaushalt fast untergegangen. Für Nigels
manchmal recht verrückte Ideen hatte niemand Verständnis gehabt, und so
hatte er schließlich nichts mehr erzählt. Und irgendwann suchte er sein
Heil in der Flucht. Erst in die Navy, dann in die Vereinigten Staaten.
Und was hatte es ihm gebracht? Nichts.
Aus
reinem Trotz hatte er angefangen, ausgefallene Kleidung zu designen, er
arbeitete nächtelang an seiner Website und wenn er kein Date auftreiben
konnte, blieb er auch schon mal länger auf der Arbeit.
Bug hatte verständnislos den Kopf geschüttelt, als Nigel es ihm einmal erzählte.
„Du sitzt nachts hier bei den Leichen herum? Du bist echt nicht mehr normal!“

Vermutlich war es das, was Bug zu seinem besten Freund
machte. Er neigte dazu, genauso auf Nigel herumzutrampeln, wie sein
Vater es früher getan hatte.

 
Nigel schreckte auf, als der Fremde eine
Flasche vor ihm abstellte und sich auf den Tresen lehnte. Er hatte den
Mann vollkommen vergessen. „Jeffrey“ hörte er ihn sagen und gleich
darauf tauchte eine gepflegte, manikürte Hand in seinem Blickfeld auf.
Nigel ergriff sie, wie man es ihm beigebracht hatte und nuschelte
seinen Namen.
Das schien Jeffrey nicht zu genügen. Offenbar wollte er sich
unterhalten.
„Mist“ dachte Nigel bei sich, „warum hab ich den bloß reingelassen“
Jeffrey tat so, als würde er Nigels saures Gesicht nicht bemerken und plauderte fröhlich drauflos.

„Sie sind auch alleine an Weihnachten? Das ist mir vertraut.
Man fühlt sich behaglich in seinem Leben bis zum Heiligen Abend. Und
dann sieht man die Christbäume und glückliche Kinder durch die Fenster
der Häuser und plötzlich fällt einem auf, dass man alleine ist. Das
kann einen schon melancholisch stimmen.“

Merkwürde Ausrucksweise hatte der Mann. Irgendwie
altertümlich. Und warum war so einer allein an Weihnachten? Es war
nicht zu übersehen, dass der Mann aus einer Gesellschaftsschicht
stammte, die sich nicht in Pubs herumtrieb. Nach Nigels Einschätzung
hatte Jeffrey es sicherlich nicht nötig. Im Zweifelfalle konnte er ja
mit dem Butler unterm Baum sitzen.

 
Jeffrey hatte ihn beobachtet. Er hatte
Mantel, Zylinder und Handschuhe abgelegt, und darunter kam ein
schlichter, eleganter schwarzer Anzug zum Vorschein. Dazu trug Jeffrey
eine Weste und eine weiße Fliege. Nigel fühlte sich an alte Filme
erinnert. Jeffrey lächelte milde auf ihn herab. Es war ein angenehmes
Lächeln. Jeffreys gesamte Erscheinung war angenehm; er wirkte
kultiviert, gebildet, hochelegant und liebenswürdig. Sein Vater wäre
begeistert gewesen. Naja, mal abgesehen von der Matte, die er auf dem
Kopf mit sich herumtrug.
Nigel brummte etwas
unverständliches, wies auf sein Glas, und Jeffrey schenkte ihm nach..
Jeffrey wirkte so weltmännisch, dass an Nigel der Neid zu nagen begann.
„Posh“ dachte er verächtlich, und schalt sich im gleichen Augenblick
dafür. Er hatte geglaubt, über so etwas hinweg zu sein..
Nigel hob den Blick und sah Jeffrey ins Gesicht. Das
Lächeln hatte sich nicht verändert. Es wirkte verständnisvoll, ohne
dass Nigel sich bemitleidet vorkam. Was zum Teufel wollte dieser
Weihnachtsengel hier?
Jeffrey schien endlich zu bemerken, dass Nigel nicht in Plauderstimmung
war. Er trommelte mit den Fingern auf dem Tresen und sah sich in dem
Pub um. Links in der Ecke stand noch das Piano, an dem Max vor einigen
Stunden noch gesessen und für seine Gäste gespielt hatte. Ohne ein
weiteres Wort richtete Jeffrey sich auf, setzte sich an das Piano und
begann zu spielen.
 
Das Lied begann ruhig, beinahe
melancholisch, und Jeffrey begann mit einem geschmeidigen Bass zu
singen. Die Melodie war Nigel vage vertraut, und er versank wieder in
Grübeleien.

 
„It's quarter to three, there's no one in the place except you and me…”
 
Nigel graute es davor, nach Hause zu gehen.
Sein Untermieter war ausgezogen und hatte die Katzen mitgenommen. Und
inzwischen hatte er genug getrunken, um seinem Elend nicht mehr aus dem
Weg gehen zu können.
 
„We're drinking my friend, to the end of a brief episode…”
 
Warum mußte sein Vater ausgerechnet jetzt
sterben? Vielleicht hätten sie jetzt, nach all diesen Jahren endlich
miteinander sprechen können. Vielleicht hätte sein alter Herr ihm doch
noch den Segen zu seinem Berufswunsch gegeben. Vielleicht hätte er
jetzt, älter und erfahrener, Argumente gehabt, die seinen Vater
überzeugt hätten. Gerade zwei Monate war es her, dass sie angefangen
hatten, miteinander zu telefonieren. Und Nigel hatte das Gefühl, dass
sie einander näher gekommen waren.. hätte er doch nur mehr Zeit
gehabt...

 
„Feelin' so bad, won't you make the music easy and sad…”
 
Nigel schluckte hart. Er wollte nicht hier
und jetzt in Tränen ausbrechen. Es war so schon peinlich genug, dass er
hier mitten in der Nacht in Max’ Pub saß und einen Whiskey nach dem
anderen kippte und dabei noch einen feinen Pinkel zugucken ließ.
 
„I could tell you a lot, but it's not in a gentleman's code…”
 
Er hatte seinem Vater nie gesagt, was er in
der Royal Navy gemacht hatte. Niemand wusste das. In seiner (stummen)
Verzweiflung war er zu allem bereit gewesen. Vielleicht hatte er
gehofft, die Ablehnung seines Vaters damit loszuwerden. Plötzlich
wünschte Nigel sich, irgendjemandem von seiner Zeit als Soldat zu
erzählen. Nicht, dass er das gedurft hätte, aber es wäre eine solche
Erleichterung....

 
„You'd never know it, but buddy I'm a kind of poet and I've got a lot of things I'd like to say…”
 
… das und die Tatsache, wie einsam und
verloren er sich fühlte. Mochte er tagsüber noch so fröhlich sein; je
lauter und lustiger er war, desto mehr musste er verdrängen. Inzwischen
wusste er das, und er wünschte sich, er könnte weiter mit der seligen
Ignoranz leben wie vor 15 Jahren....

 
„Well that's how it goes, and Joe I know your gettin' anxious to close…”
 
Es half nichts. Sein Leben war, wie es war.
Er konnte die Vergangenheit nicht ändern. Plötzlich begriff Nigel, dass
er auch ohne seines Vaters Zustimmung seinen Frieden mit ihm machen
konnte. Sein alter Herr mochte nicht mit dem einverstanden gewesen
sein, was er tat, aber was machte das im Grunde aus? Er hatte die Dinge
getan, die er tun wollte, oder tun musste. Er war seinen Weg gegangen,
hatte einiges erreicht, und das war doch im Grunde das, was zählte.

 
„And thanks for the cheer…”
 
Nigel drehte sich um und betrachtete
Jeffrey beim Spielen. Er hatte die Augen geschlossen und spielte
selbstvergessen. Seine Stimme schien über die Wände zu streichen und
durch Nigel hindurch, und er fühlte sich seltsam getröstet.
Schließlich legte Jeffrey die Hände in den Schoß, öffnete die Augen und
lächelte Nigel an. Und zum ersten Mal seit Wochen lächelte Nigel
ebenfalls.
„Schöner Song“ sagte er, um die Stille zu überbrücken, als sie sich nicht mehr von einem Lächeln füllen ließ.
 
Jeffrey nickte dankbar und erhob sich.
Langsam schlenderte er zu Nigel herüber, griff über den Tresen nach
seinem Mantel, dem Zylinder und den Handschuhen.
Er zog sich an, dann hielt er inne, legte den Kopf auf die Seite und
sah Nigel nachdenklich an.

„Besser?“ frage er leise?

Nigel nickte. Er räusperte sich.
„Danke.. ich meine.. dafür dass sie sich um mich, na ja, gekümmert haben...“ seine Stimme verklang verlegen.

Jeffrey lächelte liebenswürdig.
„Ich habe mich nicht um Sie gekümmert. Ich habe Ihre Gesellschaft genossen.“
 

Damit tippte er grüßend an seinen Zylinder und verließ das Pub.
Nigel lächelte. Liebenswürdig. Genau das richtige Wort.

Sein Vater hätte vermutlich Gentleman gesagt.

Er erhob sich schmunzelnd, griff nach seiner Jacke und
löschte die Lichter. Als er die Straße betrat und abschloss, rieselten
die Schneeflocken auf sein Haare und seine Jacke. Weihnachten in Boston
 
---
 
Am 27. Dezember brachte er Max den
Schlüssel zurück.
Max bemerkte den Wandel in Nigel. Er sagte nichts, lächelte Jordans
Kollegen aber freundlich zu. Der Junge mochte verrückt sein, aber er
hatte das Herz am rechten Fleck.

Nigel war schon auf dem Weg zur Tür als ihm etwas einfiel.

„Sag mal, Max, kennst Du einen Jeffrey hier aus der Gegend?“

„Jeffrey? Nein.“ Er lachte
„Es sei denn, Du bist dem alten Jeffrey Huntington begegnet.“

Nigel zog fragend die Augenbraue hoch.

„Jeffrey Huntington. Lebte Anfang des Jahrhunderts hier in der Gegend.“

Max nahm ein vergilbtes Schwarzweißbild von der Wand und
betrachtete es lächelnd.
„War der gute Engel hier, sagt man sich. Hat nie geheiratet. Am
Weihnachtsabend ging er durch die Gegend und suchte nach Leuten, die
Weihnachten allein waren, um sich um sie zu kümmern. Ist vor gut 40
Jahren gestorben.“

Max legte das Bild vor ihn hin.
Nigel beugte sich darüber, um den Mann darauf näher zu betrachten.
Er schluckte. Die Züge des Mannes, den er dort sah, gehörten eindeutig Jeffrey.
 
One more for the road
Harold Arlen and Johnny
Mercer
 

It's
quarter to three, there's no one in the place
Except you and me
So set 'em up Joe, I got a little story
I think you should know
We're drinking my friend, to the end
Of a brief episode
Make it one for my baby
And one more for the road
I got the routine, put another nickel
In the machine
Feelin' so bad, won't you make the music
Easy and sad
I could tell you a lot, but it's not
In a gentleman's code
Just make it one for my baby
And one more for the road
You'd never know it, but buddy I'm a kind of poet
And I've got a lot of things I'd like to say
And when I'm gloomy, won't you listen to me
Till it's talked away
Well that's how it goes, and Joe I know your gettin'
Anxious to close
And thanks for the cheer
I hope you didn't mind
My bending your ear
But this torch that I found, it's gotta be drowned
Or it's soon might explode
Make it one for my baby
And one more for the road

The long
It's so long
The long
And winding road

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Sabine Schmitt).
Der Beitrag wurde von Sabine Schmitt auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.12.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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